Das weissrussische Reich von Alexander Lukaschenko ist Peter Spuhler beinahe schon vertraut. Der Patron von Stadler Rail weilte letztes Jahr gleich mehrmals im Land von Europas letztem Diktator. Spuhler gehörte gar zu den geladenen Gästen, als Staatschef Alexander Lukaschenko die S-Bahn von Minsk einweihte. «Ich war überrascht, dass Lukaschenko ohne Bodyguards gekommen ist», erzählt der Unternehmer in seinem Büro auf dem Stadler-Werksgelände im thurgauischen Bussnang. Der Machthaber habe an der Feier auch Fragen von Journalisten beantwortet, «die haben ihn regelrecht gegrillt», erinnert sich Spuhler. Selbst kritische Fragen habe Lukaschenko zugelassen und beantwortet.
Spuhlers wohlwollende Schilderung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit kommt nicht von ungefähr. Im März 2010 ergatterte Stadler Rail den Auftrag, zehn «Flirts» an die weissrussische Staatsbahn zu liefern. Sechs Züge sind bereits dort unterwegs. Vor Spuhlers Bürofenster steht ein weiterer bereit. Demnächst wird er auf Spezialtransporter geladen und auf der Strasse nach Minsk spediert. «Eine im Vergleich zu Moskau geordnete und saubere Stadt», sagt Spuhler. Ganz anders, als man es sich in der Schweiz vorstelle. Mitte 2012 geht der vorerst letzte Zug nach Minsk.
Doch Spuhler will mehr, viel mehr. Die Weissrussen könnten bis zu 80 zusätzliche «Flirts» bei ihm bestellen. Die Folgeaufträge aber bekommt er nur, wenn er sich auf ein Gemeinschaftsunternehmen mit einer weissrussischen Staatsfirma einlässt. Sie soll die Endmontage in Minsk besorgen. Mit dem Joint Venture begibt sich Spuhler vollends in den Dunstkreis Lukaschenkos.
Spuhler und die schwarze Liste
Der Diktator regiert Weissrussland seit 18 Jahren mit eiserner Faust. Er steckt politische Gegner reihenweise ins Gefängnis, kontrolliert Presse und Fernsehen, lässt Demonstranten brutal niederknüppeln, manipuliert Urnengänge nach Belieben, tritt Menschenrechte mit Füssen und sorgt dafür, dass auf allen wichtigen Posten von Staat und Wirtschaft willfährige Lakaien sitzen. Demokratische Mitbestimmung nach westeuropäischem Muster hält der Diktator für «bekloppt». Bereits seit 2006 dürfen weder Lukaschenko noch Personen aus seinem Umfeld in die Schweiz, in die EU oder in die USA einreisen. Ihre Konten im Westen sind blockiert, finanzielle Transaktionen mit ihnen stehen unter Strafe. Die schwarze Liste umfasst aktuell gegen 200 Einträge.
All das schreckt Spuhler nicht. «Es ist nicht an uns als mittelständisches Industrieunternehmen, weltweit die moralische Instanz zu spielen. Dafür haben wir den Bundesrat, die EU und die Uno», verteidigt Spuhler seine Geschäfte. Risiken für den guten Ruf seines Unternehmens sieht er nicht. «Die Schweiz unterhält diplomatische Beziehungen zu Weissrussland, wir verstossen weder gegen Embargos noch Sanktionen. Und wir arbeiten nicht mit Personen auf der schwarzen Liste.»
Formal stimmt das. Allerdings hatte Spuhler auch mit Lukaschenkos Vize-Premier Vladimir Semashko zu tun. Er beaufsichtigt die schweizerisch-weissrussische Zusammenarbeit für die Regierung. Semashko figuriert laut den EU-Behörden nur deshalb nicht auf der schwarzen Liste, weil Brüssel wenigstens mit einer Person aus Lukaschenkos Umfeld Kontakt halten will.
Spuhler hält es für «verlogen», seine Geschäfte mit Weissrussland zu kritisieren, aber über die viel intensiveren geschäftlichen Beziehungen von Schweizer Unternehmen mit China zu schweigen. Schliesslich sei das Land punkto Menschenrechte oder Demokratie nicht besser als Weissrussland. Und die USA hätten Guantánamo sowie die Todesstrafe. «Dürfen Schweizer Firmen deswegen nichts mehr nach Amerika verkaufen?», fragt Spuhler rhetorisch. Er glaubt daran, dass der Austausch mit Ländern wie Weissrussland zur Demokratisierung beitragen kann. «Schliesslich erleichtern unsere Produkte dem Volk den Alltag.» Spuhlers Argumente klingen wie eine Entschuldigung.
Als Unternehmer gehe es ihm bei seinen Auslandsengagements in erster Linie darum, Arbeitsplätze in der Schweiz zu erhalten. «Stadler Rail hat 4500 Mitarbeiter, zwei Drittel davon in der Schweiz. Und zwei Drittel unserer Produktion exportieren wir. Bei dem starken Franken ist das eine Herausforderung.» Die drei Schweizer Werke seien zwar fast bis Ende 2013 ausgelastet, man brauche aber neue Aufträge. Deshalb habe er zusammen mit dem Verwaltungsrat Wachstumsmärkte definiert: Die USA, Indien sowie die Zollunion Weissrussland, Russland und Kasachstan. Dadurch hofft er, den bisherigen Fokus von Stadler Rail auf die westeuropäischen Märkte zu reduzieren und eine bessere Balance zwischen verschiedenen Währungen zu erreichen.
«Unterschrieben ist noch nichts», betont Spuhler. Entscheide würden bis im Juni fallen. Neben dem Joint Venture sei auch eine Lizenzproduktion denkbar. Aber das Gemeinschaftsunternehmen mit Belkommunmash ist bereits aufgegleist. In der wirtschaftlichen Sonderzone von Minsk ist es unter dem Namen OSC Electric Transport eingetragen. Das Grundstück für den Bau einer Montagehalle ist vorhanden. Spuhler sagt, OSC Electric Transport sei noch nicht aktiv. Wie viel Geld Stadler Rail in Weissrussland investiert, beziffert er nicht genau. Im Fall eines Joint Ventures seien es zu Beginn «um die 10 Millionen Franken». In der Sonderzone ist Stadler eines von wenigen westlichen Unternehmen. Firmen aus Russland, China und Kasachstan dominieren das Bild.
Stadlers Partner Belkommunmash beschäftigt gut 1500 Personen und gilt als «Vorzeigebetrieb», wie Leonid Zaiko sagt. Für den Direktor des unabhängigen Zentrums für Wirtschaftsanalyse Strategija ist Belkommunmash «ein seltenes Beispiel für erfolgreiches Management». 1974 als Reparaturbetrieb gegründet, produziert die Firma heute Trams und Trolleybusse, die sie auch exportiert. Die elektrischen Fahrzeuge fahren in rund 40 Städten, etwa in Belgrad, Astana, Moskau oder Ulan Bator. Belkommunmash gehört nicht direkt dem Staat, sondern der Stadt Minsk, was in der weissrussischen Planwirtschaft aber fast identisch ist. Chef Vladimir Korol unterhält jedenfalls beste Beziehungen zum Umfeld Lukaschenkos – etwa zu Staatsbahn-Chef Anatoly Sivak oder zum Ex-Premierminister Sergei Sidorsky. Zaiko ist überzeugt, dass Belkommunmash aufgrund seiner Bedeutung für den Export «staatliche Protektion» geniesse. Korol wollte zu den Fragen der «Handelszeitung» nicht Stellung nehmen.
Mit Weissrussland hat Spuhler ein Einfallstor in den Osten gefunden. Seit er nach Minsk liefert, hat er einen Auftrag aus Russland in Höhe von 240 Millionen Franken erhalten. Zudem rühmt sich Partner Belkommunmash bester Beziehungen nach Kasachstan. Experte Zaiko traut dem Duo zu, im S-Bahn-Markt zwischen Minsk, Moskau und Astana «zum Monopolisten» aufzusteigen.
Kasachstan ist von der Schweizer Bahnindustrie längst als interessanter Markt entdeckt worden. «Das Land ist riesig und hat beim öffentlichen Verkehr grossen Nachholbedarf. Zudem ist dank den Erträgen aus dem Verkauf von Rohstoffen viel Geld vorhanden», sagt Michaela Stöckli, Geschäftsführerin des Branchenverbandes Swissrail. Noch im laufenden Jahr wird eine Swissrail-Delegation nach Kasachstan reisen, um Geschäfte anzubahnen. Stadler Rail ist mit von der Partie. Da Kasachstan nicht Mitglied der WTO ist, müssen Aufträge nicht nach internationalen Regeln ausgeschrieben werden. «Die Eintrittshürden sind tief», sagt Stöckli. Für Stadler Rail dank Belkommunmash wohl noch etwas tiefer.
Während Kasachstan dank seiner Rohstoffe boomt, liegt Weissrussland wirtschaftlich am Boden. Als eines der ärmsten Länder Europas ist es faktisch pleite. Der Internationale Währungsfonds hat letztes Jahr sämtliche Kredite eingefroren und macht allfällige weitere Zahlungen von fundamentalen Reformen im Land abhängig. Die Inflation liegt offiziell bei 110 Prozent, Panikkäufe von Nahrungsmitteln gehören zum Alltag. Weissrussische Unternehmen haben aktuell Schulden in Höhe von umgerechnet 15 Milliarden Franken. Die Chancen, dass die Ausstände jemals beglichen werden, sind minimal. Zumal der bankrotte Staat rund 70 Prozent der Wirtschaft direkt kontrolliert. In der Allmacht des Staates sieht Wirtschaftsexperte Zaiko das grosse Risiko für Spuhlers Projekt. «Eine präsidentennahe Gruppierung könnte die Kontrolle übernehmen.»
Weder das noch die miesen wirtschaftlichen Aussichten machen Spuhler Bauchweh. «Die Lieferung der ersten zehn ‹Flirts› ist voll bezahlt», betont er. Zudem seien Staatspleiten mittlerweile auch in Westeuropa wahrscheinlich. Für alle Fälle habe er zur Absicherung eine hohe Prämie an die Schweizer Exportrisikoversicherung bezahlt. Das sei keine Subvention, betont er. Die Versicherung trage sich aus den Prämien der Industrie selbst.
Elch-Test
Dass Geschäfte in Weissrussland mitunter gefährlich sein können, hat einer von Spuhlers «Flirts» bereits erfahren müssen. Kurz vor dem Bahnhof Tolochin, einer Provinzstadt im Osten des Landes, stellte sich dem Schweizer Zug vorletzte Woche ein weissrussischer Elch entgegen. Die fatale Kollision fand um 17.10 Uhr statt. Der Elch hatte gegen die 132 Tonnen des «Flirts» keine Chance. Der Kadaver des Elchs wurde zwecks Entsorgung der staatlichen Gesellschaft für Jäger und Fischer übergeben. Am Zug selbst entstand nur leichter Sachschaden. Mit sechs Minuten Verspätung konnte er weiterfahren.
Verkaufsschlager «Flirt»: Stadler Rails Exporterfolge
Weissrussland
Der bislang erhaltene Auftrag aus Minsk ist für Stadler Rail nicht riesig. Erteilt im März 2010, hatte er ein Volumen von 60 Millionen Euro. Das waren damals gegen 90 Millionen Franken. Wichtig ist der Deal mit der weissrussischen Staatsbahn vor allem deshalb, weil Stadler Rail erstmals ein Produkt in ein Land der Ex-Sowjetunion liefern konnte. Weiteres Wachstum rechnet sich Inhaber und Patron Peter Spuhler dadurch auch in Russland und Kasachstan aus. Aber auch in Weissrussland selbst lockt die Lieferung von bis zu 80 weiteren «Flirts».
Top-Modell
Der «Flirt» ist das mit Abstand erfolgreichste Modell von Stadler Rail. Der Name «Flirt» steht ausgeschrieben für «flinker leichter innovativer Regional-Triebzug». Fast 720 Züge wurden bislang in 13 verschiedene Länder verkauft. 2010 erwirtschaftete Stadler Rail knapp die Hälfte des Umsatzes von gut 1 Milliarde Franken mit dem «Flirt». Im selben Jahr gingen bei Stadler Aufträge in Höhe von fast 2,9 Milliarden Franken ein, sodass sich der Umsatz im laufenden Jahr auf rund 2,3 Milliarden erhöhen dürfte. Stadler beschäftigt rund 4500 Mitarbeiter in acht Ländern. Wichtigster Produktionsstandort und Hauptsitz ist Bussnang im Kanton Thurgau.
USA
Seit April ist Stadler neben der Schweiz, Deutschland, Polen, Ungarn, Tschechien, Italien und Algerien auch in den USA präsent. Die dortige Tochterfirma soll zu einem Standort der Produktion ausgebaut werden.