Der ganz alltägliche Offshore-Deal ist nur drei Mausklicks entfernt. Ein Blick in die Online-Regale des Internetkaufhauses iTunes, ein Klick auf das abgebildete Plattencover von Bruce Springsteen, ein Bestätigungsklick auf den Kaufen-Button, und schon kann «Born in the USA» abgespielt werden. Den Verkäufer des Songs vermutet man im kalifornischen Cupertino, dort, wo der iTunes-Mutterkonzern Apple sein Headquarter hat.
Die Rechnung über die 2.20 Franken für den Song erscheint auf der Liste der Kreditkartentransaktionen, allerdings nicht aus Cupertino. Vermerkt ist nur: «Apple iTunes Store CHF, Luxembourg».
In Luxemburg spielt die Musik, nicht in Cupertino. Die Firma iTunes S.à r.l. hat im Grossherzogtum ein paar Dutzend Mitarbeiter und fakturiert für das Apple-Portal die Online-Verkäufe. Einnahmen aus diesem Milliardengeschäft werden daher im Grossherzogtum moderat mit maximal drei Prozent versteuert.
In Cupertino, der 50 000-Einwohner-Gemeinde im Silicon Valley, sind zwar die meisten der 47 000 US-Mitarbeiter von Apple beschäftigt. Aber fürs Steuernzahlen bevorzugen die Apple-Manager andere Orte. Zum Beispiel eine Adresse im 200 Meilen entfernten Reno im Bundesstaat Nevada. Dort werden grosse Volumen der Finanzgeschäfte gemanagt – in der Firma Braeburn Capital, nach einer Apfelsorte benannt. Denn Kalifornien verlangt 8,84 Prozent Unternehmenssteuern. Der Steuersatz in Nevada hingegen: null. Apple hat trotz brummenden Geschäften die Steuern in den USA auf 9,8 Prozent gedrückt.
Steuervermeidungspraktiken, wie sie Apple praktiziert, zählten jahrelang zur üblichen Praxis der unternehmerischen Finanzierungskunst – bei vielen Weltkonzernen. Fünf bis sieben Billionen Dollar sollen in Steueroasen geparkt sein, schätzten Experten kürzlich an einem Hearing des US-Senats.
Erstarkende Opposition. Doch die Steuertricks stossen angesichts der staatlichen Schuldenkrisen auf immer mehr Widerstand, weltweit. Massenmedien diesseits und jenseits des Atlantiks haben ein neues Thema, Prominente wettern gegen die Steuersparfüchse, Bürgergruppen und Kampagnenführer im Einsatz für Steuergerechtigkeit werden von Parlamenten zum Hearing empfangen – noch nie war die Opposition gegen die Steueroasen so stark wie heute. Selbst in Grossbritannien, der einst beherzt agierenden Schutzmacht von Steueroasen wie Jersey, der Isle of Man oder den karibischen Offshore-Finanzplätzen, baut sich Widerstand in den Machtzirkeln auf.
Die Schweiz dient dabei längst nicht mehr alleine als Zielscheibe. Der Protest ist ein weltweites Phänomen. In Australien wehrt man sich dagegen, dass Google dort die Online-Inserate-Einnahmen über eine irische Tochterfirma abwickelt. In Indien attackiert das Finanzministerium den britischen Telekomgiganten Vodafone wegen seiner «ignoranten» Haltung in Steuerfragen. In Russland trocknet man den beliebten Kapitalfluchtkanal nach Zypern mit einem Steuerabkommen aus. In Irland entdecken die Medien, wie die Steuerexperten der Prüfkonzerne bei der Gesetzgebung mitmischten. In England fordert das Tax Justice Network, dass die multinationalen Konzerne in ihren Bilanzen künftig ihre Steuerzahlen für jedes Land, in dem sie tätig sind, separat ausweisen müssen. Vor allem in den USA werden weit reichende Reformen diskutiert, um die Konzerne wieder zur Kasse zu bringen (siehe Nebenartikel «Oasen schliessen»).
Zugriff der Justiz. In Kanada hat der Supreme Court im April einen bahnbrechenden Entscheid gefällt, der auch in anderen Ländern Schule machen könnte: Das oberste Gericht hatte über ein Steuersparmodell einer Familie zu entscheiden, die in Kanada residierte und zwei Trusts führte, die ihr Domizil auf Barbados hatten. Die Familie stritt mit den kanadischen Finanzämtern um eine Forderung über 152 Millionen Dollar Abgaben. Die Richter entschieden, dass die Trusts – trotz vermeintlich klaren Regeln in den Steuerabkommen zwischen Kanada und Barbados – faktisch ihr Domizil nicht auf der Karibikinsel haben, sondern in Kanada. Sie orientierten sich an Regeln, wie sie für reguläre Unternehmen gelten: Das Domizil ist dort begründet, wo das zentrale Management residiert und die Kontrolle angesiedelt ist (Fundy Settlement vs. Canada, 2012 SCC 14). Damit hat erstmalig ein Gericht aus der angloamerikanischen Welt der Trusts die faktischen Scheindomizile für rechtlich unwirksam erklärt. Die Offshore-Konstrukte werden somit steuerrechtlich ignoriert.
Die «New York Times» hat das Thema auch für sich entdeckt. Sie hat einige kreative Steuertricks des Apple-Konzerns in einer grossen Story in der Weekend-Ausgabe publiziert: «Double Irish with a Dutch Sandwich» (siehe Grafik unter 'Downloads'). Die Geschichte ging sogleich um die Welt. Ähnliche Enthüllungen erschienen zuvor über den Internet-Handelskonzern Amazon und über Google. Und die britischen Medien reiten bereits seit zwei Jahren auf der neuen Welle.
Apple verweigerte Angaben über die Steuerzahlungen an den Auslandstandorten und verteidigte sich nicht sehr geschickt. Der Konzern generiere mit seinem US-Geschäft fünf Milliarden Dollar Steuern, erklärten Mediensprecher, freilich ohne genaue Erläuterungen, wie diese denn zusammenkämen. Offensichtlich zählten sie die privaten Steuerzahlungen ihrer Mitarbeiter hinzu.
Gewaltige Einsparungen. «Diese Strategie der Steuervermeidung betrifft nicht nur US-Steuern», kommentiert der Steuerrechtler Edward Kleinbard von der University of Southern California den Apple-Fall, «es geht auch um deutsche, französische und britische Steuern. Sie machen das überall.» Wäre Apple für die Offshore-Profite regulär besteuert worden, wären im vergangenen Jahrzehnt zusätzlich 17 Milliarden Dollar in die US-Staatskassen geflossen, schätzt Robert McIntyre, der Direktor einer amerikanischen Kampagne für Steuergerechtigkeit.
Nicht nur Apple, auch andere machen es so – legal und in der jeweiligen Jurisdiktion nach den lokalen Regeln korrekt. Der gewöhnliche Unternehmenssteuersatz von 35 Prozent wird in den USA regelmässig unterboten. Eine neue Studie ergab, dass die grössten Konzerne des Landes, die «Fortune 500»-Unternehmen, im Schnitt nur 18,5 Prozent zahlen. General Electric hat im vergangenen Jahrzehnt mehr als 81 Milliarden Dollar eingenommen, in dieser Zeit den Steuersatz aber auf durchschnittlich 2,3 Prozent gedrückt. Der Telekomkonzern Verizon hat während der vergangenen drei Jahre gar keine Steuern gezahlt und ist gleichzeitig der drittgrösste Profiteur von Steuergutschriften in den USA. Innert zweier Jahre kassierte das Unternehmen zwölf Milliarden Dollar derartige Subventionen. So sah das US-Steueramt Internal Revenue Service (IRS) auch keinen Cent vom Flugzeuggiganten Boeing oder vom Ölkonzern ExxonMobil. Das weltgrösste Kreuzfahrtunternehmen, Carnival Cruises mit Headquarter in Miami und Steuerdomizil in Panama, drückte den Steuersatz auf 1,12, Internetgigant Google auf 2,4 Prozent, und Rupert Murdochs Medienkonzern News Corp. erreichte in den Jahren 2007 bis 2010 dank Gutschriften einen Steuersatz von minus 46 Prozent.
Auf Kritik stösst Apple nicht nur in Kalifornien, sondern auch in Nevada, wo 300 000 Unternehmen ein steuerfreies Domizil haben. Apple sei eine «traurige Metapher für den Bundesstaat» geworden, klagt der Stadtplanungsprofessor Robert Lang. Er kritisiert die Hoffnungen der Bürger, dass ihre steuerfreien Domizilangebote auch Arbeitsplätze nachziehen würden, als Wunschdenken: «Warum eine Kuh kaufen, wenn die Milch umsonst ist?» Wieso sollten die Unternehmen mit ihren Mitarbeitern nach Nevada zügeln, wenn es ausreicht, dort ein Micky-Maus-Büro zu unterhalten? Was Nevada bleibt, sind am Ende nur lausige Gebühreneinnahmen für die Firmenregistrierung und die Steuern, die eine Handvoll Buchhalter dort zahlen.
Wie Apple versendet Amazon, der weltgrösste Internet-Handelskonzern, Waren via Luxemburg. Wenn Schweizer Kunden dort zum Beispiel Computerteile bestellen, dann erhalten sie eine Rechnung von der Amazon EU S.à r.l. im Grossherzogtum. Oder eine Kreditkarten-Abrechnung mit der dürren Notiz «Amazon Mktplce EU, LUX». Die Mehrwertsteuer wird erst vom Schweizer Zoll erhoben. Und auf den Verkauf von E-Books, einem rasant wachsenden Markt, zahlt Amazon nur drei Prozent luxemburgische Steuern.
Amazon-Gründer, CEO und Grossaktionär Jeff Bezos gilt als Steuerfuchs. Das Headquarter hat er in Seattle eingerichtet, weltweit macht er 48 Milliarden Dollar Umsatz mit 33 700 Mitarbeitern. Für das Auslandgeschäft hat er die Holding an der Centerville Road, in der Suite 400 in einem Servicecenter, eingerichtet, an gleicher Adresse wie der Computer-Gigant Cisco und die US-Firmen der UBS. Seine Manager haben den Heimmarkt USA auf einer grossen Landkarte mit rot, gelb und grün gefärbten Bundesstaaten visualisiert. Wenn sie in einen «roten» Bundesstaat reisen wollen, müssen sie eine Erlaubnis beim Vorgesetzten einholen. Ihre Aktivitäten könnten schliesslich steuerlich relevant sein. Derzeit streitet Bezos mit den Steuerbehörden über eine Milliardenforderung. Nun ist Amazon im Internet zum eher unpopulären Thema geworden.
Der Protest fokussiert vor allem auf moderne Internet- und IT-Unternehmen. Oder auf Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzerne, die ihre Gewinne mit Geschäften in unterentwickelten Ländern generieren, dort aber wenig zurückgeben.
Schweizer unter der Lupe. Die Schweizer Konzerne kommen in dieser Diskussion vergleichsweise glimpflich davon. Noch. So hat der Nahrungsmittel-Multi Nestlé im Geschäftsjahr 2010 einen Vorsteuergewinn von 37,8 Milliarden Franken erzielt, weltweit aber nur 389 Millionen an Steuern gezahlt. Grund dafür war ein steuerbefreiter Gewinn aus dem Verkauf der Pharmatochter Alcon an Novartis. Nestlé zahlte somit umgerechnet pro Kopf ihrer Mitarbeitenden rund 1380 Franken Steuern und setzt für ihre Auslandaktivitäten elf Tochtergesellschaften im US-Bundesstaat Delaware ein und seit Mai 2009 für das florierende Geschäft mit Kaffeekapseln die Nespresso Luxembourg SA. Da können die Nestlé-Manager die Proteste des dänischen Finanzministers Thor Möger Pedersen noch als Randerscheinung betrachten, der sich vor wenigen Monaten darüber beklagte, dass der Multi in Dänemark wegen einer Gesetzeslücke keine Unternehmenssteuern abführe. Der Nestlé-Mann in Kopenhagen verwies etwas beschämt darauf, dass seine 230 Mitarbeiter in Dänemark ja immerhin Einkommenssteuern zahlten.
Im Fokus stehen auch die Ölgiganten Weatherford und Transocean, die ihren Hauptsitz in Texas haben, aber kürzlich mit Mini-Büros ihr Steuerdomizil nach Zug verlegten (siehe «Schweizer Steueroptimierungskunst» auf Seite 60). Weatherford musste nun ihre Aktionäre warnen, dass die US-Steuerbehörde IRS Ermittlungen gegen den Konzern aufgenommen habe. Und der Buchhalter, den der britische Telekomriese Vodafone in einer Tochtergesellschaft in Bern beschäftigt, bekam im März Besuch von einem britischen Undercover-TV-Team. Er beschäftige sich weniger als fünf Prozent seiner Zeit mit der Firma, erklärte der Mann. Seine Orders beziehe er aus Luxemburg. 2,5 Milliarden Gewinn machen die Vodafone-Töchter in Luxemburg und Bern. Ihr Steuersatz liegt unter einem Prozent.
Heftiger ist der Widerstand gegen den Zuger Rohstoffgiganten Glencore. Als die Ölhändler vor gut einem Jahr ihren Börsengang verkündeten, nahm die Schweizer Öffentlichkeit die wichtigste Begleiterscheinung dieses Schrittes noch unbekümmert wahr: Glencore hat im April 2011 ihr Domizil von Baar ZG nach St. Helier auf der Kanalinsel Jersey verlegt. In der Schweiz ist nur noch die Verwaltung. Jahrelang nutzten die Händler trickreich die Vorzüge von Offshore-Standorten in Luxemburg, auf den Bermudas oder den Britischen Jungferninseln. Doch Ende April musste Tim Scott, der Tax-Chef von Glencore, in einem britischen Parlamentsausschuss unangenehme Fragen beantworten. Man sei froh, mit Partnern in Nichtregierungsorganisationen über die Steuerprobleme diskutieren zu dürfen, biederte sich der Glencore-Mann an. Der Vorwurf: Glencore beute Rohstoffe in unterentwickelten Ländern aus, ohne dort angemessen Steuern zu zahlen. Die Pläne der Europäischen Union, die Rohstoffkonzerne zu verpflichten, für jedes Operationsland die Steuern separat auszuweisen, hielt er denn aber doch für «nicht nützlich».
Gewinner und Verlierer. Am Glencore-Sitz auf Jersey konnten bis anhin ausländische Unternehmen steuerfrei operieren, während inländische Gesellschaften zehn Prozent Steuern zahlen müssen. Die Steuerpraxis auf der Insel, «Zero-Ten Tax» genannt, steht unter Druck der EU, nachdem sie vor neun Jahren noch bewilligt worden war. Die Inselregierung muss das Steuerregime überarbeiten, aber sie kämpft. Im Februar verkündete sie, nur einzelne Elemente des Steuersystems zu ändern. Der Tarif für die Auslandgesellschaften soll bleiben. Doch der Druck ist weiterhin da. Die Insel hat zahlreiche Steuerabkommen ratifiziert und musste erleben, dass zwischen Januar 2008 und Juli 2011 die ausländischen Einlagen in den Depots am Bankenplatz um 60 Prozent zurückgingen. «Ich hoffe», so lästert ein Leserbriefschreiber über die Steuergerechtigkeits-Kampagnen, «dass die Aktivisten uns Fresspakete schicken, wenn es hier keine Arbeit mehr gibt.»
Die Steuerpraktiken der vergangenen Jahrzehnte haben Gewinner und Verlierer voneinander entfremdet. In Luxemburg entsteht eine neue, internationale Universität. Es soll ein Eliteinstitut werden. 190 Professoren und 670 Experten stehen 5700 Studenten zur Verfügung. Das Grossherzogtum scheut keine Ausgaben für das Prestigeprojekt.
In der Nähe von Cupertino, am Konzernsitz von Apple, steht das De Anza College. Apple-Gründer Steve Wozniak hat hier studiert, fast jeder Apple-Mitarbeiter hat einen Bezug zu dem College. In De Anza wurden seit 2008 mehr als 1000 Kurse gestrichen, das College befindet sich in einem ruinösen Niedergang. College-Präsident Scott Lay hat noch kein Budget, er weiss immer noch nicht, wie viel Geld er dieses Jahr vom Staat bekommen wird. De Anza braucht mehr Geld, wie alle staatlichen Einrichtungen in Kalifornien. Geld, das nur ein paar Meilen entfernt in Cupertino verdient wird.