Baumaschinen, Baracken und Betonsilos belagern das Tal. Abluft aus dem Tunnel qualmt in die Winterkälte und streicht über eine Kieshalde, die sich wie eine Moräne zwischen Strasse und Schienen geschoben hat. Die Szenerie beim «Zwischenangriff Amsteg» so heisst die Neat-Baustelle erweckt den Eindruck, hier würden ganze Berge verschoben.
Deswegen gleich auf eine dynamische Entwicklung zu schliessen, wäre aber falsch: Uri ist in den letzten Jahren wie kein anderer Kanton vom Stellenabbau und der Privatisierung der verschiedenen Bundesbetriebe gebeutelt worden. Mehr als 1500 Arbeitsplätze oder 10% aller Stellen im Kanton gingen verloren. «Ein gigantischer Verlust», erklärt Emil Kälin, Sekretär des kantonalen Volkswirtschaftsdepartements. «Umgerechnet auf Zürich würde das einem Abbau von 40000 Stellen entsprechen.» Die meisten wirtschaftlichen Indikatoren zeigen nach unten. 2003 ging in Uri das Bruttoinlandprodukt um 1% zurück, die Bevölkerungszahl ist länger schon rückläufig.
Noch 550 Stellen statt 1170
Ein Ende der Abwärtsspirale ist nicht in Sicht. Die SBB wollen ihr Depot in Erstfeld schliessen. Es droht die Verlagerung von 250 Arbeitsplätzen nach Goldau. Zwei Drittel der noch 270 Arbeitsplätze bei der Armee stehen nach den Plänen des VBS auf der Kippe, die eben erst bekannt geworden sind. Das Zeughaus in Amsteg wird jedenfalls geschlossen, was bereits mehr als 100 Stellen kostet.
Wie stark der Abbau den Armeestützpunkt Andermatt treffen wird, kann vorerst noch niemand sagen. «Wir rechnen mit dem Schlimmsten», kommentiert ein pensionierter Festungswächter die Nachricht. Protest auf den Strassen des Wintersportorts gegen den Stellenabbau ist jedoch keiner auszumachen. Ein paar Soldaten vertreten sich vor der Kaserne die Beine. Vom nahen Waffenplatz dröhnt der gewohnte Schiesslärm ins Dorf, das mittags immer noch im Schatten und damit wie in einem Kühlschrank liegt.
Ein paar Grad wärmer, aber immer noch kalt ist es unten im Talkessel von Altdorf. Der Industriepark Schächenwald ist das eigentliche Zeichen, dass in Uri nicht einfach nur stillgelegt, sondern auch erfolgreich umstrukturiert wird. Aus der ehemaligen Munitionsfabrik ist so die private Ruag Components mit dem Bund als Hauptaktionär geworden. Firmenchef René Röthlisberger ist stolz auf das «europaweit modernste Entsorgungszentrum» für Elektronikschrott und Kühlgeräte, das die Firma neu auf die Beine gestellt hat. Das bei der Herstellung von Waffen entwickelte Know-how wird heute genutzt, um Metallkomponenten für die Automobil-, Energie-, Halbleiter- und Maschinenindustrie zu fertigen. 95% der Produktion geht so in den zivilen Sektor, und fast zwei Drittel wird exportiert.
Einen Wermutstropfen hat allerdings die «Konversion» der Munitionsfabrik: Statt 1170 Personen wie 1990 arbeiten hier heute nur noch 550. «Hätten wir uns nicht heftig für den Strukturwandel engagiert, wäre alles noch viel schlimmer gekommen; das Areal wäre wohl in einen Naturpark umgewandelt worden», glaubt Röthlisberger.
Der Verlust von Arbeitsplätzen wiegt aber umso schwerer, als Alternativen dünn gesät sind. Auch Kabelhersteller Dätwyler als grösster Arbeitgeber in Uri reduziert sein Personal laufend, in diesem Jahr um 50 Stellen auf 900.
Träges Unternehmerklima
Weil die Ruag Components nur noch einen Teil des einstmals streng bewachten Fabrikareals selber braucht, hat sie es zum modernen Industriepark umfunktioniert. Mehr als 30 kleinere Betriebe mit inzwischen 150 Beschäftigten haben sich in den letzten Jahren hier niedergelassen. Ein erfolgreiches Beispiel ist die ABL GmbH, die Lichtwellenleiter herstellt. CEO Alois Bissig, ein schlanker 45-Jähriger mit Boarder-Touch, hat diesen Herbst den Dätwyler-Preis bekommen, mit dem in Uri neuerdings Jungunternehmer ausgezeichnet werden. Ebenfalls mit dem Rückenwind eines Preises, mit dem im Februar 2004 erhaltenen Swiss Technology Award, versucht im Industriepark die Arsenco AG eine revolutionäre Photonen-Messtechnik auf der Basis von Infrarotsensoren auf den Markt zu bringen.
Während die Arsenco sich mit ihren Hightech-Messgeräten noch in der Startphase befindet, hat sich die ABL schon länger etabliert und schreibt schwarze Zahlen. Bissig könnte sich fast schon selbstzufrieden zurücklehnen. Stattdessen kritisiert er das träge Unternehmerklima und bemängelt: «Verglichen mit Nidwalden, Schwyz oder Zug sind wir als Standort einfach nicht attraktiv.» Die Aussage zielt auf die hohe Steuerbelastung, die der Kanton jedoch in den nächsten Jahren korrigieren möchte. Er hofft dabei auf die restliche Schweiz, die schon jetzt pro Kopf und Jahr 6800 Fr. nach Uri fliessen lässt ein Betrag, der sich mit den neuen Finanzausgleich noch erhöhen wird und für Steuersenkungen genutzt werden soll.
Bunker als Datenfestung
Ob das reicht, um den Standort wieder attraktiver zu machen? Zwei Stunden nur sind es nach Mailand und eine Stunde nach Zürich, hier an der kürzesten Transitachse Deutschland-Italien. Aus dieser Gunstlage müsste sich doch wirtschaftlich etwas machen lassen. Der einzige grössere Betrieb jedoch, der wirklich vom Verkehr lebt, ist die Gotthard Raststätte AG. Mit 200 Beschäftigten verpflegt sie jährlich über 1,5 Mio Reisende.
Auf spezifische Standortfaktoren setzt die Swiss Data Safe. Deren Chef Dolf Wipfli empfängt im Hotel Post in Amsteg, in sicherer Distanz zum Firmengelände. Wo sich dieses genau befindet, will er nicht verraten. Irgendwo im Fels muss es liegen.
Genauer handelt es sich um den ehemaligen Bundesratsbunker, in den sich der Bundesrat im Kriegsfall zurückgezogen hätte. Seit drei Jahren «hostet» der ebenfalls mit dem Dätwyler-Preis ausgezeichnete Jungunternehmer im Schutz des Granits sensible elektronische Daten von Banken, Versicherungen und Konzernen. Auch Hardware wie Akten, Archive, Wertsachen, Kunst- und Kulturgüter werden eingebunkert. Die auf Hochsicherheitslösungen spezialisierte Firma verfügt über einen eigenen Autobahnanschluss. «Verkehrsmässig liegen wir in jeder Beziehung ideal», sagt der Chef und weist darauf hin, dass durchs Reusstal ein Bündel von wichtigen Glasfaserleitungen verläuft. Und: «Bei einem Überfall würde der Kanton Uri abgeriegelt, und es gäbe für die Täter kein Entkommen.»
Neat schenkt kaum ein
Auch Wipfli bedauert wie Kollege Bissig die «unternehmerische Lethargie» in seinem Kanton, umso mehr, als es ihm selber nicht an weiteren Ideen mangelt. So gehört er zu den Initianten der UrsaNet AG, eines Start-up, das im Januar 2005 operativ tätig wird und in einem restaurierten Pfrundhaus im Urserental Telearbeitsplätze schaffen will. «Die Möglichkeiten, die historische und militärische Hinterlassenschaft einer modernen Nutzung zuzuführen, sind in Uri noch längst nicht ausgeschöpft», ist Wipfli überzeugt. Er weist auf das Forschungs- und Kommunikationszentrum La Claustra, das der Künstler Jean Odermatt oben auf dem Gotthard unterirdisch im verzweigten Artilleriewerk San Carlo eingerichtet hat.
Leider hält sich der Beschäftigungseffekt all dieser Projekte in Grenzen. Selbst die florierende Swiss Data Safe hat in Amsteg lediglich acht Personen auf der Lohnliste. Beschäftigungswirksamer ist hingegen die Neat-Baustelle. Doch zwei Drittel der 480 Tunnelarbeiter sind aus Österreich, und die Baufirmen stammen von auswärts. Kaum 10% der beim Bau erzielten Wertschöpfung bleibt im Kanton. «Die Gefahr, dass sich nach dem Tunnelbau sämtliche Firmen schnell wieder aus dem Staub machen, ist gross», befürchtet Paul Jans, Hotelier und Gemeindepräsident in Erstfeld.
Nirgendwo im Kanton manifestiert sich der Transitcharakter von Uri so augenfällig wie in diesem Eisenbahnerdorf, auch wenn die SBB inzwischen nur noch halb so viele Leute beschäftigen wie vor Jahren. Das Dorfbild beherrscht weiterhin der Bahnhof, wo fast im Minutentakt Züge durchbrausen, während auf den Rangiergleisen blaurote Cargo-Lokomotiven manöverieren. Verebbt der Bahnlärm, rauscht es in der Luft weiter: Vom Strassenverkehr, den Stromleitungen und vom Wasser der Reuss. «Uri ist über Jahrzehnte für den Verkehr und die Verteidigung gebraucht worden; jetzt sind die Leute misstrauisch, dass sich Bern einfach davonschleicht», bemerkt Jans.
Nun müssten die Urner ihr Schicksal wohl in die eigenen Hände nehmen, wie sie das früher schon einmal taten. Jans erinnert an die Landsgemeinde von 1865: Damals bewilligten die Urner die für jene Zeit horrende Summe von 1 Mio Fr. für den Bau der Gotthardbahn. Sie bewiesen damit jenen unternehmerischen Mut, der ihnen heute offenbar abhanden gekommen ist.
20000 Arbeitsplätze verloren: Brain Drain und keine Alternativen
Die Entwicklung in Uri ist gewissermassen repräsentativ für den gesamten Alpenraum der Schweiz. Die Berggebiete verloren durch die Umstrukturierungen bei den ehemaligen Bundesbetrieben Post, Bahn, Swisscom und Armee seit 1995 über 20000 Arbeitsplätze. 24 der 35 Regionen mussten seither einen Bevölkerungsverlust hinnehmen, so auch Uri, das einen jährlichen Rückgang von 0,3% verzeichnete. Die Berggebiete sind wegen der ungünstigen Altersstruktur und der auf traditionellen Branchen (Land- und Holzwirtschaft, Bauwirtschaft, Wasser/Energie) gründenden Wirtschaft schlecht auf den notwendigen Strukturwandel vorbereitet. Erschwerend wirkt sich auch der Brain Drain aus. Auf 340 Hochqualifizierte, die zwischen 1995 und 2000 den Kanton Uri verlassen haben, kamen lediglich 100 entsprechende Neuzuzüger.
Wenn die Bundesbetriebe Stellen streichen, fehlen Beschäftigungsalternativen auch deshalb, weil in den traditionellen Branchen wie Land- und Holzwirtschaft ebenfalls ein heftiger Strukturwandel im Gang ist. Vor zehn Jahren gab es noch 38000 Landwirtschaftsbetriebe in der Bergregion, jetzt noch 27000. Wöchentlich gehen sieben Betriebe ein. Dass die Arbeitslosigkeit im Alpenraum trotzdem nur gering ist, lässt sich einfach erklären: Wer hier seine Stelle verliert, zieht in der Regel weg ins Unterland. (ps)