New Case Management» (NCM) heisst das jüngste Kind der Suva. Es ist erst drei Jahre alt, beruht aber auf einer alten Landarzt-Weisheit, die Suva-Geschäftsleitungsmitglied Willi Morger (62) von seinem Vater mitbekommen hatte, der seinerzeit im luzernischen Wiggertal praktizierte: «Der beste Doktor nützt nichts, wenn erstens der Patient nicht will und es zweitens in seinem Umfeld nicht stimmt.»
Bis diese Erkenntnis als SuvaCare in Form und Struktur umgesetzt wurde, dauerte es allerdings seine Zeit. Morger, mit seiner 35-jährigen Laufbahn bei der Suva ein Insider, im Gespräch mit der «HandelsZeitung»: «Wir haben uns lange auf unsere gesetzliche Aufgabe konzentriert und sorgten dafür, dass unsere Verunfallten medizinisch gut und, wenn nötig, von den richtigen Spezialisten behandelt wurden. Ziel war ein möglichst gutes Behandlungsergebnis.»
Unzufriedene Kunden
Selbstkritisch sagt Morger heute: «Wir haben unsere Aufgabe als Unfallversicherer rückblickend betrachtet viel zu eng gesehen.» Warum? Umfragen in den 90er Jahren zeigten, dass viele Versicherte und Arbeitgeber mit der Art und Weise, wie die Suva vor allem Problemfälle abwickelte, unzufrieden waren. Gerade in schwierigen Situationen würde die Suva ihnen zu wenig Antworten geben. Dies gab den Suva-Verantwortlichen zu denken: 80% ihrer Kosten werden nämlich von diesen schweren Fällen (5% aller Suva-Fälle) verursacht.
Kam hinzu, dass sich die Suva mit einer stark steigenden Zahl von Schleudertraumafällen konfrontiert sah, die sie angesichts ihrer Komplexität nicht mehr nach Schema X abwickeln konnte. Vor diesem Hintergrund liess Morger vom Versicherungsexperten Roland Schaer 20 «schlecht verlaufene» Schleudertraumafälle analysieren. Das Ergebnis erinnerte Morger an den Spruch seines Vaters: «In allen Fällen gab es ein Problem entweder im persönlichen oder im beruflichen Umfeld, vielfach auch kombiniert.» So habe Schaer festgestellt, dass eine nicht verarbeitete Scheidung oder die Angst vor einem Karriereknick den Verlauf massiv beieinflussen konnten.
Neues Konzept
Als dann noch Betroffene vor dem Luzerner Hauptsitz lautstark ihre Unzufriedenheit demonstrierten, war für Morger klar, dass die Suva für die Betreuung von Verunfallten ein neues Konzept entwickeln musste. «Art und Weise der Verletzung sowie der Gesundheitszustand eines Verunfallten verlieren bei der Entwicklung eines Schadenfalls an Bedeutung, dafür wird das berufliche, familiäre und soziale Umfeld eines Verunfallten wichtiger, was wir bis anhin sträflich vernachlässigt haben», sagt Morger und beschreibt den Paradigmawechsel der Suva: «Wir blicken über die medizinische Betreuung und die juristische Abwicklung des Falles hinaus und kümmern uns nun auch um das Umfeld des Betroffenen, inklusive der professionellen Stellenvermittlung.»
Das NCM-Konzept startete am 1. Januar 2003. Morger findet es heute noch «sensationell», dass der Verwaltungsrat für die umfassende Betreuung von Verunfallten auf einen Schlag 65 Case Manager bewilligte. Heute sind es deren 100, im Endausbau wird mit 130 Versicherungsexperten «mit hoher Sozialkompetenz» gerechnet, die in allen 19 Suva-Agenturen die Verunfallten individuell betreuen mit dem Ziel, diese in den Arbeitsprozess zurückzuführen.
Es sei eine sehr grosse Herausforderung, «alles, was im Umfeld eines Verunfallten eine Rolle spielt, unter einen Hut zu bringen», sagt Martin Schwarzentruber. Er bearbeitet seit einem Jahr in einem Team von Spezialisten als Case Manager in der Suva-Agentur Luzern derzeit 14 Fälle. Es werden noch weitere dazukommen, denn laut Zielvorgabe sollte ein Case Manager etwa 30 bis 40 Fälle betreuen.
Wie werden die Case Manager akzeptiert? Er erlebe bei den Versicherten alles, sagt Schwarzentruber. Viele seien offen und zugänglich, andere wiederum verschlossen. Ist dies der Fall, wird das NCM-Konzept nicht angewendet. Im familiären Umfeld sei man hingegen sehr froh, «dass jemand da ist, der Zeit hat, sich mit allen Problemen zu befassen». Arbeitgeber schliesslich würden die Zusammenarbeit sehr begrüssen.
Rolle der Arbeitgeber
Je früher die ganzheitliche Betreuung eines Verunfallten einsetzt, desto besser sind die Perspektiven. Suva-Geschäftsleitungsmitglied Morger: «Je länger man wartet, desto mehr verliert man Zeit, die sich nicht mehr aufholen lässt.» Aus diesem Grund ist die Rückkehr an den Arbeitsplatz bereits bei der Betreuung in den Reha-Kliniken der Suva ein Thema. In den Gesprächen nehme der Arbeitgeber eine wichtige Rolle ein. «Wir erzielen die besten Ergebnisse, wenn der Betroffene spürt, dass sich sein Arbeitgeber um ihn kümmert und ihn wieder am Arbeitsplatz zurückhaben möchte.» Im Gespräch mit dem Case Manager zeigten sich Arbeitgeber auch eher bereit, ihre Verantwortung für den verunfallten Mitarbeiter wahrzunehmen.
Die Zahlen sprechen für das NCM-Konzept: 2004 ging die Zahl der Neurenten um 134 oder 4% zurück, 2005 betrug der Rückgang sogar 16,2%. 521 Verunfallte, die sonst in der Invalidität gelandet wären, blieben so im Arbeitsprozess, was einer Kosteneinsparung von rund 190 Mio Fr. in zwei Jahren entspricht. Dazu Willi Morger mit Stolz: «Da sich die Unfallzahlen, die Unfallschwere und die Arbeitsmarktsituation in den letzten zwei bis drei Jahren nicht wesentlich verändert haben, dürften die guten Resultate weit gehend dem New Case Management zu verdanken sein.»
Gerangel mit IV
Dank der Zusammenarbeit mit einem privaten Stellenvermittler konnte die Suva von 20 Betroffenen, denen die IV eine Vollrente zusprechen wollte, 10 beruflich wieder eingliedern. Nicht zuletzt vor solchem Hintergrund bezeichnet Morger im Vorfeld der Nationalratsdebatte über die 5. IV-Revision (siehe Kasten) die Abgrenzung zwischen Unfallversicherung und Invalidenversicherung als Systemfehler, die zu Doppelspurigkeiten führe. Der Suva erscheine es sinnvoll, ihr auch die Durchführung aller beruflichen Massnahmen für Verunfallte anzuvertrauen.
Die IV lehnt den Suva-Vorschlag ab. Die Suva wolle mit Hilfe des Gesetzgebers ihre Geschäftsfelder erweitern und monopolisieren, heisst es. Das bringe sozialpolitsch nichts und verursache nur höhere Kosten, da die Unfallversicherer eigene Abteilungen für die berufliche Wiedereingliederung aufbauen müssten. Dem entgegnet Morger: «Die Betreuung aus einer Hand bringt die besseren Resultate für alle Betroffenen, sowohl in Bezug auf die Qualität als auch die Kosten.»
5. IV-Revision
20 Prozent weniger Neurenten als Ziel@_Kastentext o.Einzug:Einer der Schwerpunkte der gegenwärtigen Frühjahrssession ist die 5. IV-Revision. Sie ist im Nationalrat für den 20., 21. und 22. März traktandiert. Ihr Ziel ist es, die Zahl der Neurenten um 20% (bezogen auf 2003) zu senken. Dafür sollen Früherkennung und Wiedereingliederung verstärkt werden. Um das defizitäre Sozialwerk zu sanieren, sieht die Revision neben Einsparungen eine Erhöhung von 1,4 auf 1,5 Lohnprozente sowie einen Zuschlag von 0,8% auf der Mehrwertsteuer vor. Ob es zu diesen Mehreinnahmen kommt, entscheidet das Parlament erst in einer zweiten Phase. Man müsse erst die finanziellen Auswirkungen der materiellen Revision kennen, bevor man über zusätzliche IV-Gelder rede, lautete das Argument von bürgerlicher Seite. Die SP hingegen betont, beide Teile der Revision gehörten zusammen. Die Linke lehnt die Revision vorläufig ab, weil ihrer Meinung nach zu viel Druck auf die Behinderten und zu wenig auf die Arbeitgeber ausgeübt werde. Gemäss Anträgen der Kommission kann die IV per Saldo rund 300 Mio Fr. sparen.