Als die Fünf-Uhr-Nachrichten angekündigt wurden, drehte Franz Steinegger das Radio auf volle Lautstärke. Es war Mittwoch, der 12. April, und der Präsident der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) steuerte gerade Richtung Zermatt ins Hotel Mirabeau in die Osterskiferien. Der Bundesrat, tönte es aus dem Äther, habe entschieden, der Suva ihr Teilmonopol zu belassen. «Ja», sagt Steinegger später, «da breitete sich schon ein gutes Gefühl in mir aus. Ich wusste, jetzt kann ich mich ein paar Tage zurücklehnen und glücklich die Skiferien geniessen.»

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Tatsächlich ist der Sieg ein totaler und dessen Vater Franz Steinegger. Ausgerechnet er, der zu den wenigen noch bekannten Gesichtern in der freisinnigen Partei zählt, wurde nicht müde, vor freiem Wettbewerb und einer Zerschlagung der Suva in schrillen Tönen zu warnen. Dass sich seine FDP eine liberale Wirtschaftsordnung und die Entschlackung des Staates auf die Fahnen geschrieben hat, beirrte den 63-Jährigen in seinem Fronteinsatz für die Suva nicht.

Noch am Tag vor der entscheidenden Bundesratssitzung nutzte Franz Steinegger seine Beziehungen zur Boulevardzeitung «Blick», um seine Gegner in grossen Lettern zu ermahnen, sie sollten gefälligst ihre Hände von der Suva lassen. «Lieber Einheitskasse statt Privatisierung», polterte er wie ein Planwirtschafter.

Doch was kümmert ihn das? Mit dem bundesrätlichen Entscheid ist nicht nur die Zukunft der staatlichen Unfallversicherungsanstalt gesichert. Beendet wird auch die so genannte Suva-Affäre. Heute lautet das Fazit: Trotz Immobilienbetrügereien im Tessin, trotz ungenügender Kontrolle, trotz Vermischung von privaten und geschäft- lichen Interessen des obersten Kaders wird die Suva nicht angetastet und darf in Zukunft gar ins Finanzgeschäft expandieren. Kritiker wie Justizminister Christoph Blocher von der SVP, die den Markt öffnen und den Staatsbetrieb privatisieren wollten, erlitten Schiffbruch auf der ganzen Linie. «Die Suva ist keine Bank und soll auch keine werden», fühlte sich mit Blick auf die Geschäftsexpansion selbst die «NZZ» bemüssigt zu kritisieren. Obwohl Steinegger auch dort im VR sitzt.

Dabei hätte vieles dafür gesprochen, nicht nur sanft den Markt zu öffnen, sondern die Suva gleich gänzlich abzuschaffen. Nach 88 Jahren hat sich das Konstrukt überlebt. Es braucht heute keine staatliche Suva mehr.

Bei ihrer Gründung war das anders. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als sich viele Arbeitnehmer mit gefährlicher Tätigkeit keine oder nur eine teure Unfallversicherung leisten konnten, überzeugte die Idee einer gesetzlich organisierten Sozialpartnerschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Der Risikoausgleich zwischen Arbeitnehmern, die im Job wenig gefährdet waren, und solchen, deren Unfallrisiko gross war, trug zum sozialen Frieden bei. Weil die Privatwirtschaft die angestrebte Solidarität zwischen Büezern und Bürolisten nicht sicherstellen konnte, brauchte es eine staatliche Institution wie die Suva.

1984 änderte sich die Lage. Damals trat das neue Unfallversicherungsgesetz in Kraft, und seither stellt die Schweiz fest, dass die Unfallversicherung auch ohne Monopolistin funktioniert. Nun mussten alle Angestellten versichert sein, die Industriearbeiter bei der Suva, die Angestellten des Dienstleistungsbereichs irgendwo, meist bei einer Privatanbieterin. Die freie Versicherungswahl bewährte sich, jedenfalls ist von keinem Unternehmen bekannt, das sich lieber bei der Suva statt privat versichern liesse. Umgekehrt fordern die Optikergeschäfte und die kantonalen Verwaltungen, von der Suva-Zwangsunterstellung befreit zu werden.

Warum also schützt der Bundesrat das Suva-Teilmonopol und will nichts von einer Liberalisierung wissen?

Die Unfallversicherung sei derart reglementiert, da könne es lediglich einen Pseudowettbewerb geben, bei dem sich die Versicherer mittels gigantischer Werbeschlachten die guten Risiken gegenseitig abjagen würden, sagt Franz Steinegger. Das aber würde die Kosten für die Volkswirtschaft massiv ausweiten. Ergo, folgert Steinegger, sei eine Einheitskasse dem freien Wettbewerb vorzuziehen.

Eine etwas eigenartige Argumentation. «Klar», sagt Pressesprecher Michael Wiesner vom Versicherungsverband, «wenn es nur noch eine Grossbäckerei gibt, die jeden Tag genau ein halbes Kilo pro Familie vom immer gleichen Brot produziert, dann sind die Produktionskosten tiefer als heute. Nur: Wer will so etwas?» Dass der freie Wettbewerb in regulierten Märkten nicht funktioniere, sei falsch. So zeige die obligatorische Elementarschädenversicherung, dass es keine staatliche Oberversicherungsanstalt brauche.

Wohlweislich führten die Suva-Oberen einen zweiten Punkt gegen das Aufbrechen ihres Monopols ins Feld. Ohne Staatsgarantie würde es 5 Milliarden Franken zusätzliche Rückstellungen brauchen und eine Aufstockung des Eigenkapitals um bis zu 5,5 Milliarden Franken. Die Privatisierungsübung komme den Steuerzahler teuer zu stehen.

Wirklich? Die Summen entpuppen sich als Drohgebärde. Sie stammen aus dem Jahr 2004, aus einem Gutachten von Franz Jaeger, Professor an der Hochschule St. Gallen. Im Gespräch betont Jaeger, dass er von der Suva-Geschäftsleitung nur die Zahlen des operativen Geschäfts erhalten habe. Über die Höhe der Reserven habe er nichts Handfestes erfahren. Es fragt sich: Existiert tatsächlich eine Unterdeckung, oder könnte das Suva-Monopol ohne Steuerfranken abgeschafft werden?

Ein Ex-Kadermann der Unfallversicherungsanstalt behauptet gegenüber der
BILANZ, dass die unterschiedlichsten Summen innerhalb der Suva herumgeisterten. Mal sei von mehreren Milliarden Unterdeckung die Rede, mal ergäben sich kolossale Überdeckungen. «Ob die Suva bei einer Liberalisierung mit Milliarden zu sanieren wäre oder im Gegenteil der Staat sogar Geld erhielte, weiss bei der Suva niemand. Oder niemand will es wissen», sagt der Ex-Manager.

Wie viel die Suva tatsächlich wert ist, wäre einfach zu eruieren. Mittels einer Auktion unter in- und ausländischen Versicherern würde man das attraktivste Angebot auswählen. Je weniger für die Übernahme der zukünftigen Verpflichtungen der Suva an Rückstellungen verlangt wird, desto attraktiver ist ein Angebot zu werten. Ein Beispiel könnte wie folgt aussehen: Die Winterthur-Versicherung verlangt zur Deckung von Rentenansprüchen der Suva-Versicherten drei Milliarden Franken Deckungskapital und erhält damit den Zuschlag. Falls die Suva wenigstens diesen Betrag zurückgestellt hat, kommt der Steuerzahler ungeschoren davon. Dann sind die Altlasten weg, und um die Unfallversicherung kümmern sich in Zukunft ausschliesslich die privaten Anbieter, wo auch ein Teil der Suva-Mitarbeiter Unterschlupf findet. Die Suva hat ihre Schuldigkeit getan und kann abdanken.

Für Peter Schlegel, Chef Unfallversicherung beim Bund und geistiger Vater des jüngsten Bundesratsentscheids, kommt eine ersatzlose Streichung der Suva nicht in Frage. «Dann könnten Sie auch gleich die AHV und die IV abschaffen», sagt er. Dass es in der Altersvorsorge und der Invalidenversicherung im Unterschied zur Unfallversicherung noch keinen spielenden Markt gibt, scheint den Spitzenbeamten nicht zu beeindrucken.

So erstaunt es nicht, dass der Bundesrat, statt ein in die Jahre gekommenes Konstrukt in Würde zu begraben, die Suva in den Status einer unantastbaren Instanz hievt und sie so zu einer heiligen Kuh macht. Die Existenzberechtigung der Suva, die seit Beginn der Liberalisierungsdiskussion im Frühling vor zehn Jahren angezweifelt wird, ist nun höchstinstanzlich abgesegnet. Entsprechend leicht fällt es der Suva-Führung, die Tessiner Immobilienbetrügerein, die letzten Herbst zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit geführt haben, einem früheren Verantwortlichen in die Schuhe zu schieben. Selbst wenn dieser, wie Recherchen nahe legen, bloss die kriminelle Spitze eines Systems war, mittels dessen sich andere Kaderleute jahrelang eine goldene Nase verdient hatten.

Für fragwürdiges Geschäften im grossen Stil steht auch das Zentrum der Schweizer Schuhhändler in Spreitenbach, die so genannte Fashion Order Mall. Ein ehemaliger Schuhhändler, der sich Ende der neunziger Jahre nach 15 Jahren im Handel plötzlich als Architekt versuchte, schloss sich mit dem Bauunternehmer Halter zusammen, um auf einem freistehenden Areal ein Grossobjekt zu erstellen. Das Duo konnte die Suva als Investorin gewinnen. Allerdings schrieb deren Reglement vor, dass die spätere Betreiberin des Zentrums vorab bestimmt sein müsse. So kam die Schuheinkaufstage AG (SET) ins Spiel. Die Selbsthilfeorganisation der Schuhhändler war für ein derartiges Grossprojekt zwar finanziell niemals gerüstet. Doch entscheidend war allein, dass die Suva-Immobilienfachleute den internen Gremien eine Betreiberin für das überdimensionierte Gebäude präsentieren konnten.

Im Frühling 2001 bewilligte die zuständige Suva-Kommission die Investition für das 50-Millionen-Projekt. Von da an war Geld in Hülle und Fülle vorhanden, sodass der Schuhhändler-Architekt und der Baukonzern Halter für den Innenausbau bis zu 40 Prozent mehr bezahlten als für vergleichbare Produkte, wie ein Involvierter berichtet, der aus Angst vor Nachteilen anonym bleiben will. Kontrollen durch die Suva fanden offenbar keine statt. So entstanden beispielsweise 200 abschliessbare Kellerabteile, die derart klein waren, dass sie für die Schuhhändler unbrauchbar waren.

An einer Sitzung im Frühling 2002 äusserten Vertreter der Schuheinkaufstage AG erstmals den Verdacht, dass sich Beteiligte am Bau bereichern könnten. Kurz darauf kam es im Mövenpick-Restaurant in Sihlbrugg zum Eclat. Ein von der Suva beauftragter Anwalt warf den SET-Vertretern Illoyalität vor und forderte sie auf, das Projekt zu verlassen, was diese taten. Von Zerwürfnis will Suva-Sprecher Manfred Brünnler nichts wissen. Nur so viel: «Es stimmt, dass es nicht wie geplant zur Vertragsunterzeichnung kam.»

Weil plötzlich die Betreiberin fehlte, gründeten die Verantwortlichen den Verein Fashion Order Mall, der sich von da an um die Vermietung zu kümmern hatte. Ohne grossen Erfolg. Heute ist das Gebäude trotz Dumpingpreisen ungenügend ausgelastet. Von den sieben Stockwerken stehen deren zwei leer. Die Rentabilität ist unbefriedigend.

Suva-intern ist die Rede von einem Abschreibungsbedarf von rund 25 Millionen Franken. Brünnlers Kommentar: «Kein Kommentar.» Von weiteren Rückstellungen in zweistelliger Millionenhöhe ist unter anderem beim D4-Konferenzzentrum in Luzern und bei einer Grossüberbauung in Altdorf zu hören.

Präsident Franz Steinegger aber sieht keinen weiteren Handlungsbedarf. Die Tessiner Liegenschaften seien zurück in Suva-Besitz, die Abteilung habe einen neuen Chef, die Abläufe seien durchleuchtet und das Geschäft neu aufgebaut. «Die Krise ist ausgestanden.»