Um 16 Uhr bekommt Suresh Kalmadi nun täglich Unterricht im Fach Moral. Dabei trifft er viele alte Bekannte – denn einige seiner engsten Vertrauten sitzen mit im Tihar-Gefängnis in Delhi. Der prominente Insasse war Chef des Organisationskomitees der Commonwealth-Spiele, die vergangenen Herbst in Indiens Hauptstadt ausgetragen wurden. Damit hatte er einen der prestigeträchtigsten Jobs im Land, das sich als zukunftsträchtige Nation präsentieren wollte.
Die Vorbereitung der Spiele der ehemaligen britischen Kolonien war ein Desaster, überschattet von Skandalen, Baumängeln, Betrug und Korruption. Kalmadi und Spitzenmanagern seines Teams soll darum nun der Prozess gemacht werden. Mit in den Strudel gerät Swatch Group. Denn gegen den indischen Organisator wird ermittelt, weil er der Swatch-Tochter Swiss Timing den Vertrag zur gesamten Zeitnahme während der Spiele unrechtmässig habe zukommen lassen.
Swatch zeigt sich betroffen
«Wir sind extrem betroffen über die zunehmend schädigenden und unbegründeten Gerüchte und Vorwürfe, die Swiss Timing betreffen», setzt sich Swatch-Manager Eckhard Frank in einem Brief an die Ermittlungsbehörden der Antikorruptionsbehörde der Polizei in Delhi zur Wehr. «Nie zuvor sind wir irgendeines Fehlverhaltens oder einer Beteiligung an korrupten oder anders gearteten unethischen Praktiken angeklagt gewesen», erklärt er in einem Schreiben, welches der «Handelszeitung» vorliegt. Am 29. April lud Frank die Ermittler aus Delhi zu einem Gespräch in die Schweiz ein. Bis heute aber hat er noch nicht einmal eine Antwort auf seinen Brief erhalten.
So stark das Dementi aus der Schweiz ist, im täglichen Lärm des indischen Subkontinents geht es ungehört unter. Zu laut das Grundrauschen um Korruption und Misswirtschaft. Hinabgezogen wurden in den vergangenen Monaten schon Minister, Generäle, Spitzenmanager, Landesfürsten. Die Skandale scheinen kein Ende zu nehmen. Bislang waren immer indische Konzerne betroffen. Die Swatch-Gruppe mit Swiss Timing ist nun das erste ausländische Unternehmen, das in den Fokus rückt. Denn als Auslöser für die Verhaftung von Kalmadi gab ein Sprecher «Unregelmässigkeiten bei der Vergabe des Vertrages für die Lieferung der Messgeräte für die Zeitnahme an ein Schweizer Unternehmen» an.
Es ist die Spitze des Eisberges: Den Organisatoren wird in der Öffentlichkeit vorgehalten, unter anderem Ausschreibungen für den Bau von Stadien manipuliert, Unregelmässigkeiten bei der Vergabe von Werbeverträgen zugelassen, bestochen und Rechnungen zu eigenen Gunsten aufgeblasen zu haben. Schon letztes Jahr hatten die Ermittler das Haus von Kalmadi durchsucht und zahlreiche Unterlagen sichergestellt. Insgesamt sollen rund 1,8 Milliarden Dollar zweckentfremdet worden sein, berichten Medien.
Deshalb wird gegen Kalmadi wegen «krimineller Verschwörung» und «Betrugs» ermittelt. Der Manager gilt vielen in Indien schon seit den Vorbereitungen der Spiele als schwarzes Schaf. Zunächst waren die Kosten der Commonwealth Games auf 2 Milliarden Dollar veranschlagt worden. Am Ende lag die Rechnung bei 6 Milliarden. Viele der 71 teilnehmenden Länder zeigten sich entsetzt über die nicht enden wollende Reihe von Planungsfehlern und Betrugsfällen bei den Wettkämpfen der Staaten des ehemaligen britischen Kolonialreiches. Eine Brücke stürzte ein, Sportler erkrankten, die Athletenwohnungen standen unter Wasser und waren verdreckt. Mehrere Delegationen drohten damit, nicht anzutreten. Rückblickend wagt Auftragnehmer Swiss Timing heute ein hartes Fazit: «Die Spiele litten unter dem chronischen Problem totaler Desorganisation.» Damit spielen die Schweizer in seltener Offenheit den Ball zurück nach Indien: «Die Fachleute von Swiss Timing mussten unter desaströsen, chaotischen Bedingungen arbeiten.»
Diese führen die Schweizer auch als einen Grund für ihre gesalzene Rechnung an. Sie fiel mehr als doppelt so hoch aus wie diejenige für die Zeitnahme bei den Commonwealth Games im australischen Melbourne vier Jahre zuvor: Verlangten die Schweizer in Australien 10,2 Millionen Franken für ihre Dienste, waren es in Indien 24,9 Millionen. Augenscheinlich mussten sie in Indien nicht nur unter ganz anderen Bedingungen arbeiten, sondern auch wesentlich mehr Material und mehr Personal in einer stark verkürzten Vorbereitungsphase einsetzen.
Es ist aber nicht auszuschliessen, dass es eben dieser Anstieg war und ist, den die indische Öffentlichkeit als Indiz für einen betrügerischen Vertrag nimmt. Zumal erkennbar einiges falsch läuft in der Wahrnehmung der aufgebrachten Inder: Die Medien werfen der Swatch-Marke Omega Fehlverhalten vor. In Wirklichkeit aber war Swiss Timing für das Messgeschäft zuständig, die Swatch-Marke Tissot trat bei den Spielen mit mehreren Millionen Dollar als Sponsor auf.
Falsch ist nach Angaben von Swatch auch die indische Behauptung, Mitarbeiter der Schweizer seien verhört worden: «Niemand von Swiss Timing oder Tissot, noch Vertreter der Swatch-Gruppe sind in Indien noch sonst wo auf der Welt vorgeladen oder verhört worden», sagt eine Sprecherin des Uhrenkonzerns. Und kommt zu dem Schluss: «Indien ist eine riesige Gerüchteküche.»
Kickbacks über eigene Firmen
Auch Kalmadi weist jeden Vorwurf zurück. Der Wind aber weht ihm ins Gesicht: Wenige Stunden nach seiner Festnahme schloss ihn die Regierungspartei aus. Seinen Posten an der Spitze der Veranstalter hatte er schon im Januar räumen müssen. Inzwischen heisst es aus Kreisen der Ermittler, Kalmadi habe mit seinen Kumpanen wohl auch eigene Gesellschaften gegründet, um Kickback-Zahlungen entgegenzunehmen. Dabei geht es um Gelder, die als Anerkennung für die Vergabe von Verträgen gezahlt werden. Auch seien hohe Regierungsbeamte und Ausländer in die Vergabe dieser Verträge eingebunden gewesen. Bewiesen ist all dies nicht.
Die Vorwürfe aber treffen Kalmadi in einem Umfeld, das feindlicher kaum sein könnte: Angesichts der Bestechungsskandale auf allen Ebenen und in letztlich viel gravierenderen Fällen als bei den Commonwealth-Spielen kämpft die Regierung um ihr Überleben und ist erstmals willens, auch eigene Leute fallen zu lassen. Wie ernst die Lage ist, belegt der Umgang mit dem hoch geachteten Regierungschef Manmohan Singh. Er sah sich gezwungen, den Gang nach Canossa anzutreten. Im Fernsehen musste der weltweit anerkannte Politiker beteuern, entschlossen und gnadenlos gegen korrupte Amtsträger vorzugehen. «Es herrscht der Eindruck vor, dass Indien ein Land der Betrüger sei, dass es kaum noch etwas Gutes in Indien gibt. Eine solche Sicht kann nicht in unserem Interesse liegen. Sie schmälert unser Selbstvertrauen. Das Bild Indiens wird beschmutzt», stöhnte er.
Andere sehen das anders. Sie erkennen die Debatte als erstes Anzeichen einer Änderung zum Guten in einem Land, dessen Durchschnittsbürger gezwungen sind, ein Drittel ihres Nettogehaltes für Bestechung auszugeben. So machte etwa Ratan Tata, die Ikone der indischen Unternehmer, Bestechungsversuche öffentlich. Im Mittelpunkt des Interesses derzeit steht die undurchsichtige Vergabe von Telefonlizenzen durch einen – inzwischen im selben Gefängnis wie Kalmadi einsitzenden – ehemaligen Minister. Dem Staat sollen bei dem Verkauf der Lizenzen bis zu 39 Milliarden Dollar entgangen sein.
Die Liste der vermutlich Beteiligten wird dabei von Tag zu Tag länger. «Es ist ein Segen für Indien, dass nun manches hochkommt. Das Wort ‹Scham› ist der indischen Gesellschaft verloren gegangen», sagt die Bürgerrechtlerin Mallika Sarabhai, die Tochter eines der führenden Physiker des Landes. «Jetzt aber formt sich eine Volksbewegung gegen die Korruption. Diesmal aber, glaube ich, könnte so viel Druck auf dem Kessel sein, dass etwas passiert. Denn die Menschen auf der Strasse wachen auf», hofft sie.
Verteidiger ist auch Ermittler
Dass Indien aber ganz anders tickt, als Schweizer denken, zeigt sich im Fall Kalmadi: Gerade stellte sich heraus, dass dessen Verteidiger gegen die Ankläger der Korruptionsermittlungsbehörde der Rechtsanwalt U U Lalit sein werde. Er ist auf den Fluren der Behörde bestens bekannt. Denn zugleich hält er ihr Mandat, für sie im Bestechungsskandal im zweiten grossen Korruptionsfall Indiens, der Vergabe der Telefonlizenzen, gegen mutmassliche Betrüger zu ermitteln.