Das Ende der Schweizer Aviatik vollziehen Ausländer. Als am 23. März, 20.45 Uhr im Hotel Hilton nahe dem Flughafen Zürich der Verkauf der Swiss an die deutsche Lufthansa besiegelt wird, sind es Lufthansa-Chef Wolfgang Mayrhuber, ein Österreicher, Swiss-CEO Christoph Franz, ein Deutscher, und Swiss-Präsident Pieter Bouw, ein Holländer, die ihre Namenszüge unter den Vertrag setzen. Der «Blick» konstatiert anderntags: «Die Übernahme kostete sie ein Lächeln.» Seit Tagen trommelt das nationale Boulevardblatt latent deutschfeindliche Töne, so als hätten die Teutonen den Schweizern den «Weg zur Hölle» gewiesen und, so der «Blick», diesen «Kapitulationsvertrag» aufgezwungen.

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Die Wirklichkeit jedoch sperrt sich gegen simple Wahrheiten. Wahr ist: Bouw, der Holländer, übernimmt das Swiss-Präsidium zu einer Zeit, als sich längst kein Schweizer mehr traut, auf diesem Sessel Platz zu nehmen. Wahr ist: Franz, der Deutsche, übernimmt den CEO-Posten, nachdem Generationen von Schweizer Managern auf diesem Sessel versagt haben. Und wahr ist schliesslich: Mayrhuber, der Österreicher in deutschem Solde, übernimmt die Swiss nicht als barmherziger Samariter, sondern zu einem für ihn vorteilhaften Preis. Zur Legendenbildung taugt dieser letzte Akt der Schweizer Aviatik genauso wenig wie zur Kultivierung antideutscher Reflexe. Sondern nur zu einer simplen Einsicht: Es ist uns Schweizern nicht gelungen, in einem liberalisierten Markt für dieses Land eine eigenständige Airline zu erhalten. Dies hat viele Gründe. Wer diese verstehen will, muss tiefer liegende Schichten freilegen, statt in ein kollektives Lamento einzustimmen. Eine Spurensuche.

I. Der Markt

Der Zweite Weltkrieg stellt für die internationale Aviatik einen Paradigmenwechsel dar. Als gegen Ende des Krieges amerikanische Langstreckenbomber zahlreiche deutsche Städte mit Bombenteppichen überziehen, läuten sie damit auch ein neues Zeitalter der Aviatik ein, das nach dem Weltbrand auch die zivile Luftfahrt revolutionieren wird: den Eintritt der jungen Branche in den interkontinentalen Langstreckenverkehr. Dieser technologische Quantensprung erfordert auch eine rechtliche Neuordnung des Luftverkehrs. Ende 1944 findet in Chicago eine internationale Luftverkehrskonferenz statt. Zwei Konzepte stehen zur Diskussion: Die USA befürworten eine totale Liberalisierung der Branche und einen möglichst uneingeschränkten Wettbewerb; jedes Land solle jede beliebige Linie betreiben können. Die Briten hingegen befürworten die Errichtung eines Weltluftamtes, das den einzelnen Ländern bestimmte Linien nach einem Quotensystem zuteilen sollte. Frankreich schliesst sich den Engländern an, mit dem Argument, einen «halsabschneiderischen Wettbewerb» unter den nationalen Fluggesellschaften verhindern zu wollen.

Die Positionen stehen einander unversöhnlich gegenüber, und so bleibt auch im Interkontinentalzeitalter im Wesentlichen die Regelung aus der Pionierzeit in Kraft, wonach Verkehrsrechte über bilaterale Staatsabkommen ausgehandelt werden müssen. So bleibt die Branche unter der Käseglocke staatlicher Regelungen gefangen, und immer grösseres Fluggerät, Propeller-, Jet- und schliesslich Grossraumflugzeuge, fördert den Zwang zum ungezügelten Wachstum.

Die beiden Megatrends – Interkontinentalverkehr und Grossraumjets – bringen die Swissair schon bald an den Rand eines Konkurses. Für Interkontinentalflieger fehlt den Schweizern das Bare, und die Grossraumjets fördern zwar die Demokratisierung des Fliegens, lassen aber das Sitzplatzangebot weltweit exponentiell ansteigen. Die Nachfrage hält nicht Schritt. «Die schweizerische Zivilluftfahrt ist ganz unversehens in eine Krise hineingeraten. Es hat keinen Sinn, die Tatsache zu verschleiern, dass die Swissair diese aus eigener Kraft nicht zu überstehen vermag. Will die Schweiz im Luftverkehr nicht in kurzer Zeit kapitulieren, was in der ganzen Welt als ein Signal von unerhörter Tragweite vernommen würde, dann müssen rasche und entschlossene Massnahmen ergriffen werden», heisst es in einer Analyse der Schweizer Luftfahrt aus dem Jahre 1950. Zu Papier bringt diese Walter Berchtold, ehemaliger SBB-Manager, der im gleichen Jahr zum Direktionspräsidenten der Swissair ernannt wird. Nach seinem dramatischen Appell schliessen sich die Fronten im Land: «Der Swissair nahe stehende Banken», heisst es in den Annalen, besorgen eine Finanzierung zweier Interkontinentalflugzeuge, die Eidgenossenschaft gewährt ein vorübergehendes Bundesdarlehen – der Konkurs wird abgewendet.

Und als Mitte der sechziger Jahre die Nachfrage wieder anzieht, baut die Swissair ein imposantes, weltumspannendes Streckennetz auf, das die Nachfrage im kleinen Heimmarkt bei weitem übersteigt. Die Swissair avanciert zur so genannten Interkontinental-Importeurin; neben der holländischen KLM sind die Schweizer die Einzigen in Europa, welche die Grösse der Langstreckenflotte weit über den Bedarf im Inland hinauswachsen lassen. In Zahlen: Im Jahre 1946, an der Schwelle zum Interkontinental-Zeitalter, bewegte die Swissair 18 Flugzeuge, 1970, beim Eintritt in die Ära der Grossraumjets, sind es 35, im Jahr 2000, kurz vor dem Kollaps, 161.

Dennoch befinden sich die Schweizer noch Anfang der neunziger Jahre durchaus auf Augenhöhe mit der Marktentwicklung der internationalen Aviatik. Armin Baltensweiler, der 1948 in die Swissair eingetreten ist und später zum Swissair-Präsidenten avanciert, sowie Direktionspräsident Otto Loepfe sehen beide eine neue Zeit anbrechen. Ende der siebziger Jahre beginnen die Amerikaner den inneramerikanischen Airline-Markt zu liberalisieren – dreissig Jahre nach der Chicagoer Konferenz. In Europa setzt die Europäische Gemeinschaft diesen Prozess rund zehn Jahre später in Gang. Baltensweiler und Loepfe interpretieren dies als Endpunkt der klassischen, national ausgerichteten Airline. Sie sind die Ersten in der Branche, die 1988 mit dem US-Carrier Delta und der Singapore Airlines eine transatlantische Allianz mit Kapitalverflechtung eingehen – lange bevor die europäische Konkurrenz dieses Wort überhaupt im Mund führt. Die Swissair ist Ende der achtziger Jahre noch immer die strategische Benchmark der Branche, und dennoch schlummert gerade darin der Keim des Niedergangs.

Fortan sind alle Pläne auf ein einziges Ziel ausgerichtet: den lebenswichtigen Nordatlantik-Partner Delta bei der Stange zu halten. Dies heisst für die Schweizer, ein Fünftel des europäischen Passagiervolumens an sich zu binden. Und das wiederum bedeutet nach der Ablehnung des EWR-Beitritts im Jahre 1991: Marktausweitung in den EU-Raum hinein, und zwar um jeden Preis. Das Projekt «Alcazar», der versuchte Zusammenschluss mit KLM, der skandinavischen SAS und der österreichischen AUA 1993, beschreitet noch den Weg der Kooperation. Die Bündelung von 20 Prozent des europäischen Passagiervolumens wäre durch «Alcazar» möglich gewesen.

Als die kooperative Haltung nicht zum Ziel führt, ist es der neue Swissair-Chef Philippe Bruggisser, der auf Konfrontation geht – mit aggressiver Akquisition, Integration von Konkurrenten in den Swissair-Konzern und deren Anbindung in eine eigene Allianz der Qualiflyer Group. Die umworbene Braut Delta beeindrucken die herkulischen Anstrengungen der Schweizer nicht: Im Oktober 1999 kündigen die Amerikaner ihre Zusammenarbeit auf und gründen mit Air France eine eigene Allianz. Die Swissair steht im Europa der Airline-Allianzen hoffnungslos isoliert da. Und auch der Swiss unter André Dosé gelingt es zu keinem Zeitpunkt, sich als valabler Allianzpartner zu profilieren.

Die Schweizer Aviatik ist gescheitert, weil sie erstens nicht mehr in Augenhöhe mit dem Markt agiert hat.

II. Der Föderalismus

Die Schweiz hat die Politiker, die sie verdient und eine Luftfahrtpolitik, die sie verdient. Und die heisst: jeder Region ihren eigenen Flughafen. Gross das Gejammer in Genf, als Philippe Bruggisser anno 1996 Zwischenlandungen von Interkontionental-Jets am Lac Léman storniert, weil dieser Kniefall vor der stolzen welschen Seele die Swissair pro Jahr eine zweistellige Millionensumme gekostet hat. Gross der Jubel in Basel, als Crossair-Gründer Moritz Suter seinen EuroAirport mit millionenschweren Investitionen zu einer Umsteigeplattform namens «Eurocross» ausbaut.

Und dies ist nur ein kleiner Teil des helvetischen Grössenwahns: Während der EuroAirport die Zahl der abgefertigten Passagiere in den drei Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 von 0,7 auf 3,8 Millionen erhöht hat, steigt das Passagiervolumen in demselben Zeitraum in Genf von 2,8 auf 7,8 Millionen und in Zürich von 4,5 auf Schwindel erregende 22,7 Millionen Passagiere. In den drei Landesflughäfen der Schweiz wurden also zur Jahrtausendwende 34,3 Millionen Passagiere abgefertigt. Ein Befund, der die totale Abhängigkeit der Schweizer Aviatik von aus dem Ausland eingeflogenen Umsteigepassagieren zeigt. Allein in Zürich sind es im Spitzenjahr 2000 über zehn Millionen Umsteigepassagiere – ungesund für einen Flughafen, dessen natürliches Passagieraufkommen bei rund zwölf Millionen liegt.

Aufgeblähte Passagierströme und drei Flughäfen für ein Land mit sieben Millionen Einwohnern, und zwei der drei Flughäfen entwickeln den Ehrgeiz, in der oberen Liga mitzuspielen: Kein anderes Land in Europa leistet sich einen vergleichbaren föderalistischen Luxus. Der Airport Charles de Gaulle in Paris ist ein zentralisierter Hub, der die Passagierströme der Grande Nation – rund 48 Millionen pro Jahr – in alle Himmelsrichtungen bündelt. Gleiches gilt auch für London Heathrow, mit über 60 Millionen Passagieren grösster europäischer Flughafen. Übersetzt auf die Schweiz heisst dies: Ein zentraler Interkontinentalflughafen in Zürich mit einem Volumen von etwas über fünfzehn Millionen Passagieren pro Jahr wäre unserem Land angemessen. Er liesse sich so eingliedern in das Multihub-System der Lufthansa als Juniorpartner neben Frankfurt (rund 48 Millionen Passagiere pro Jahr) und München (über 25 Millionen).

Die Schweizer Aviatik ist gescheitert, weil sie sich zweitens eine unzweckmässige föderalistische Infrastruktur leistet.

III. Die Manager

Den ersten Sündenfall begeht ausgerechnet jener Mann, der den Weg der Swissair von der DC-3, einer Propellermaschine der Vorkriegszeit, bis zum 360-plätzigen Jumbojet massgeblich geprägt hat. Als Swissair-Präsident Armin Baltensweiler im Jahr 1992 einen Nachfolger sucht, fällt seine Wahl auf Hannes Goetz. Es ist der falsche Mann: keine Leaderfigur, ein Fremdling in der Airline-Branche und nicht der Präsident, der das Schweizer Luftfahrtunternehmen erfolgreich in das deregulierte Zeitalter zu pilotieren im Stande ist. Vor allem ist Goetz kein Gegengewicht zum CEO Philippe Bruggisser, der die bodenständige Airline mit New-Economy-Attitüden bestäubt: Backlease-Verträge oder Put-Optionen gehören plötzlich zum Business-Repertoire der Schweizer Airline. Modernes Finanzgebaren und globales Wettrüsten finden ihren Resonanzkörper bei den jungen Typen im Verwaltungsrat rund um Starbanker Lukas Mühlemann.

Im Jahr 2000 steigt der Ex-Politiker Eric Honegger zum Präsidenten auf, und was für Goetz gilt, gilt erst recht für ihn: Er ist der falsche Mann. Die wirtschaftliche Elite oder das, was sich dafür hält, gibt ein jämmerliches Bild ab. Überfordert, ahnungslos und dilettantisch schlittert sie mit einer Firma ins Elend, die auf Stufe Operation noch immer präzise funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk. Der Letzte im Umzug, Präsident und Konzernchef Mario Corti, mag sich mit Wehmut an die Zeiten Walter Berchtolds Anfang der fünfziger Jahre erinnern, als Banken, Politik und Swissair-Management in einem gemeinsamen Kraftakt die Airline vor dem drohenden Konkurs bewahrten. Fünf Jahrzehnte später ist vom damaligen Konsens nichts mehr vorhanden: Die so genannte Elite im Verwaltungsrat tritt ab durch die Hintertür, die Politik ist ein saftloser Zaungast, und für die Banken ist die sterbende Swissair nichts weiter als ein Risikoschuldner.

Die Schweizer Aviatik ist gescheitert, weil drittens die heimische Polit- und Wirtschaftselite dilettantisches Krisenmanagement betrieben hat.

IV. Moritz Suter, die Crossair und die Swiss

Die Business-Idee ist von den Amerikanern abgekupfert: Mit kleinen Flugzeugen will Moritz Suter in Europa den Regionalverkehr erschliessen und sich so eine eigene Airline aufbauen, die Crossair. Dabei lässt sich der streitbare Basler seit Gründung der Fluggesellschaft Ende der siebziger Jahre von zwei Fixpunkten leiten: Mit möglichst vielen Fliegern will Suter Flughäfen in der Schweiz und im europäischen Ausland mit seiner Homebase in Basel verbinden, um so Schritt für Schritt den Europaverkehr der Swissair unter die Fittiche der Crossair zu zwingen. Langfristig will er neben Propellermaschinen auch Jets betreiben. Um all diese Pläne verwirklichen zu können, baut er bis Ende 2001 eine imposante Flotte von über 80 Fliegern auf. Und er verkauft über die Jahre die Mehrheit seiner Gesellschaft an die Swissair, im Wissen, dass anders seine Wachstumspläne nicht zu finanzieren sind.

Als die Swissair kollabiert, scheint Suter am Ziel seiner Träume angelangt: Während die nationale Airline groundet, funktioniert die Crossair-Operation weiter, und nun bereitet Moritz Suter den finalen Schachzug in der Schweizer Aviatik vor. Jahrelang hat der Crossair-Gründer die Message von der kostengünstigen Regionalairline in die Hirne von Politikern und Öffentlichkeit gepflanzt, ungeachtet der Tatsache, dass die vermeintlich günstigen Kosten ursächlich damit zusammenhängen, dass der Regionalcarrier eingebettet ist in den Swissair-Konzern.

Die Saat jedoch geht auf: Nach dem Grounding der Swissair avanciert die Kostenstruktur der Crossair zum rhetorischen Viagra der darniederliegenden Aviatik-Nation Schweiz, und Suter kann seine 82 Regionalflieger ohne Widerstände in die neue Fluggesellschaft Swiss einbetten und seine Crossair-Manager platzieren. Der ehemalige Swissair-Pilot Moritz Suter ist seinem Ziel zum Greifen nah, seine Crossair zur einzigen nationalen Airline zu machen und über einige wenige Langstreckenjets der untergegangenen Swissair in den Interkontinentalverkehr einzusteigen. Alles ist zu Ende gedacht: Die UBS signalisiert, ohne Hilfe der Politik den Start einer neuen Schweizer Airline unter dem Dach der Crossair zu finanzieren mit Moritz Suter als Präsident und dessen Zögling André Dosé als operativem Chef.

Doch dann, im Herbst 2001, werden die Pläne für Suters schöne neue Airline-Welt vom Bundesrat doch noch durchkreuzt. Geboren wird der Bastard Swiss: Als «Crossair plus» angedacht, endet das Projekt als Langstrecken-Carrier, dem die defizitäre und überdimensionierte Regionalflotte wie Blei an den Flügeln hängt.

Nun sind alle ratlos und legen den Bastard der Lufthansa ins Nest. Da soll noch einer behaupten, die Deutschen seien verantwortlich für das Ende einer eigenständigen Schweizer Aviatik.

Die bittere Wahrheit ist: Unsere Kompetenz in dieser Branche hat sich in Luft aufgelöst.