Über die wahren Gründe, wieso die traditionsreiche Swiss Life die erst 19 Jahre alte, noch immer umstrittene AWD übernehmen will, wird weiter gerätselt. Zu offensichtlich ist der Widerspruch in der offiziellen Begründung, wonach neue Vertriebswege erschlossen würden, der Finanzdienstleister aber gleichzeitig seine Unabhängigkeit bewahre. Die Motiviation zu diesem fast zwei Milliarden Franken teuren Kauf liegt tatsächlich auch woanders. AWD-Gründer Carsten Maschmeyer soll schon seit einigen Wochen auf der Suche nach einem Fusions- oder Übernahmepartner für den grössten Strukturvertrieb in Europa gewesen sein, wird in den Anlegerforen spekuliert. Swiss Life musste zuschlagen, ehe ein Konkurrent an die über 6000-köpfige Vertriebsstruktur gelangt wäre.
Seit Monaten ist die AWD-Aktie im Krebsgang. Trotz den tollen Geschäftszahlen, die Quartal für Quartal vorgelegt werden. In den Zwischentönen klingt die Euphorie deutlich ab. Besonders im Chancen- und Risikobericht steht zu lesen, dass die regulatorischen Bedingungen zunehmend verschärft würden. Die Auflagen an die Qualifikationen der Berater sowie die Haftung für die Qualität der Kundenberatung nehmen durch die neuen Finanzmarktrichtlinien Mifid, das Versicherungsvertragsgesetz und weitere Bestimmungen deutlich zu. «Das führt zu Produktivitätseinbussen und Erlösminderungen», schreibt AWD und schliesst deshalb «eine vorübergehend leicht rückläufige Profitabilität» nicht aus.
Besonders akut sind die Probleme in England. Schon Anfang Jahr wurde eine neue Leitung eingesetzt. Das Geschäft auf der Insel harzt, die Zahlen sind nach einer kurzen Aufhellung im letzten Jahr wieder rot. Allerdings nicht wegen der Subprime-Krise. Die ehemals wohlwollend gesinnte Finanzmarktaufsicht hat ihren Ton gegenüber Strukturvertrieben verschärft. «Wir müssen England einer Lösung zuführen», sagt AWD-Chef Carsten Maschmeyer. Hätte er nun die offenbar gravierenden Probleme in England vor der Übernahme eingestehen müssen, wäre der Aktienkurs möglicherweise weiter eingebrochen. Nicht nur wäre die Familie Maschmeyer mit einem Drittel der Aktien die grösste Verliererin, sondern auch AWD wäre ein willkommenes Übernahmeopfer geworden. In einem Interview mit der «WirtschaftsWoche» bestätigt der AWD-Chef diese Möglichkeit indirekt: «Wir haben verhindert, dass sich Hedge Funds und Spekulanten bei uns einkaufen.» Oder eben ein Swiss-Life-Konkurrent wie Allianz oder Axa. Swiss Life wollte nicht zusehen, wie ihr ein Konkurrent im stagnierenden und umkämpften Lebensversicherungsmarkt eine Vertriebsorganisation vor der Nase wegschnappt.
Letztlich ist die Milliarde, die für eine Mehrheitsübernahme zu zahlen ist, immer noch wesentlich günstiger als der Preis, zu dem eine solche Crew selber angeheuert und ausgebildet werden müsste. Wenn überhaupt eine solche Anzahl Aussendienstler rekrutiert werden könnte. Darin tut sich Swiss Life ebenso schwer wie ihre Konkurrenten. 60 Prozent der angehenden Agenten sollen die interne Ausbildung spätestens im zweiten Jahr abbrechen, ist aus dem Unternehmen zu vernehmen.
Da ist die Alternative verlockend, über das Struktursystem AWD neue Vertriebskräfte aufzubauen, die ihre Laufbahn später beim renommierten Mutterkonzern fortsetzen. Der umgekehrte Weg auf dieser Karriereleiter ist natürlich auch möglich. So befürchten Swiss-Life-Leute bereits ein Zweiklassensystem ähnlich wie bei den Piloten von Crossair und Swissair. Inwieweit ihre Befürchtungen zutreffen, sollen sie an einer internen Informationsveranstaltung erfahren. Doch darauf müssen sie bis am 18. Januar 2008 warten.
Nicht alle mögen sich so lange gedulden. Gerade ältere Agenten ziehen den frühzeitigen Ruhestand in Erwägung. Sie sind nicht darauf erpicht, nun auch noch mit den AWD-Vertretern unter dem gleichen Konzernmantel um neue Abschlüsse rackern zu müssen. Bereits machen ihnen die Mobiliaragenten und die Vertreter der Vaudoise auf dem Schweizer Markt die Kunden streitig. Das Bekenntnis von Maschmeyer und Swiss-Life-Chef Rolf Dörig ( «Wir garantieren Konkurrenzschutz») sei nicht mehr als eine Worthülse, ist von Insidern zu hören. Allzu gerne fischen die Agenten schon jetzt im Teich ihrer vermeintlichen Kollegen bei den Kooperationspartnern und bewegen deren Kunden dazu, auf ihre Provisionsliste zu wechseln.
In andern Teichen zu fischen, könnte letztlich auch für Swiss Life ein Motiv zu dieser Übernahme gewesen sein. Besonders im Geschäft der beruflichen Vorsorge erschliessen sich neue, lukrative Kanäle. Vielleicht weniger im Vertrieb solcher Produkte, weil dies zumindest bisher kein bedeutsames Tummelfeld von AWD war. Vielmehr aber erhalten die AWD-Vertreter mit jeder Finanzanalyse bei den privaten Kunden interessante Angaben, wie und wo diese mit der Pensionskasse ihres Arbeitgebers beruflich versichert sind. Swiss Life kann mit dieser neuen Informationsquelle gezielt Geschäftskunden angehen, um Pensionskassenlösungen zu verkaufen und so das Kollektivgeschäft voranzutreiben. Oder, um es mit den Worten der Medieninformation zu sagen: «Zudem kann Swiss Life auch von der Kundennähe von AWD profitieren, um Produkte noch kundenorientierter zu entwickeln.»
Lieber hat Swiss-Life-Chef Rolf Dörig somit die Reputationsrisiken in Kauf genommen, als sich die Chancen dieser Übernahme entgehen zu lassen. Zumal sich die finanziellen Auswirkungen dieser Risiken in einem überschaubaren Rahmen halten dürften.