Langsam hebt sich vom bauchigen Kübel der schwere Deckel. Fauchend schiesst eine Gaswolke daraus hervor, quillt an die Decke und macht die Sicht frei auf drei meterlange, rotgelb glühende Stäbe. Vermummte Gestalten tappen durchs Halbdunkel, sie stochern mit langen Eisenstangen herum und lassen einen Bottich herbeischweben. Mit ohrenbetäubendem Scheppern wird die zweite Ladung, 40 Tonnen Schrott, in den Kübel gekippt. Sachte senken sich die abkühlenden Stäbe, Graphitelektroden, wieder in den Kübel nieder. 140 000 Ampere Strom schiessen ins Alteisen, meterweit spritzen Funken. Ein infernalisches Getöse. Ein Rucken, als ob die ganze Halle sich krümmte.

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Marcel Imhof, braucht die Schweiz noch einen eigenen Stahlproduzenten? Hat sich der CEO der Swiss Steel bisher entspannt in seinem Stuhl zurückgelehnt, richtet er sich nun auf und sagt mit lauter Stimme: «Solange die Schweizer Stahlindustrie effizient ist, Ertrag bringt und im europäischen Konkurrenzkampf mithalten kann, so lange hat sie ihre Berechtigung.» Wenn sich die Gespräche um die «Stahli» drehen – so nennen die Emmenbrückler liebevoll ihr Stahlwerk –, gehen die Emotionen schnell hoch. Auch bei Imhof. Er ist bereits seit 28 Jahren in der «Stahli»: zuerst als Assistent des Verkaufsdirektors, danach als Verkaufsleiter Blankstahl, später in derselben Funktion beim Walzstahl, schliesslich als Leiter der Sparte Stahl.

Dabei hatte sich Marcel Imhof Mitte der neunziger Jahre um ein Haar nach einem neuen Job umsehen müssen. Damals, im Umfeld der europaweiten Stahlkrise, erzwangen die Banken eine Zusammenlegung des angezählten Gerlafinger Von-Roll-Stahlwerks mit der Innerschweizer Stahlgruppe von Moos (siehe Nebenarikel «Totgesagte leben länger»). Als der Patron André von Moos Ende 1996 aus dem einstigen Familienunternehmen ausstieg, bot der von den Grossbanken als Troubleshooter nach Emmenbrücke entsandte Robert A. Jeker dem erfahrenen Stahlmann Marcel Imhof den Job als CEO an. «Ich habe Ja gesagt, denn jemand musste diesen Job doch machen», meint der heute 57-Jährige fast entschuldigend.

Imhof hat seinen Job sehr gut gemacht. Denn eigentlich rechnete damals kaum jemand damit, dass die zur Swiss Steel zusammengeschlossenen Firmen überleben werden. Schnell wurde dem frischgebackenen Stahlchef klar, dass man die beiden Werke nicht zusammenlegen konnte; deshalb konzentriert sich Emmenbrücke auf Qualitäts- und Edelstähle, Gerlafingen produziert Massenstahl. Mit Steeltec wurde eine dritte Firma gegründet, die Blankstahl herstellt. Imhofs delikateste Aufgabe war jedoch die kulturelle Fusion der Stahlkocher. In den Köpfen der Stahlmänner beider Standorte waren «vor allem die Misstöne der Vergangenheit haften geblieben» (Imhof). Erst nach Jahren war der grösste Teil des Misstrauens abgebaut.

Endgültig in eine neue Zukunft ging es vor zwei Jahren. Credit Suisse und UBS wollten sich endgültig von ihrer Mehrheit an Swiss Steel trennen und erteilten Marcel Imhof den Auftrag, eine industrielle Lösung auszuarbeiten. Aus einer Liste von 20 potenziellen Aktionären blieben am Ende deren drei. Imhof erinnert sich: «Unser Wunschkandidat hiess Schmolz + Bickenbach. Denn die Düsseldorfer Gruppe ist im Stahlmarkt ein grosser Abnehmer sowie wichtiger Händler.» Für elf Millionen Franken ging das 50,5-Prozent-Aktienpaket an Schmolz + Bickenbach. Diese brachte die Beteiligung in die neu gegründete SBGE Stahl Holding ein, die zu 80 Prozent den Deutschen, zu 20 Prozent der im zugerischen Neuheim domizilierenden Beteiligungsgesellschaft Gebuka des Schweizer Investors Gerold Büttiker gehört.

Von nun an ging es definitiv bergauf. Dank der neuen Mutter konnte das Töchterlein in Entwicklung, Produktion, Logistik und Vertrieb ein beträchtliches Synergiepotenzial ausschöpfen. Die positivsten Auswirkungen der neuen Partnerschaft zeigten sich im verbesserten Produktemix und in der grösseren Kapazitätsauslastung. Gerade im Stahlgeschäft ist es wichtig, dass die Produktion auf Volltouren läuft, sollten die Öfen doch möglichst an 365 Tagen jährlich rund um die Uhr glühen. Nur so lässt sich eine hohe Kosteneffizienz erreichen.

Bereits im Jahr der Übernahme präsentierte Swiss Steel ein Rekordergebnis. Nochmals deutlich besser sind die Zahlen für 2004 ausgefallen: Der Umsatz stieg um über ein Drittel auf 894 Millionen Franken, der Betriebsgewinn verdoppelte sich auf 52 Millionen. «2004 war ein grandioses Stahljahr», kommt Marcel Imhof ins Schwärmen. Es war für die weltweite Stahlbranche das beste Jahr seit Jahrzehnten, es stand ganz im Zeichen des asiatischen Stahlhungers. Insbesondere die Nachfrage aus China trieb den Stahlpreis in luftige Höhen, räumte die Eisenerz- und Schrottlager leer. Innert weniger Monate verdoppelte sich der Schrottpreis.

Die Superzahlen mag Imhof nicht alleine dem China-Effekt zuschreiben. Positiv auf die Ertragslage ausgewirkt habe sich auch die über die letzten Jahre erfolgte Bereinigung in der Stahlindustrie. Im Weiteren führt er die internen Kostenmassnahmen sowie die Währungssituation ins Feld. Denn da die Emmenbrückler rund zwei Drittel ihrer Produktion exportieren – fast ausnahmslos in den europäischen Raum –, hat der starke Euro einiges zum Gewinn beigesteuert.

Nach dem Ausnahmejahr fühlt sich das Stahlunternehmen wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. Und schon setzt Swiss Steel zu einem Quantensprung an: Die 25-Prozent-Beteiligung an den Edelstahlwerken Südwestfahlen (EWS) wird auf 100 Prozent ausgebaut. Ferner übernimmt Swiss Steel von ThyssenKrupp Steel die Edelstahl Witten-Krefeld (EWK). Auf einen Schlag entsteht aus dem letzten Schweizer Stahlkocher ein mittelgrosser europäischer Stahlkonzern mit einer Produktionskapazität von 2,5 Millionen Tonnen pro Jahr, einem Umsatz von 2,5 Milliarden Fanken und 5300 Beschäftigten (siehe «Frisch gegossener Stahlkoloss» auf Seite 58). Noch gar nicht eingerechnet ist hier ein Joint Venture in China mit 1500 Beschäftigten, an dem die EWK zu 49 Prozent beteiligt ist.

«Das wird eine fantastische Stahlgruppe. Wir haben ein Sortiment, wie es sonst weltweit niemand anbieten kann», sagt Marcel Imhof. Auch von Finanzanalystenseite her wird dem Gebilde Beifall gezollt: «Industriell machen die Akquisitionen viel Sinn.» Die Partnerschaft mit Schmolz + Bickenbach wird als Garant für ausgelastete Kapazitäten betrachtet. Der Mehrheitsaktionär hat einen deutlich höheren Stahlbedarf, als Swiss Steel zu produzieren vermag. Kühlt sich die Stahlkonjunktur ab, können die Düsseldorfer ihre Bezüge von firmenfremden Lieferanten drosseln und so die Auslastung ihrer Schweizer Tochter hoch halten.

Beim Produktemix bestünden praktisch keine Überschneidungen, meint Imhof. Auch sieht er keinen Restrukturierungsbedarf, «die Unternehmen sind fit». Ein etwas anderes Bild vermittelt Robert A. Jeker, der seit 1996 im Verwaltungsrat der Swiss Steel sitzt: «Bei beiden Firmen wurde nicht mehr gross investiert. Als ich durch die Werke gelaufen bin, hat mich ihr Zustand an die alten Zeiten im Stahlwerk Gerlafingen gemahnt.» Zumindest in Sachen Ausstoss dürften die Neuerwerbungen noch einiges an Potenzial bieten. Im vergangenen Geschäftsjahr produzierten die drei Einheiten 2,1 Millionen Tonnen Stahl. Bei der neuen Swiss Steel wird mit 2,5 Millionen gerechnet. Die heutige Swiss Steel hat jedoch die Kapazitäten praktisch zu 100 Prozent ausgelastet. Womit die beiden neuen Firmen die zusätzlichen Tonnagen liefern müssen.

Bei den Margen vermögen die neu akquirierten Firmen mit ihrer Mutter ebenfalls nicht mitzuhalten. Zwar weist CEO Marcel Imhof darauf hin, dass die beiden deutschen Unternehmen ihr Geschäftsjahr auf Ende September schliessen. Im Gegensatz zu Swiss Steel ist also in deren Rechnung das miese vierte Quartal 2003 enthalten, während das vierte Spitzenquartal 2004 fehlt. Doch auch wenn man dieses (rechnerische) Handicap berücksichtigt, zeigen die Gewinnmargen von EWS und EWK Nachholbedarf auf. Zumal beide Unternehmen keinen Massenstahl herstellen wie Swiss Steel, also eigentlich die besseren Margen erwirtschaften sollten. Jeker sieht denn auch viel Ertragspotenzial: «Längerfristig erwarte ich für den Konzern höhere Ebit-Margen, als sie Swiss Steel heute erreicht.»

Kritik üben Analysten am geheim gehaltenen Übernahmepreis für EWK. Zwar spricht Benedikt Niemeyer, VR-Präsident bei Swiss Steel sowie Chef bei Schmolz + Bickenbach, von einem «fairen Preis». Ein Schnäppchen allerdings dürfte der Kauf kaum gewesen sein – der Vertrag wurde auf dem Höhepunkt des Stahlrausches unterzeichnet. Nun beginnt sich die Nachfrage zusehends abzukühlen. «In China werden die Kapazitäten in der Stahlproduktion massiv ausgebaut», meint Daniel Balthasar, Manager des DWS-Rohstofffonds. Zudem wächst die Nachfrage in diesem Markt weniger stark als in den letzten Jahren. Balthasar geht deshalb davon aus, dass der Stahlpreis sinken wird.

Die Stahlpreise mögen wieder sinken. Die neu geformte Swiss Steel wird dennoch über die nächsten Jahre laufend bessere Erträge ausweisen. Dies erwartet auch die Börse: Im Jahresvergleich haben die Aktien um 200 Prozent zugelegt. Marcel Imhof, Schmelzmeister des Stahlwunders von Emmenbrücke, scheut den Erwartungsdruck nicht: «Wir haben viel zu bieten. Man wird noch einiges von uns zu hören bekommen.»