Unbekannte Täter dringen in der Nacht vom 11. Oktober 1998 ins Swissair-Gebäude am Balsberg ein. Ihr Ziel sind mehrere Räume der Chefetage. Im Direktionsbüro brechen sie den hinter einer Holzverkleidung versteckten Tresor heraus. Darin hatten die Swissair-Direktoren während Jahrzehnten ihre geheimen Papiere gelagert. Ein brisantes Dokument können die Tresorknacker allerdings nicht behändigen: das Dossier mit den angeblichen «Schandtaten» von Crossair-Gründer Moritz Suter, dem langjährigen Swissair-Erzrivalen. Die ominöse Suter-Fiche hat den Einbruch ebenso überlebt wie das Grounding vom Oktober 2001. Swissair-Liquidator Karl Wüthrich bestätigt: «Ich habe von verschiedenen Seiten gehört, dass der Ordner in der SAirGroup existieren soll.» Persönlich habe er ihn jedoch nie zu Gesicht bekommen.

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Einer der wenigen, die vom Einbruch Kenntnis haben, ist Rolf Winiger. Dem 61-jährigen früheren Chef der Division SAirServices gehörte das Direktionsbüro zum Zeitpunkt der Tat. Winiger hatte es von Konzernchef Philippe Bruggisser geerbt, der mit der Tradition seiner Vorgänger gebrochen und für sich ein anderes Büro ausgewählt hatte.

Heute ist Rolf Winiger der letzte Mohikaner vom Balsberg. Noch immer erscheint er täglich im ehemaligen Direktionsbüro zur Arbeit – als wäre die Swissair gar nie untergegangen. Auch der Raum erinnert an längst vergangene Zeiten. Die Möblierung aus massivem Bongossi-Holz ist dieselbe wie im Februar 1967, als der damalige Direktor Walter Berchtold das Büro erstmals bezogen hatte. Seit dem Grounding nun arbeitet Winiger im Auftrag von Karl Wüthrich. Für einen Milliardenbetrag hat er die Tochterfirmen Swissport, Gate Gourmet und SR Technics verkauft. Als letzter grosser Vermögenswert verbleibt noch das Balsberg-Gebäude selber, das der Swissair-Tochter Avireal gehört. Derzeit laufen Verhandlungen mit vier verschiedenen Investorengruppen. Insider schätzen den Verkaufspreis von Avireal auf 250 Millionen Franken.

Während Winiger bis heute dem Balsberg verhaftet bleibt, haben viele seiner ehemaligen Kollegen einen Neuanfang gewagt. Trotz Swissair-Pleite ist ihnen eine zweite Karriere gelungen. Wohl am weitesten weg verschlagen – bis nach Bombay – hat es Peter Lüthi. Seit einem Jahr ist der 60-Jährige Chief Operating Officer der indischen Fluggesellschaft Jet Airways mit 7500 Mitarbeitern. Diese führt täglich 250 Inlandflüge durch und kommt innerhalb Indiens auf einen Marktanteil von 46 Prozent. Sein neuer Job bringt Lüthi ins Schwärmen: «Wir sind eine absolute Qualitäts-Airline – wie die Swissair zu ihren besten Zeiten.» Bei Jet Airways starten nur sieben Prozent der Flugzeuge mit Verspätung, auf dem Flughafen Zürich sind es 31 Prozent.

Nach dem Swissair-Grounding übernahm Lüthi, der bis dahin die Abteilung External Relations geführt hatte, die Funktion des letzten Swissair-CEO, bis die Airline ein halbes Jahr später schliesslich in der neu gegründeten Swiss aufging. Lüthi, der im Jahr 1960 in die Airline eingetreten war, erinnert sich nur ungern ans damalige Swissair-Bashing: «Wir Manager wurden alle in einen Topf geworfen und als Versager abgestempelt.» Dass es im Konzern aber auch zahlreiche tüchtige und kompetente Leute gegeben habe, sei vom neuen Swiss-Management verkannt worden und in der Öffentlichkeit vergessen gegangen.

Erst jetzt, da die früheren Swissair-Kader wieder in neuen Spitzenpositionen auftauchen, zeigt sich, dass viele zu Unrecht den Kopf für das Grounding herhalten mussten. Zum Beispiel der 60-jährige Ernst Funk: Während 41 Jahren stand er im Dienste der Swissair. Er arbeitete in New York, Washington, Chicago und Hongkong. Zudem führte er den Cargo-Bereich, das Marketing und zum Schluss die strategischen Allianzen. Seit Oktober 2002 ist Funk Chef der Air Malta, die mit 13 Flugzeugen jährlich 1,7 Millionen Passagiere transportiert.

Im Gegensatz zu den beiden Swissair-Urgesteinen Lüthi und Funk haben die meisten ehemaligen Führungskräfte das Airline-Geschäft verlassen und in verwandte Branchen gewechselt. So etwa Rainer Hiltebrand: Per April 2002 wurde der frühere Chefpilot zum Leiter Operations an den Zürcher Flughafen berufen. Wenig später avancierte der 50-Jährige ausserdem zum Stellvertreter von Flughafenchef Josef Felder. Im September 2002 übernahm mit Jürg Rämi ein weiterer langjähriger Swissair-Manager die Leitung des EuroAirports von Basel. Der 48-jährige Absolvent der Swissair-Luftverkehrsschule führte nach Stationen in Barcelona, Stockholm und Genf die Abteilung für Beschaffung und Qualität.

Der Dritte im Bunde der neuen Flughafenmanager ist der 45-jährige Michael Eggenschwiler, seit Anfang 2003 Geschäftsführer von Hamburg Airport mit 1700 Mitarbeitern. Bei der Swissair war er zuletzt Leiter des Marktes Schweiz. Dass so viele ehemalige Swissair-Kader wieder in führenden Positionen arbeiten, sieht er als Rehabilitierung nach der Schmach des Groundings: «Diese Leute besassen schon damals ein fundiertes Wissen und eine grosse Führungserfahrung.» Trotzdem habe man bei der Swiss willentlich auf dieses Humankapital verzichtet. Zum Beispiel bei Reto Wilhelm: Zu Swissair-Zeiten war der enge Weggefährte Eggenschwilers Chef der weltweiten Verkaufsorganisation. Seit zwei Jahren leitet Wilhelm beim Reisekonzern Kuoni die Geschäftseinheit Europa. Zudem gilt der 43-Jährige als einer der Kronfavoriten für den frei werdenden Posten von Kuoni-Konzernchef Hans Lerch.

Einen beeindruckenden Karrieresprung hat auch der 46-jährige Armin Meier geschafft, der als möglicher Nachfolger von Migros-Chef Anton Scherrer gehandelt wird. Zurzeit führt er beim orange Riesen den Bereich Logistik und Informatik. Im Swissair-Konzern war Meier als Chef der Informatiktochter Atraxis einer der wichtigsten Mitarbeiter von Rolf Winiger. Nach dem Grounding hatte er dort innert Wochenfrist 400 der 2000 Atraxis-Angestellten auf die Strasse gestellt, um den Konkurs der Firma abzuwenden.

Den finanziell lukrativsten Job hat sich indes Jeff Katz geangelt, der bereits ein Jahr vor dem Kollaps der Swissair das Handtuch als Airline-Chef geworfen hatte: Seit knapp vier Jahren ist der Kalifornier CEO und Präsident des amerikanischen Internet-Reiseanbieters Orbitz. Vor allem der Börsengang der Firma im letzten Dezember hat dem 48-Jährigen viel Geld in die Kasse gespült: Zusätzlich zum regulären Jahreslohn von 1,3 Millionen Dollar kassierte er dabei Gratisaktien im Wert von drei Millionen Dollar.

Was auffällt: Seilschaften unter den früheren Swissair-Managern lassen sich kaum ausmachen. Diesen angeblichen Swissair-Filz habe es bereits damals nie gegeben, betont der ehemalige Personalchef Matthias Mölleney. Zwar stiess er beim Winterthurer Medizinaltechnikkonzern Centerpulse auf die frühere Kommunikationschefin Beatrice Tschanz. Doch dies sei Zufall gewesen, auch wenn er viele dieser Kontakte weiterpflege. Eng befreundet ist Mölleney, heute Personalchef beim Technologiekonzern Unaxis, mit Wolfgang Werlé. Deren Söhne gingen sogar in dieselbe Schulklasse. Werlé gehörte im Swissair-Konzern als Chef des Bereichs SAirRelations mit über 20 000 Mitarbeitern ebenfalls zur Konzernleitung. Sein Büro lag direkt neben demjenigen von Rolf Winiger. Kurz nach dem Grounding übernahm Werlé dann die Führung der Backwarengruppe Hiestand.

Die Mehrheit des Swissair-Kaders hat die Vergangenheit inzwischen weit hinter sich gelassen. Doch es gibt ein paar Ausnahmen: Rolf Winiger ist es, der freiwillig auf dem Balsberg ausharrt. Ihm seien die Tochterfirmen, etwa Swissport oder SR Technics, ans Herz gewachsen: «Nachdem ich beim Aufbau mitgeholfen habe, wollte ich sicherstellen, dass diese Firmen in gute Hände kommen.» Daneben tun sich auch die vier Swissair-Exponenten Philippe Bruggisser, Georges Schorderet, Mario Corti und Eric Honegger schwer mit einem Neuanfang. Diese vier stehen im Zentrum der juristischen Ermittlungen durch die Zürcher Bezirksanwaltschaft. Zudem haben die Behörden auf deren Konten eine tiefe sechsstellige Summe eingefroren, um einen Teil der Verfahrenskosten zu decken.

Der ehemalige Konzernchef Bruggisser lebt zurückgezogen an seinem Wohnort im Kanton Aargau. Am Telefon wirkt der 56-Jährige fit und tatendurstig. So verfolgt er zusammen mit etwa zehn Getreuen das Projekt einer primär auf Geschäftsleute ausgerichteten Billig-Airline namens Euroblue. Dies sei nur ein Projekt von vielen, erklärt Bruggisser, ohne allerdings konkreter zu werden.

Still geworden ist es auch um den früheren Finanzchef Schorderet. Er sei genug in der Öffentlichkeit gestanden, sagt er, den Rummel brauche er nicht mehr. Der 51-Jährige betreibt im zürcherischen Hombrechtikon eine Consultingfirma. Zum Netzwerk von Schorderet und Bruggisser gehört nach wie vor Nils Hagander. Der ehemalige McKinsey-Partner, der als Berater die Swissair-Strategie mitgeprägt hatte, ist heute Verwaltungsrat bei Kuoni und Gründer einer Staffing-Firma.

Mario Corti, der letzte Verwaltungsratspräsident der Swissair, lebt in Boston. An der Harvard Business School ist er noch Mitglied des Visiting Committee, ein Beratungsmandat, das er im Jahr 2000 erhielt.

Am besten aufgerappelt von diesen vier hat sich bislang Cortis direkter Vorgänger, Eric Honegger. Nachdem er seine Verwaltungsratsmandate bei der UBS und der NZZ verloren hat, präsidiert er neu den Verein Balgrist, der die gleichnamige Uni-Klinik betreibt. Weiter leitet der 58-Jährige die Unternehmensstiftung von Möbel Pfister. Hauptberuflich arbeitet Honegger als Partner der Beratungsfirma CE Services, wo er sich aufs Gebiet der Corporate Governance spezialisiert hat: «Unsere Aufträge kommen vor allem von kotierten Schweizer Firmen.»

Obwohl viele Swissair-Manager zu neuen Ufern aufgebrochen sind: Der Untergang der Schweizer Airline wirkt noch immer nach. Voraussichtlich bis Ende Jahr wollen die Behörden entscheiden, ob und gegen wen formell Anklage erhoben wird.

Auch das Dossier über Moritz Suter – die Eingeweihten sprachen jeweils vom «roten Ordner» – könnte wieder alte Wunden aufreissen. Laut Einschätzung eines Insiders, der den Ordner teilweise gelesen hat, würde eine Veröffentlichung beiden Seiten Schaden zufügen: Crossair-Gründer Suter würde mit belastendem Material konfrontiert, und die früheren Swissair-Spitzen müssten ihre Überwachungsmethoden rechtfertigen. So weit dürfte es allerdings kaum kommen. Swissair-Liquidator Karl Wüthrich sagt: «Für unsere Arbeit hat dieser Ordner keine Priorität.» Seine Aufgabe sei es, die finanziellen Ansprüche der Gläubiger möglichst gut zu befriedigen. Schon dies gibt ihm mehr als genug zu tun.