Es ist der 9. März 2001, ein Freitag. Lukas Mühlemann, Chef der Credit Suisse und Swissair-Verwaltungsrat, ist nervös an diesem Tag. Mehrmals kontaktiert er telefonisch den Swissair-Präsidenten Eric Honegger. Mit gutem Grund: Mühlemann verfügt über Informationen, dass die Sonntagspresse Bescheid weiss über den Geschäftsabschluss des Swissair-Konzerns fürs Jahr 2000 und also über milliardenschwere Verluste. Die Informationslecks im Hause sind nicht mehr zu kontrollieren, seit in der Teppichetage der Swissair die Manager reihenweise das Weite suchen – zuletzt, erst zwei Tage zuvor, Moritz Suter als Fluggesellschaften-Chef. Es bestehe die Gefahr, so Mühlemann zu Honegger, dass der Verwaltungsrat durch die Schlagzeilen «öffentlich abgesetzt» werde. Deshalb, folgert Mühlemann, müsse der beschlossene gestaffelte Rücktritt des gesamten Swissair-VR, inklusive seines Präsidenten Honegger, aber mit Ausnahme von Corti, noch am selben Tag kommuniziert werden. Honegger opponiert, doch der Bankier bleibt hart: Die beiden beschliessen, gleichentags «ein Communiqué über den gestaffelten Rücktritt ohne weiteren Kommentar» zu publizieren sowie «ein längeres erläuterndes Interview am nächsten Tag in der ‹Neuen Zürcher Zeitung›», wie Honegger später in seinen Gedächtnisnotizen über jene dramatischen Tage festhält. Es trifft sich gut, dass Honegger auch den NZZ-Verwaltungsrat präsidiert. Das Weltblatt von der Falkenstrasse titelt anderntags über dem Honegger-Interview: «Wir stehen zu unserer Verantwortung.»
Mit dieser Ouvertüre beginnt ein Hickhack, bei dem niemand mehr zu wissen scheint, ob es sich nun um einen Rücktritt oder eine Kündigung des Präsidenten gehandelt hat. Vor allem wirft dies ein Schlaglicht auf den Start von Mario Corti als CEO der Swissair.
«SAir-Schock: Jeden Tag sieben Millionen Verlust», titelt die «SonntagsZeitung» am 11. März 2001 auf der Frontseite, und die Indiskretion aus dem Innersten des Swissair-Konzerns löst am Balsberg, dem Hauptsitz der Swissair, hektische Betriebsamkeit aus. Kaum hat Mühlemann die Schlagzeile gelesen, kabelt er dem Präsidenten Honegger und teilt ihm seine Einschätzung mit. Die Position des Präsidenten werde schwierig, meint der Banker zum Präsidenten, und er, Mühlemann, glaube nicht, dass Honegger die anstehende Bilanzpressekonferenz im Amt überstehen werde.
Kaum ist dieses Telefonat beendet, meldet sich Mario Corti bei Honegger, und auch dieses Gespräch hat der Präsident protokolliert: «Der Druck wachse auf ihn (Mario Corti, d. Red.), das Präsidium zu übernehmen. Er überlege sich zwei Szenarien: Entweder teile er der Öffentlichkeit jetzt mit, dass er auf die GV 2002 ebenfalls zurücktrete, oder er übernehme die Funktion von Präsident und CEO per sofort.»
Zwei Tage später meldet sich Thomas Schmidheiny, Vizepräsident des Swissair-VR, bei Honegger und bittet diesen, sich am 15. März um 20 Uhr im CS-eigenen Hotel Savoy Baur en Ville am Zürcher Paradeplatz zu einer ausserordentlichen VR-Sitzung einzufinden. Es gehe um eine Aussprache über die Swissair.
Es ist Schmidheiny, der Honegger an diesem Donnerstag in der «Savoy»-Lobby in Empfang nimmt und «in einen separaten Raum führt», wie sich Honegger später erinnert. Der Zementindustrielle teilt ihm mit, dass der VR ohne Wissen des eigenen Präsidenten entschieden habe, das Angebot von Mario Corti anzunehmen und diesen als Präsidenten und CEO einzusetzen. Dies, meint Schmidheiny, sei auch auf Druck der Banken geschehen. Für Honegger heisst dies, dass er soeben seinen Präsidentenjob verloren hat. Im Protokoll über diese Sitzung liest sich das dann folgendermassen: «Der VR nimmt formell Kenntnis vom vorzeitigen Rücktritt von Eric Honegger als VR-Präsident per GV 2002. Der VR bedauert, dass der Rücktritt nicht vorgängig im Plenum besprochen werden konnte, sondern nur gewissen Mitgliedern telefonisch mitgeteilt wurde. Honeggers Entscheid stellt den VR vor ein Fait accompli. Damit entsteht ein unhaltbares Führungsvakuum an der Spitze des Konzerns, und dies in der schwierigsten Situation der Unternehmensgeschichte. Der VR erachtet das als untragbar und sieht sich gezwungen, mit Honegger über eine vorzeitige Ablösung zu sprechen. Bei der dahin gehenden Diskussion ersucht der VR Mario Corti, sich zur Übernahme des Präsidiums bereit zu erklären. Corti erläutert die Bedingungen, unter denen er dies tun würde:
1. Sofortige Ablösung von Honegger als Präsident und Rücktritt als Mitglied des VR per GV 2001.
2. Eric Honegger äussert sich ab sofort nicht mehr öffentlich zu den Angelegenheiten der SAirGroup.
3. Mario Corti wird sofort Präsident und Delegierter des VR.
Das wird den Medien am 16. März 2001 um 7.30 Uhr mitgeteilt. Obwohl Honegger bereit gewesen wäre, sein Mandat bis zur GV 2002 weiterzuführen, bringt er dem Entscheid des VR, ihn vorzeitig abzulösen, unter den gegebenen Umständen Verständnis entgegen und akzeptiert ihn. Der VR beschliesst, die von Mario Corti gestellten Bedingungen zu akzeptieren und ernennt ihn geschlossen zum neuen Präsidenten.»
So weit das offizielle VR-Protokoll. In einer Chronologie der Ereignisse, die Honegger Tage später zu Papier bringt, widerspricht der geschasste Präsident dieser Darstellung: «Die beiden letzten Abschnitte des Protokolls sind falsch. Eric Honegger hat seiner Ablösung gegenüber weder ‹Verständnis entgegengebracht› noch diesen Entscheid ‹akzeptiert›. Das Gegenteil ist der Fall. Eric Honegger hat Wert darauf gelegt, dass er gegen seinen Willen entlassen wird.» Die Konfusion am Balsberg ist nun perfekt. Niemand vermag nun mehr genau zu sagen, ob der Präsident per GV 2002 gekündigt hat oder per sofort entlassen worden ist – und von dieser Frage hängt ab, wie viel Geld Honegger aus seinem auf fünf Jahre befristeten Arbeitsvertrag vom 6. Dezember 2000 zusteht.
Dumm nur, dass von jener Sitzung, als der gestaffelte Rücktritt des VR beschlossen wurde, kein ordentliches Protokoll existiert, sondern lediglich eine Notiz, die Honegger im Nachhinein der Sekretärin des VR diktiert hat. Darin heisst es: «Niemand stört sich daran, dass von dieser Rücktrittsaktion auch der Präsident erfasst ist.» Es ist die Verwaltungsrätin und FDP-Politikerin Vreni Spoerry, die rund drei Wochen später eine Protokollkorrektur dieser Aussage verlangt, weil diese nicht «den effektiven Ablauf der Sitzung» wiedergebe. Darin heisst es: «Lukas Mühlemann pflichtet Vreni Spoerry bei und plädiert für einen gestaffelten Rücktritt mit einem Abstand von einem Jahr. Danach verbleiben der Präsident und Mario Corti im Amt.»
In diesem Klima der allgemeinen Auflösung am Balsberg fungiert Mario Corti als letzter Mohikaner, der die Wahl hat, entweder das sinkende Schiff als Letzter ebenfalls zu verlassen oder aber sich sichtbar auf die Kommandobrücke zu stellen. Bevor er den Job annimmt, bespricht er sich mit Rainer E. Gut, dem mächtigen Nestlé-Präsidenten, und Peter Brabeck. Schliesslich entscheidet er sich für die Swissair und gegen den vergleichbar geruhsamen Lebensjob als Finanzchef bei Nestlé. Und in seinem Selbstverständnis setzt sich Corti nicht als harter Sanierer ins Cockpit der Swissair, sondern als einer, der eine äusserst prekäre Situation organisch zu managen hat: Der neue Präsident «erhält vom VR den umfassenden Auftrag, Ausrichtung und Struktur der SAirGroup neu zu ordnen. Der Kern der neuen Führungsstruktur wird an der VR-Sitzung vom 24. März besprochen und verabschiedet», heisst es im entsprechenden VR-Protokoll.
Als Corti den Job antritt, verfügt er über keinen Arbeitsvertrag – so wie sich am Balsberg die Ereignisse überstürzen, sind selbst Routineprozesse der Human-Resources-Abteilung nicht mehr gewährleistet. Der Vertrag wird später in Genf aufgesetzt und von den beiden Vizepräsidenten Thomas Schmidheiny und Bénédict Hentsch unterzeichnet. Er sieht eine fünfjährige Laufzeit bis März 2006 und eine Entschädigung von rund zwölf Millionen Franken vor – ungefähr so viel, wie Corti bei Nestlé verdient hat. Hinzu kommen Optionen auf Swissair-Aktien im Wert von rund vier Millionen Franken; heute wertlose Papiere, welche die Swissair seinerzeit bei einer Bank gekauft hatte. Ein weiterer Passus des Vertrags betrifft eine Immobilie im Besitz von Mario Corti, die auf einen Investitionswert von rund 4,5 Millionen Franken geschätzt worden ist. Diese ist seinerzeit von der Swissair übernommen worden. Inzwischen ist sie vom Swissair-Liquidator Karl Wüthrich verkauft worden, der Erlös fliesst in den Nachlass.
Dies bedeutet zweierlei: Zum einen hat Mario Corti effektiv jene rund 12 Millionen Franken erhalten und nicht über 20 – die addierte Summe aus Lohn, Optionen und Wert des Provatdomizils –, wie kolportiert wird. Zum anderen hat der letzte Präsident der Firma persönlich wohl an eine Zukunft der Swissair geglaubt. Andernfalls hätte die Annahme von Optionen keinen Sinn ergeben.
Bleibt die Frage, warum sich der Präsident diese Summe hat im Voraus auszahlen lassen. Aufschluss geben könnten dabei die bei der Staatsanwaltschaft liegenden Akten. Dort heisst es sinngemäss, dieser Vorschlag sei von einer hoch gestellten Persönlichkeit von ausserhalb des Swissair-Verwaltungsrates gekommen – es könnte der damalige Nestlé-Präsident Rainer E. Gut gewesen sein –, die ein solches Vorgehen damit begründet haben soll, dass sich ein VR per definitionem selber konstituiere und deshalb der Präsident stets gefährdet sei, abgewählt zu werden. Insofern stelle dies eine Schutzklausel in einer Turn-around-Situation dar, die obsolet würde, fände Corti während der Laufzeit des Vertrags einen gleichwertigen Job.
Am 30. Juni 2003 hat der letzte Präsident der Swissair die Amtsgeschäfte an den Liquidator Karl Wüthrich übergeben. Seither ist Mario Corti ohne Beschäftigung.