Das Spiel läuft in jeder Branche gleich. Bevor die Verhandlungsrunde zu einem neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) startet, rasseln Arbeitgeber und Gewerkschaften routiniert mit ihren Säbeln, drohen indirekt mit GAV-Austritt und Bruch des Arbeitsfriedens. An solche Geplänkel ist sich auch der Verband der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (Swissmem) gewöhnt, der seit Mitte August in GAV-Verhandlungen steckt. Was die Verbandsoberen in Unruhe versetzt, ist ein neues Phänomen mit versteckter Sprengkraft: Ein wachsender Teil der Arbeitgeber lehnt die Idee der Sozialpartnerschaft ab, in der kein Detail dem Zufall überlassen wird. Gleichzeitig wird der Ruf nach Selbstbestimmung - speziell bei den Arbeitszeiten (siehe Kasten) - immer lauter.
*GAV vorsorglich gekündigt*
Heute unterstehen laut Swissmem 611 Firmen via Mitgliedschaft beim Teilverband ASM dem GAV. Gemäss Recherchen der «HandelsZeitung» in Arbeitgeber- und Angestelltenkreisen dürften mindestens zwischen 10 und 15% dieser Unternehmen, vor allem KMU, ernsthaft über einen GAV-Austritt diskutieren. Zwischen fünf und sieben Betriebe haben die vorsorgliche Kündigung beim Verband eingereicht. Mindestens ebenso viele haben den Austritt in Aussicht gestellt, falls der neue GAV keine Flexibilisierung der Arbeitszeiten bringe. Damit behalten sich diese Betriebe vor, je nach Verhandlungsergebnis dem ASM den Rücken zu kehren oder doch Mitglied zu bleiben.
*Branche zeigt auf Konzerne*
Welche Betriebe abzuspringen gedenken, wollen die GAV-Verhandlungsparteien nicht kommentieren. «Wir haben für die Dauer der Gespräche Stillschweigen vereinbart», sagt Swissmem-Direktor Thomas Daum. In Angestelltenkreisen dagegen werden mehrere Namen herumgeboten, am häufigsten die börsenkotierten Unternehmen Swiss Steel, Schindler und Dätwyler. Die drei Konzerne beschäftigen hier zu Lande gegen 5000 Mitarbeiter. Zum Vergleich: Die MEM-Industrie zählt schweizweit über 300000 Angestellte.
Swiss-Steel-CEO Marcel Imhof bestätigt die Austrittsgerüchte rund um sein Unternehmen mit Sitz in Emmenbrücke nicht, sagt aber: «Ein Gesamtarbeitsvertrag muss für alle vertretbar sein. Man darf vom Prinzip der Flexiblität nicht abrücken, denn wer mit einem sturen Zeitsystem arbeitet, der hat es auf dem international geprägten Markt schwer.» Weil das Ergebnis der GAV-Runde noch ungewiss ist, würden «manche Unternehmen» (Imhof) darüber nachdenken, wie und ob man mit dem GAV weiter umgehen will. Vom Aufzugshersteller Schindler meldete sich Mediensprecher Riccardo Biffi, der die Gerüchte um einen GAV-Austritt vehement zurückwies.
Dätwyler mit Sitz in Altdorf liess verlauten, dass ein definitiver Rückzug vom GAV per Ende 2005 nicht beschlossen worden sei. Der Mischkonzern, der in der Schweiz 1855 Angestellte beschäftigt, aktivierte allerdings eine Sonderregelung: Das Personal an den Urner Standorten Altdorf und Schattdorf muss in diesem Jahr bei gleichem Lohn 42 statt 40 Stunden arbeiten, weil sich Dätwyler Ende 2004 auf den Krisenartikel berufen hatte. Dieser Passus im noch gültigen GAV erlaubt angeschlagenen Unternehmen, die Arbeitszeit befristet zu erhöhen, wenn dadurch Jobs gerettet werden.
Kein ASM-Mitglied kehrt dem GAV freiwillig den Rücken. Vielmehr zwingt der seit Jahren massiv steigende Wettbewerbsdruck die Betriebe, immer flexibler zu agieren. Mit Sehnsucht schielt so mancher Schweizer MEM-Betrieb nach Asien oder Osteuropa, wo die Angestellten (noch) flexibel eingesetzt werden können und ein Vielfaches weniger kosten. Die Versuchung, die Aktivitäten in der Schweiz zu reduzieren oder gar ganz einzustellen, ist in der international ausgerichteten MEM-Industrie gefährlich hoch: Gegen 80% der Umsätze oder umgerechnet 59 Mrd Fr. generiert die Branche auf dem internationalen Markt. Der Branchenverband Swissmem appellierte an die übrigen Verhandlungsparteien, an einem Strick zu ziehen - um der Zukunft des Industriestandorts Schweiz willen. Womöglich verhallen die Aufrufe ausgerechnet in den eigenen Reihen ungehört.
Stellvertretend für manchen Schweizer MEM-Betrieb steht der mittelständische Maschinenbauer, der nicht namentlich erwähnt werden möchte. Die Unternehmensgruppe generierte 2004 rund 90% des Umsatzes auf dem internationalen Markt, wo sie sich dank den ausländischen Töchtern erfolgreich gegen den Hauptkonkurrenten aus den USA behauptete. Düster siehts in der Schweiz aus: «Ohne höhere Arbeitszeiten kündigen wir den GAV», so der Unternehmer. «Oder nutzen unsere Chance und verlagern auch noch die letzten Produktionsstätten ins Ausland, wo die Bedingungen günstiger sind.»
Wachsende Teile der Industrie fordern mehr Selbstbestimmung bei den Arbeitszeiten. Der Druck auf die GAV-Runde ist hoch wie noch nie.
Von ALICE CHALUPNY
am 30.08.2005 - 19:53 Uhr
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