Es begann mit einer heruntergekommenen Ölmühle am Stadtrand von Bombay. Als Jamset Nusserwan Tata diese 1868 erwarb und in eine Baumwollspinnerei umbauen liess, hätte keiner in Indien auch nur eine Hand voll Reis darauf gewettet, dass aus einer derartigen Klitsche einmal eines der mächtigsten Wirtschaftsimperien des Landes hervorgehen würde. In den 135 Jahren seither haben sich die Nachfahren des Dynastiegründers kaum eine Geschäftschance entgehen lassen. Aus der Baumwollmanufaktur in den Suburbs von Bombay ist ein Firmenkonglomerat gewachsen, das heute über zehn Milliarden US-Dollar umsetzt: Indiens zweitgrösster und mit Abstand renommiertester Mischkonzern. Die Unternehmen der Tata-Gruppe walzen Stahl, bauen Lastwagen und PKWs, pflanzen Tee an, vermarkten Strom, Saatgut und Dünger, produzieren Kühlschränke, Uhren und Klimaanlagen, sind in der Telekommunikation und im Versicherungswesen präsent, betreiben Warenhäuser und eine Luxushotelkette und beherrschen die Softwareproduktion genauso wie das IT-Beratungsgeschäft.
Ähnlich wie die Wallenbergs in Schweden oder die Oppenheimers in Südafrika hat dieser ursprünglich aus Persien eingewanderte Industriellenclan die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Subkontinent in schier unglaublichem Ausmass geprägt. Sämtliche Aktivitäten zusammengenommen, erwirtschaften die Tatas mit derzeit 220 000 Angestellten rund zweieinhalb Prozent des nationalen Bruttoinlandprodukts.
Bemerkenswert ist der überproportionale Einfluss der Familie nur schon deshalb, weil sie zu einer vom Aussterben bedrohten Minderheit gehört, die auf den Religionsstifter Zarathustra zurückgeht. Die so genannten Parsen oder Feueranbeter sind dafür bekannt, dass sie ihre Toten nicht etwa beerdigen oder verbrennen, sondern unter freiem Himmel den Geiern zum Frass überlassen. Je nach Schätzung huldigen rund um den Globus heute nur noch maximal 100 000 Menschen dieser exotisch wirkenden Glaubensrichtung. Über die Hälfte davon – unter ihnen die Tatas – hat sich in der Handelsmetropole Bombay niedergelassen.
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Entwicklungspolitische Pionierarbeit leisteten die Tatas bezeichnenderweise im Bereich der Schwerindustrie, wo Feuer und Hitze dominieren. Von der «zivilisierten» Welt belächelt, liess Jamset Tata (1839–1904) nach Eisenerz- und Kohlevorkommen schürfen und betrieb mit aller Energie den Plan, das erste Stahlwerk auf dem Subkontinent zu errichten. Die Verwirklichung seines visionären Vorhabens, das den indischen Agrarstaat gleichsam ins Industriezeitalter katapultierte, erlebte «Jamsetji», wie er von seinen Nachfahren liebevoll genannt wird, nicht mehr. Erst drei Jahre nach seinem Tod gründete sein Sohn Dorab die Tata Iron and Steel Company (Tisco) und liess zweihundert Kilometer westlich von Kalkutta ein komplettes Stahlwerk samt zugehörigen Arbeiterquartieren buchstäblich aus dem Dschungel stampfen.
Beim Besuch in besagter Retortensiedlung, die inzwischen 700 000 Einwohner zählt, wird deutlich, was den Tata-Konzern nebst seinem aussergewöhnlichen Diversifikationsgrad weltweit so einzigartig macht. Ganz Jamshedpur (so viel wie: Jamsetstadt) ist gewissermassen eine natürliche Verlängerung des hier seit 95 Jahren ansässigen Stahlwerks. Von der Quartierbibliothek über das Fussballstadion bis hin zum kommunalen Friedhof wird alles von Tata Steel unterhalten und aus deren laufenden Überschüssen bezahlt. Die gesamte Stadtbehörde mit über eintausend Angestellten und ein modernes 850-Betten-Spital mit integrierter Notfallstation stehen auf der Ausgabenliste des Konzerns. Der Staat beschränkt sich auf die Rolle des Nachtwächters, wobei zu präzisieren bleibt, dass in Jamshedpur selbst die örtlichen Polizeikräfte in Tata-Quartieren untergebracht sind. Wo sonst auf der Welt wird das Verlangen nach einer umfassenden Corporate Social Responsibility derart auf die Spitze getrieben?
Bei allem Respekt für den pfleglichen Umgang mit sämtlichen Stakeholdern sehen Kritiker in der ostindischen Tata-Enklave denn auch einen Klumpfuss, dessen sich der Konzern auf seinem Weg in die Moderne längst hätte entledigen sollen. Wegdiskutieren lässt sich jedenfalls nicht, dass Tata Steel in einem Industriezweig operiert, der rund um den Globus von gigantischen Überkapazitäten gekennzeichnet ist. Auf lange Sicht scheint es schwierig, nur schon die in der Produktion anfallenden Kapitalkosten zu decken. Und dennoch ist die Gruppe entschlossen, an Tata Steel festzuhalten: «Es gibt für uns keine Möglichkeit, aus der Stahlproduktion auszusteigen», sagt Chairman Ratan Tata (65), der in den USA Architektur studiert hatte, bevor er 1962 nach Indien zurückkehrte und in den Fabriken von Jamshedpur seine Laufbahn begann. «Wir beschäftigen in diesem Bereich nicht nur 46 000 Personen, sondern betreiben eine ganze Stadt. Unser soziales Gewissen hindert uns daran, gewisse Dinge zu tun, die wir unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten eigentlich längst hätten tun müssen».
Dank rigorosen Kostensenkungsmassnahmen gehört die Gesellschaft immerhin zu den weltweit günstigsten Stahlproduzenten. Um dies zu erreichen, mussten die Tatas in den vergangenen Jahren über ihren eigenen Schatten springen und ausgerechnet das tun, was nur schlecht zum Wohltäterimage ihrer Firmengruppe passen will: Seit Mitte der Neunzigerjahre wurden bei Tata Steel 30 000 Stellen abgebaut und gleichzeitig zwei Milliarden Dollar in die Modernisierung der Produktionsanlagen investiert. Ausserdem wird laufend nach Diversifikationsmöglichkeiten gesucht, die es der Firma erlauben sollen, in wertschöpfungsintensivere Bereiche vorzudringen. Dazu gehören etwa der geplante Einstieg in die Titan-Gewinnung oder das Projekt einer Ferrochrom-Anlage in Südafrika.
Als Ratan Tata 1991 im Familienkonglomerat den Vorsitz übernahm, konnte von einem Konzern im üblichen Wortsinn noch keine Rede sein. Tata Sons, die Dachgesellschaft, glich einer lockeren Investment-Gesellschaft ohne strategischen Zugriff auf die verschiedenen Unternehmenstöchter. Die Manager der Gruppengesellschaften agierten betont autonom und führten die ihnen anvertrauten Firmen wie kleine Fürstentümer. «Es gab ein erhebliches Risiko, dass die Gruppe auseinander driften würde», erinnert sich Tata. Um den führungslosen Zustand zu beenden, hatte er nach seiner Ernennung zum Chairman zunächst gar keine andere Wahl, als den Einfluss diverser Lokalfürsten mit harter Hand zurückzubinden.
Des Weiteren unterzog Ratan Tata das Firmenportefeuille einer tief greifenden Bereinigung: Geschäftszweige wie Ölförderung oder Zement, die keine Aussicht boten, in ihrem Bereich zu den Top-Performern vorzustossen, wurden verkauft; umgekehrt wurde eine Reihe von Aktivitätsfeldern wie Detailhandel oder Versicherungswesen neu erschlossen. Übrig blieben 85 Gesellschaften in sieben mehr oder weniger scharf umrissenen Tätigkeitsbereichen, um die sich gegenwärtig alles gruppiert.
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In den zwölf Jahren seiner Amtszeit haben sich die gruppenweiten Verkäufe von zwei auf heute über zehn Milliarden Dollar verfünffacht. Ihre Ambitionen auf einen Platz in der Global League hat die Tata-Gruppe im Frühjahr 2000 erstmals durchschimmern lassen: Für 390 Millionen Dollar verleibte sich der Industriekoloss aus Bombay den englischen Teebeutel-Multi Tetley ein – hinter Unilever (Lipton’s) die Nummer zwei auf dem Weltmarkt. Strategisch gesehen macht die Übernahme Sinn. In Indien und Sri Lanka besitzen die Tatas 55 Teeplantagen mit einer Gesamtfläche von 26 500 Hektaren. Bei der Vermarktung ihrer jährlichen Ernte von 60 Millionen Kilogramm Schwarztee taten sie sich aber zusehends schwer und vermochten Tata Tea insbesondere im Ausland nie als eigenständige Marke zu profilieren.
Mit der Akquisition der dreimal grösseren Tetley entstand die erste vertikal integrierte und global tätige Teefirma der Welt. Der Abhängigkeit von den zyklischen Rohwarenmärkten konnte damit wirkungsvoll begegnet werden. Am meisten hat an der Transaktion allerdings fasziniert, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus ein auf dem Subkontinent domiziliertes Unternehmen dabei als Käuferin einer grossen internationalen Gesellschaft aufgetreten ist. «Wie Kolonialherren werden wir uns sicher nicht aufspielen», beruhigt ein Kadermann von Tata Tea. «Alle Topmanager von Tetley sind noch im Amt.»
Akquisitionsgelüste im Ausland werden auch der zur Einflusssphäre der Tata-Familie gehörenden Hotelgruppe Taj Hotels, Resorts and Palaces nachgesagt. 50 Vier- und Fünfsternehäuser an 34 Standorten auf dem Subkontinent gehören dazu, wobei als Flaggschiff das «Taj Mahal» in Bombay hervorsticht. Jamsetji, der umtriebige Firmengründer, liess das luxuriöse Etablissement Ende des 19. Jahrhunderts errichten, nachdem er – gemäss einer unverbürgten Anekdote – in einem den englischen Kolonialherren vorbehaltenen Hotel vom Portier abgewiesen worden war. Diese Kränkung, so heisst es, soll er zum Anlass genommen haben, mit dem «Taj Mahal» «das beste Hotel östlich von Suez zu bauen, in dem alle Rassen und Klassen willkommen sind».
Doch seien wir ehrlich: Weder bei der globalen Vermarktung von Teebeuteln noch im Hotelleriebereich liegt für die Tatas die eigentliche Herausforderung. Entscheiden wird sich ihre Zukunft bei der Softwareentwicklung und den davon abgeleiteten Dienstleistungen sowie in der zukunftsträchigen Telekommunikation – zwei Bereiche, in denen die Familie ebenfalls munter mitmischt.
Als Juwel im Gruppenportefeuille gilt die Tata Consultancy Services (TCS), das grösste Softwarehaus Asiens. Im letzten Geschäftsjahr vermochte das schnell wachsende Unternehmen, das Niederlassungen in 32 Ländern unterhält und über 24 000 Mitarbeiter beschäftigt, seinen Umsatz um über 20 Prozent zu erhöhen und damit erstmals über die Ein-Milliarden-Dollar-Grenze vorzustossen. Die beiden wichtigsten Konkurrenten auf dem Heimmarkt – Wipro und Infosys – lässt TCS damit klar hinter sich. «Wir sind ausserordentlich stolz, diesen Meilenstein erreicht zu haben, und betrachten ihn als entscheidenden Schritt hinsichtlich unserer Vision, am Ende dieser Dekade zu den zehn führenden IT-Beratungsfirmen auf der Welt zu gehören», freut sich der Chef von TCS, Subramanium Ramadorai, und gibt damit das weitere Marschtempo vor.
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TCS tritt längst nicht mehr nur als reiner Softwareprovider in Erscheinung, sondern profitiert vom zunehmenden Bedürfnis multinationaler Gesellschaften, Backoffice- oder Helpdesk-Funktionen in Niedriglohnländer wie Indien auszulagern. Die digitale Revolution macht es möglich: Arbeitsintensive Dienstleistungen wie diejenigen in einem Call-Center werden heute ortsunabhängig erbracht und auf elektronischem Weg an die Kunden geliefert. 60 Prozent der Software- und Dienstleistungsexporte von TCS gehen in die Vereinigten Staaten, wo die Gesellschaft zu den am schnellsten wachsende IT-Beratungsfirmen zählt.
Die Tata-Gruppe will von diesem Schwung profitieren und TCS in den kommenden Monaten an die Börse bringen. Kritische Zungen bemängeln zwar, eine Publikumsöffnung komme viel zu spät, denn auf dem Höhepunkt des Börsenbooms wäre TCS gut und gerne mit 20 Milliarden Dollar bewertet worden. Bei der heutigen Marktverfassung rechnen Investment-Banker indessen «nur» noch mit einer Kapitalisierung in der Grössenordnung von sieben Milliarden Dollar, was allerdings immer noch deutlich mehr wäre, als die 29 an der Börse von Mumbai kotierten Tata-Gesellschaften derzeit gesamthaft auf die Waage bringen. Um sich für die Zukunft nichts zu verbauen, haben sich die Konzernverantwortlichen für ein schrittweises Vorgehen entschieden: «Zunächst werden wir dem Publikum nur 10 bis 15 Prozent unserer Aktien offerieren», erklärt Finanzdirektor Ishaat Hussain. «Eine grössere Tranche würde der indische Markt gar nicht verkraften.»
Den Erlös aus dem Börsengang kann die Industriegruppe gut gebrauchen, zumal Projekte anstehen, die einen immensen Kapitaleinsatz erfordern. Weit über eine Milliarde Dollar hat sich der Industriekoloss seinen Vorstoss in das Zukunftsgeschäft der Telekommunikation bereits kosten lassen; rund doppelt so viel ist für die nächsten fünf Jahre budgetiert. Begonnen hat das kostspielige Abenteuer 1999 mit einer Lizenz für den indischen Gliedstaat Andhra Pradesh. Mittlerweile bietet Tata Teleservices in sechs Bundesstaaten im Süden des Landes Festnetzanschlüsse an und ist damit – hinter der nach wie vor dominierenden Staatsgesellschaft – nach eigenen Angaben der grösste private Anbieter im Land. Im vorigen Jahr hat sich Tata zudem die Kontrolle über VSNL, die ehemalige Monopolgesellschaft für Auslandverbindungen, gesichert. Und im Mobilbereich, wo die rivalisierende Reliance-Gruppe (gemessen am Umsatz heute die Nummer eins in Indien) die Initiative an sich gerissen hat, sind die Tatas ebenfalls, wenn auch bisher nur als Finanzinvestoren, präsent. «Wenn sich dieser Markt erst einmal entfaltet», hofft Ratan Tata, «wird sich der Umsatz unserer Gruppe verdoppeln.»
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Eine weitere Milliardenwette, die über die Zukunft des Konglomerats mitentscheiden wird, läuft im Automobilbereich. Die Lancierung eines vollumfänglich in Indien entwickelten und hergestellten Personenwagens sei wohl «die verrückteste Idee» in der 135-jährigen Firmengeschichte gewesen, glaubt Tata. Viel beissende Ironie musste er deswegen schon über sich ergehen lassen. Der 1998 in Serie gegangene Kleinwagen Indica sei «das Kind, das der unverheiratete Ratan Tata nie hatte», spottete das amerikanische Businessmagazin «Fortune» vor Jahresfrist. Leider sei aus dem Indica aber ein «Problemkind» geworden.
Die aktuellen Absatzzahlen sprechen eine differenziertere Sprache: 2002 konnte die Tata-Gruppe auf ihrem Heimmarkt 70 000 Indica absetzen, was gegenüber der Vorperiode einem Wachstum von über zehn Prozent entspricht. Wenn man weiss, dass sich das Strassennetz auf dem Subkontinent in den nächsten fünf Jahren um mindestens 10 000 Asphaltkilometer ausdehnen wird und die indischen Haushalte gegenwärtig 3,5 Millionen Motorräder pro Jahr nachfragen, lässt sich etwa abschätzen, welch kolossales Verkaufspotenzial das preisgünstige 1,4-Liter-Gefährt aus den Tata-Werkstätten aufweist. Kommt dazu, dass der robuste, in Poona (Maharashtra) produzierte Drittwelt-Flitzer auch im Ausland zunehmend auf Anklang stösst.
«Unser Ziel ist es, eine Viertelmillion PKWs im Jahr zu verkaufen», postuliert der ebenso bestimmt wie zurückhaltend wirkende Chairman. Seiner Vorgabe ein gutes Stück näher gekommen ist Tata mit einem Joint Venture, das er unlängst mit dem britischen Automobilhersteller Rover unter Dach und Fach gebracht hat. Darin verpflichten sich die Briten, in den kommenden fünf Jahren mindestens 100 000 Indica unter eigenem Label in Europa zu vermarkten. Erfolgreich war Tata Engineering bis anhin vor allem mit der Produktion von mittelschweren Nutzfahrzeugen und Lastwagen. In Indien weist das Unternehmen in diesem Segment einen beherrschenden Marktanteil von 65 Prozent auf. Das Fundament dieser Vormachtstellung wurde in einer 15-jährigen Zusammenarbeit mit Daimler-Benz gelegt. Als der Technologietransfer 1969 zu Ende ging, hatten die indischen Ingenieure die Fähigkeit erworben, Nutzfahrzeuge in vollem Umfang zu konzipieren, zu bauen und auch selbstständig zu testen.
Als Konzernlenker sei Ratan Tata bisher «kein besonderes Glück» beschieden gewesen, urteilt das indische Wirtschaftsmagazin «Business Today». Während weniger traditionsreiche Konzerne die Neunzigerjahre genutzt hätten, um in neue Wachstumssegmente vorzudringen, habe dieser einen Grossteil der Dekade damit verbracht, sein Haus in Ordnung zu bringen. Bis er 2007 als Chairman zurücktritt und die Verantwortung statutengemäss in die Hände seines Nachfolgers legt, bleibt gleichwohl noch vieles zu tun. Um den im internationalen Vergleich als behäbig und zu wenig fokussiert wahrgenommenen Mischkonzern zu einem schlagkräftigen Global Player zu machen, erscheint eine deutliche Reduktion der Geschäftsfelder unabdingbar.
«Das früher vorherrschende Gefühl, dass die Tata-Gruppe jede ihrer Gesellschaften ohne Vorbehalt unterstützt, in sie investiert und im Zweifelsfall auch vor dem finanziellen Ruin rettet, wird in Zukunft widerlegt werden», versichert der Chef von Tata Sons, der persönlich nur wenige Prozent von deren Aktienkapital besitzt. Betroffen sind vorab Konzerntöchter, die vor der marktwirtschaftlichen Öffnung Indiens ein Quasimonopol innehatten und heute im Konkurrenzkampf mit aggressiven ausländischen Anbietern stehen. «Ohne Blutvergiessen wird es nicht gehen», gibt der Chairman vor diesem Hintergrund offen zu. «Einige unserer Gesellschaften werden sich nicht an die neuen Rahmenbedingungen anpassen können und deshalb untergehen.»
Davon nicht unbeeinflusst wird die Unternehmenskultur bleiben. Damit aus einer Föderation von mehrheitlich binnenorientierten Einzelgesellschaften ein internationaler Konzern mit konsistenter Strategie geformt werden kann, müssen die Entscheidungswege weiter verkürzt und bürokratische Strukturen beseitigt werden. Auch mit den inzestuösen Kreuzbeteiligungen zwischen einzelnen Gruppengesellschaften gilt es endlich aufzuräumen. Warum sich neben Tata Sons auch noch Tata Steel und Tata Power beim Telefonanbieter VSNL eingekauft haben, ist Aussenstehenden schleierhaft. Genauso wenig scheint es ein schlüssiges Argument dafür zu geben, dass ausgerechnet Tata Chemicals finanziell am Teegeschäft und der gruppeneigenen Vermögensverwaltung partizipiert.
Ob der sympathische Chairman die genannten Pendenzen in seiner zu Ende gehenden Amtszeit noch wird erledigen können? Für Ratan Tata spricht, dass er über all die Jahre hinweg extrem natürlich und bescheiden geblieben ist – sieht man einmal von seiner Vorliebe ab, kleinere Düsenjets und Helikopter zu pilotieren. Im Süden von Bombay wohnt Ratan Tata in einem gewöhnlichen Appartementhaus, er hört in seiner Freizeit klassische Musik, umgibt sich dem Vernehmen nach gerne mit Hunden und Katzen. Am Wochenende zieht sich der ledig gebliebene Architekt mit Vorliebe in ein selbst entworfenes, minimalistisches Strandhaus in der Nähe der westindischen Metropole zurück. «In einem Zeitalter, das vom Berühmtsein besessen ist, bleibt Ratan Tata ein Anachronismus», erklärt Aroon Purie, Chefredaktor von «India Today». «Man weiss nur wenig über ihn, und er möchte, dass es so bleibt.»
Mit der Lancierung des Kleinwagens Indica hat dieser bemerkenswert uneitle Mann immerhin ein Highlight gesetzt, das dafür verantwortlich ist, dass die Marke Tata heute wieder im Trend liegt. Ob er beabsichtigt, als Henry Ford von Indien in die Annalen einzugehen? Eine Vision, die Ratan Tata schon länger umtreibt, betrifft die Konstruktion eines voll funktionstüchtigen Viersitzers für unter 2000 Dollar. «Es ist mein grösster Traum, ein solches Auto in den Jahren, die mir als Chairman noch bleiben, Realität werden zu lassen», sagt er. Wenn Tata dies schafft, steht so viel schon fest: Den Personentransport auf Indiens Strassen würde er damit revolutionieren.