Ein bisschen albern sieht es aus, mit dem Karton vor dem Gesicht, und auch nicht gerade innovativ. Doch die Brille des US-Digitalunternehmens Alphabet bietet Einblicke in eine neue Welt. Zumindest wenn ein Mobiltelefon in das Objekt eingelegt und ein entsprechendes Programm geladen wurde.
Die Linsen schaffen zusammen mit der Applikation des Telefons eine 360-Grad-Umgebung, in der Nutzer mit einer Gondel durch das Gehirn des Menschen fahren, um kranke Nervenzellen zu heilen, Streifzüge durchs nächtliche Paris unternehmen oder ein verwunschenes Haus entdecken können, wo Spukwesen nach ihnen greifen.
Trend Virtuelle Realität
Virtuelle Realität (VR) nennt sich der Trend, dem sich auch in der Schweiz immer mehr Firmen widmen. Anfang Mai gaben sich heimische Startups im Walliser Crans Montana auf dem World Virtuality Forum ein Stelldichein und präsentierten Spiele, Flugsimulatoren und medizinische Innovationen. Namen wie FaceShift, Apelab oder MindMaze zeigen die Orientierung an den USA, wo die bislang führenden Firmen und Investoren der neuen Kunstwelt sitzen.
«2016 sehen viele als Jahr des Auftakts zum grossen Trend Virtual Reality, weil die ersten kommerziellen Brillen am Markt erhältlich sind», sagt Fabiano Vallesi, Analyst bei Julius Bär. So hat der Digitaldienst Facebook die Brille Oculus Rift ebenso auf den Markt geworfen wie der Wettbewerber HTC das Produkt Vive, beide für Spielerlebnisse am heimischen PC. Japans Sony zieht im Herbst mit einer VR-Brille für den Kassenschlager Playstation nach. Doch die Brillen sind nicht gerade billig.
2000 Franken pro VR-Nutzer
Sony bietet die VR-Playstation für 500 Franken an, HTC Vive für das Doppelte. Dazu kommt, dass sich viele Anwender für Oculus Rift und Vive einen leistungsstarken PC zulegen müssen, um die neue Welt in ihren Brillen auch wirklich ohne Ruckeln und Verzerrung sehen zu können. So kommen schnell mehr als 2000 Franken pro VR-Nutzer zusammen. Das wäre zwar für die Hersteller von PC und Notebooks ein willkommenes Konjunkturprogramm.
Doch ob Millionen von Konsumenten bereit sein werden, für das VR-Erlebnis so tief in die Tasche zu greifen, ist ungewiss. «VR wird nicht von heute auf morgen Alltag werden», schätzt Vallesi deshalb und erhält Unterstützung von Palmer Luckey, Erfinder der Oculus-Rift-Brille. Entwickler sollten realistisch sein und nicht den optimistischsten Szenarien von Analysten glauben, sagte er Mitte März einem US-Computerspiele-Magazin. So schnell werde VR nicht zum neuen iPhone aufsteigen.
Facebook und Alphabet geben Gas
Auf Dauer aber könnte ein Milliardengeschäft daraus werden – eine Ansicht, die auch der Julius-Bär-Analyst grundsätzlich teilt: Einige Jahre werde es dauern, bis die neue Technologie alle Kinderkrankheiten überwunden hat. «Doch sie hat ähnlich wie das Smartphone die Chance, langfristig zu einem festen Bestandteil der modernen Lebenswelt der Menschen zu werden.» Damit könnte sie der gesamten Elektronik- und Digitalbranche einen kräftigen Schub verleihen. Einige Schwergewichte bringen sich dafür bereits in Stellung. Facebook und Alphabet forcieren das Geschäft, um neue Absatzkanäle für ihre Dienste zu erschliessen.
Facebook geht es dabei nicht nur um den Verkauf seiner Spezialbrillen, auch wenn dem Social-Media-Riesen vor zwei Jahren das Unternehmen und die Patente gut 2 Milliarden Dollar wert waren. Das ist nur Mittel zum Zweck, die neue Wahrnehmungswelt in die Mitte des digitalen Alltags zu hieven, und erklärt auch, warum CEO Mark Zuckerberg mit Brillen-Konkurrent Samsung Anfang des Jahres eine Kooperation geschlossen hat. Seine Vision: Die Nutzer der Zukunft tragen beim Surfen im Netz VR-Brillen (egal welche und ob vom PC oder Mobiltelefon aus), konsumieren damit Seiteninhalte intensiver oder finden in virtuellen Räumen zum Gespräch oder Spiel zusammen. Durch die erhöhte Nutzungsdauer hofft Zuckerberg, mehr Werbung zu verkaufen.
Virtuelle Verkaufsräume
Nicht nur Kommunikation, auch der Einkauf im Internet kann über VR wesentlich plastischer werden. Internethandelsriese Amazon bastelt bereits an virtuellen Verkaufsräumen, in denen die Nutzer die Produkte auf Herz und Nieren untersuchen und in ihrem virtuellen Zuhause ausprobieren können. Auch Wahrnehmung und Konsum von Sportereignissen, Filmen und Fernsehen könnten sich durch die neue Technologie verändern. So will die britische Premier League mittelfristig Fussballspiele über die Brille anbieten – als sässen die Zuschauer im Stadion auf der Haupttribüne statt auf dem Sofa zu Hause. Das ist weniger etwas für Fussballabende mit Freunden als für die wachsende Zahl von Menschen, die sich Spiele alleine vor dem Fernseher anschauen.
Sollten die Zuschauer eine solche Welt lieben, bieten sich für die grossen Filmgesellschaften wie Time Warner und Walt Disney enorme Chancen für neue Formate und Inhalte. Zuschauer rücken plötzlich mitten ins Geschehen, können verschiedene Perspektiven einnehmen und selber zu Akteuren werden. Neue Schnittstellen zwischen Spielen und Fernsehen sind denkbar. Geht es nach dem Willen der Branche, könnte diese neue Welt schon bald Realität werden.