Wie überzeugt man Menschen davon, Dinge zu wollen, von denen sie gar nicht wissen, dass es sie gibt? Netflix glaubt, dafür eine Formel gefunden zu haben. Der Streaming-Anbieter für Filme und Serien investiert viel Geld, Algorithmen zu entwickeln, die genau dieses Ziel haben.

Das Ergebnis ist ein Computercode, der in der Lage ist, Zuschauern bei der Auswahl von neuen Serien zu helfen, damit sie weiterhin vor ihrem Fernseher, Tablet oder Smartphone sitzen und Netflix weiterschauen.
Der Streaming-Anbieter kann dafür auf eine Vielzahl von Daten zugreifen. Netflix weiss genau, was jeder einzelne Zuschauer sieht, wo er sich befindet, wann er die Wiedergabe abbricht oder wie schnell er eine Serie zu Ende schaut.

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Jeder Fernsehabend bringt mehr Daten

Nutzer können ihre Vorlieben sogar mit einem Daumen nach oben oder unten bewerten. Das sind Daten, die beispielsweise TV-Sendern in dieser Qualität nicht zur Verfügung stehen. Mit jedem Fernsehabend gibt der Zuschauer mehr Daten an Netflix, die wiederum dem Algorithmus helfen, neue Vorschläge zu machen. Dass Netflix seinen Zuschauern aufgrund der bisherigen Historie einfach nur ähnliche Inhalte anbietet, versucht das Unternehmen jetzt zu ändern.

Würden wir unser System auf eine solche Echo-Kammer basieren, wäre das nicht hilfreich«, sagte Netflix-Manager Todd Yellin im Gespräch mit der «Welt». Yellin ist bei Netflix für die Produktentwicklung verantwortlich. Mit Echo-Kammern wird das Konzept umschrieben, dass Menschen aufgrund ihrer Vorlieben nur gleiche Inhalte präsentiert bekommen und somit ihren Horizont nicht erweitern können.

Inhalte jenseits des eigenen Spektrums

Zuschauer bekämen auf der Netflix-Ansichtsseite dann nur romantische Komödien präsentiert, wenn sie vorher eben diese romantischen Komödien geguckt hätten, sagte Yellin. «Das wäre schlecht für uns, weil sie dann nie von dem Inhalt erfahren würden, den wir sonst noch haben.» Deswegen bekämen Nutzer neben anderen Komödien auch romantische Dramen und vielleicht auch eine Auswahl von Science-Fiction-Thrillern präsentiert.

Auf diese Weise werden Zuschauer mit Inhalten konfrontiert, die sie sonst nie in Erwägung gezogen hätten. So soll nach Netflix-Angaben jeder achte Zuschauer vorher nie eine Serie mit Superhelden-Charakteren aus der Comic-Welt von Marvel angesehen haben. Dazu zählen Serien wie «Darvedevil» oder «Luke Cage».

Daten und Algorithmen werden zunehmend wichtiger

Die von Netflix erhobenen Daten bringen immer wieder Überraschungen hervor. So zeigt sich, dass Zuschauer des Gefängnisdramas «Orange is the New Black» und der Comedy-Serie «Master of None» auch den scharfen Humor von Marvels «Jessica Jones» mögen.

Die Daten und Algorithmen werden zunehmend wichtiger für das Unternehmen, um Konkurrenten auf Abstand zu halten. Immer mehr Anbieter drängen mit eigenen Inhalten in den Streaming-Markt. So hat Disney angekündigt, künftig Inhalte anstatt wie bisher über Netflix über eine eigene Plattform zu verbreiten.

Apple will in Videoinhalte investieren

Apple will nach einem Bericht des «Wall Street Journal» eine Milliarde Dollar in eigene Videoinhalte investieren. Auch Google und Facebook haben Pläne, eigene Angebote zu schaffen. Damit wird der Markt der Streaming-Anbieter immer unübersichtlicher. Netflix selbst gibt in diesem Jahr sechs Milliarden Dollar für Filme und Serien aus. Grösster Konkurrent ist Amazon mit seinem Angebot, das allen Nutzern von Amazon Prime zur Verfügung steht.

Auch die Art der Konkurrenten ändert sich für Netflix. Bislang war der Konzern erfolgreich dabei, TV-Kabel-Anbietern in den USA die Kunden abzujagen. Viele Nutzer verzichten aber inzwischen auf kostspielige Kabel-TV-Pakete und schauen ihre Filme bei Streaming-Anbietern wie Netflix.

Netflix im Wettbewerb mit Amazon

Nun muss Netflix auch gegen Technologieunternehmen bestehen, die ihrerseits das Auswerten von Daten beherrschen. Auch Amazon setzt Algorithmen ein, um seinen Kunden Vorschläge zu machen. Netflix bietet weltweit derzeit mehrere Tausend Filme und Serien an.

Um seinen eigenen Produktionen einen Startvorteil zu geben, empfiehlt Netflix diese Serien und Filme bevorzugt. Da sie neu seien, müsse der Zuschauer auf sie aufmerksam gemacht werden, sagte Netflix-Manager Yellin. «Wir nennen das Kaltstart.»

Dieser Artikel erschien zuerst auf der «Welt» unter der Überschrift «Netflix weiss schon genau, was Sie sehen wollen».