Als Fujio Cho 1986 dem ersten Werk Toyotas auf amerikanischem Boden eine Stippvisite abstattete, wurde dem Topmanager eines schnell klar: Es war einfacher, Autos in die Vereinigten Staaten zu exportieren als Konzepte, wie man sie am effizientesten zusammenbaut. «Die kulturellen Unterschiede waren enorm», erinnert sich Cho. «Wir drückten den Arbeitern damals unsere zu Hause bewährten Ablaufdiagramme in die Hand – und dachten, dass sie diese schon verstehen würden. Doch sie waren zunächst ziemlich verwirrt. Sie fragten uns immer wieder: ‹Warum sollen wir das auf diese Weise machen?› Ich war darauf absolut nicht vorbereitet.»
Chos Erinnerungen an den holprigen Start seines Unternehmens in Amerika scheinen Lichtjahre entfernt zu sein. Das Toyota-Werk in Georgetown im US-Bundesstaat Kentucky erreicht punkto Produktivität und Qualitätsstandard heute durchaus das Niveau der Fabriken in Japan. Toyotas Flitzer gehören auf Amerikas Strassen inzwischen zu den beliebtesten Fahrzeugen – von der Stufenhecklimousine Camry über das Luxuscoupé Lexus bis hin zum avantgardistischen Stadtwagen Scion xB. Und während sich einige Automanager in Detroit ein Schmunzeln nicht verkneifen konnten, als Toyota im vergangenen Jahr mit dem Prius das erste serienmässige Auto mit Hybridantrieb vorstellte, sind es heute die Japaner, die zuletzt lachen. Der Prius mit einem Benzin- und einem Elektromotor erwies sich als Verkaufsschlager. Dank überzeugenden Produkten und einem sagenhaften Qualitätsimage gelang es Toyota, ihren Marktanteil in den USA von 6,4 Prozent 1986 auf 12,2 Prozent im vergangenen Jahr auszubauen.
Viele Experten prophezeien, dass Toyota in Kürze an DaimlerChrysler vorbeiziehen dürfte und so in die «Big Three», die Gruppe der drei grössten amerikanischen Autobauer, aufsteigt. Auf dem Weltmarkt hat Toyota den Konkurrenten Ford bereits als zweitgrössten Automobilhersteller abgelöst; angesichts des derzeitigen Tempos könnte Toyota in zwei Jahren General Motors (GM) als neue Nummer eins überholen.
Tatsächlich gilt Toyota vielen Beobachtern heute als der beste Automobilhersteller der Welt. Im vergangenen Jahr stieg der weltweite Verkauf um zehn Prozent auf 7,5 Millionen Fahrzeuge. Dabei hat sich der Konzern längst von der früheren japanischen Gepflogenheit verabschiedet, auf Kosten des Profits Verkäufe und Marktanteile voranzutreiben. Im Geschäftsjahr 2003 stieg Toyotas Gewinn um 67 Prozent auf 10,3 Milliarden Dollar – mehr als die Erlöse von General Motors, Ford, DaimlerChrysler und Volkswagen zusammen.
Aber Fujio Cho denkt nicht daran, angesichts der Erfolge von Toyota und seines eigenen makellosen Leistungsnachweises das Management auf Autopilot zu stellen. Innerhalb der Topetage herrscht die einhellige Meinung, dass Toyota unbedingt weiterwachsen und neue Märkte erschliessen muss, um ihre Innovationskraft auf Dauer zu bewahren. Anlässlich der jüngsten Automobilausstellung in Detroit verwahrte sich Cho, seit 1999 Chief Executive von Toyota, vehement gegen jede Spekulation, Toyota könne es sich ja durchaus erlauben, gelegentlich den Fuss vom Gas zu nehmen. «Wir ziehen hier gewissermassen einen Handkarren den Hügel hoch – wenn man da auch nur für einen kleinen Moment den Griff loslässt, kann er schnell den Hang hinunterpoltern.»
Bei allen Erfolgen bleibt die Übertragung der stromlinienförmigen Produktionsprozesse in den diversen globalen Montagestandorten für den 68-jährigen Cho die grösste Herausforderung. Das hohe Tempo der Internationalisierung erleichtert seine Aufgabe dabei nicht. Lange stand Toyota im Ruf, der bodenständigste unter den japanischen Autobauern zu sein. Heute betreibt Toyota 47 Fabriken in 26 Ländern; 1990 waren es gerade mal 20 Betriebe in 14 Ländern gewesen. Mehr als 70 Prozent der Profite erwirtschaftet der Konzern im Ausland. In den kommenden zwei Jahren ist die Eröffnung weiterer Toyota-Fabriken in Mexiko, Tschechien sowie den USA geplant. Darüber hinaus lancierte das Unternehmen unlängst eine ehrgeizige Offensive, um verloren gegangenes Terrain in China gutzumachen. Während Toyota weltweit neue Fertigungsstrassen eröffnet, werden die Ingenieure dazu angehalten, die Produktionszeiten der neuen Modelle vom Reissbrett bis zur Marktreife weiter drastisch zu verkürzen. Gleichzeitig erhöht der Konzern den Kostendruck auf die Zulieferer. Ziel: Einsparungen in Höhe von zehn Milliarden Dollar jährlich.
Bis dato pflegte der Autohersteller eine Strategie der «lokalen Anpassung» zu verfolgen: Toyota errichtete Fabriken in den jeweiligen Hauptmärkten und baute auf Zulieferketten vor Ort. Diese Sichtweise beginnt sich zu verschieben. Toyotas Management begreift den gesamten Globus heute als einen einzigen integrierten Markt – mit Zulieferern auf allen Kontinenten. Demnach spielt es keine Rolle mehr, ob Fahrzeugteile in Asien, Amerika oder Europa hergestellt werden und auf welchem Kontinent die Endmontage der Fahrzeuge letztlich stattfindet. Die zunehmende Internationalisierung der Produktionsprozesse kommt zu einem Zeitpunkt, da Toyota den Marktanteil im eigenen Land auf 46 Prozent geschraubt hat und die Luxuslinie Lexus erstmals über ein neu etabliertes Händlernetz auch
einer heimischen Klientel anbieten will.
Cho spielt derweil Berichte herunter, gemäss denen er unternehmensweit das Ziel gesetzt habe, bis 2010 einen weltweiten Marktanteil von 15 Prozent zu erobern. «Das ist nichts weiter als eine interne Vorgabe», beschwichtigt er, «unsere Angestellten sollen halt immer daran erinnert werden, noch ein bisschen härter zu arbeiten.» Gleichwohl erweist sich die Ankündigung der Nummer zwei der Branche, ihre Produktion fast überall auf der Welt zu erhöhen, als beispiellose Belastung der legendären Produktionsprozesse. Das Dilemma: Wie kann Toyota das Tempo beibehalten, ohne das eigene unternehmerische Erbgut zu verwässern? Bei Nippons Autobauern galt stets das Glaubensbekenntnis, dass effiziente Produktionsmethoden erlernbar seien. Das Problem, so behauptet Toyotas Führungsriege heute, sei die Tatsache, dass manches eben nicht mehr schnell genug erlernt werden könne.
Die Seele des Produktionsprozesses bei Toyota ist das legendäre Managementkonzept «Kaizen». Sinngemäss beschreibt der Begriff eine ständige Verbesserung, in die Führungskräfte wie Mitarbeiter einbezogen werden. Laut der Philosophie des Kaizen weist nicht die sprunghafte Verbesserung durch Innovation, sondern die schrittweise Perfektionierung und Optimierung des Bewährten den Weg zum Erfolg. Dabei steht nicht der finanzielle Gewinn im Vordergrund, sondern die stetige Bemühung, die Qualität der Produkte und Prozesse zu steigern. So bemüht sich Toyota auch nicht nur unter finanziellen Gesichtspunkten darum, die Warenbestände möglichst gering zu halten. Es geht vor allem auch darum, etwaige Probleme dann aufzuspüren, wenn sie auftreten. Im Zuge von Kaizen hat jeder Arbeiter die Berechtigung, den Produktionsprozess beim geringsten Anzeichen von Unregelmässigkeiten anzuhalten und Ingenieure und Manager zu alarmieren.
In der Tsutsumi-Fabrik in Toyota City produzieren heute 6600 Angestellte in zwei Schichten auf zwei verschiedenen Fertigungsstrassen 500 000 Fahrzeuge in acht Modellvarianten. Dem Besucher bietet sich das Bild eines perfekt synchronisierten Balletts, das in Tausenden von Schritten immer wieder nachjustiert wurde.
Viele Automobilkonzerne haben versucht, die Kaizen-Methode zu übernehmen. Jenen Perfektionsgrad zu erreichen, den Toyota in ihren heimischen Fabriken durchgesetzt hat, ist einfacher gesagt als getan. Der beste Beweis dafür, wie schwierig es ist, den Erfolg von Kaizen zu kopieren, ist ohnehin Toyota selbst: Das Unternehmen hat häufig grosse Probleme, die Erkenntnisse der heimischen Fertigungsstätten auch ausserhalb Japans anzuwenden.
Lange behauptete Toyota, die einzigartige Perfektion in der Fertigung – oftmals als der «Toyota Way» beschrieben – könne nur durch ständige Feinjustierung vor Ort unter der Leitung eines erfahrenen Produktionschefs erreicht werden. «Toyota ist enorm gross geworden», sagt Personalchef Teruo Suzuki, «unsere grösste Herausforderung ist es, die Disziplin von Kaizen überall aufrechtzuerhalten.»
Im ständigen Bemühen, den Transfer von Know-how zu den internationalen Fertigungsstätten zu beschleunigen, richtete Toyota in ihrer Motomachi-Fabrik in Toyota City zuletzt das Global Production Center ein. Auszubildende aus aller Welt werden hier in die Geheimnisse des Kaizen eingeweiht. Ende letzten Jahres etwa wurden 1500 Arbeiter aus Fabriken in China, Malaysia und Indonesien mit den Feinheiten des Produktionsprozesses vertraut gemacht. Neben der praktischen Anweisung werden im Ausbildungszentrum Hunderte von Anleitungsbüchern entwickelt, berichtet Generaldirektor Koichi Ina.
Doch Chief Executive Cho plant auch im Managementbereich Umwälzungen. 2004 beklagte er in einer Rede, Toyota verfüge über eine «viel zu kleine Reservebank an international erfahrenen Managern». Um dieses Manko zu beheben, gründete Toyota jüngst das Toyota Institute, ein innerbetriebliches Zentrum für Weiterbildung und Führungsentwicklung, das in Partnerschaft mit der renommierten Wharton Business School operiert. Für Toyota markiert das Bündnis eine Abkehr von alten Gebräuchen. Bislang vertraute die Unternehmensleitung bei der Besetzung von Spitzenpositionen auf Nachwuchs aus den eigenen Reihen und gab sich ausländischen MBA-Absolventen gegenüber skeptisch.
Fujio Cho will die Prinzipien von Kaizen aus der Fertigung nun auch auf die Managementkultur übertragen. Er will Hierarchieebenen abbauen, um den Entscheidungsprozess zu beschleunigen. Im vergangenen Jahr reduzierte er die Zahl der Direktoren von 58 auf 27. Gleichzeitig soll der Anteil ausländischer Direktoren – derzeit sind es fünf – drastisch erhöht werden. Cho sagt, er wolle eine Managementstruktur implementieren, die so reaktionsschnell sei wie die Ingenieure an den Fertigungsstrassen. «Wenn es irgendwo ein Problem gibt, will ich innerhalb einer Stunde darüber informiert werden.»
Der Toyota-Boss ist ein bescheidener Mann, der den grossen Erfolg seines Unternehmens eher seinen Vorgängern und Mitarbeitern zuschreibt als sich selbst. Er gilt als Macher, immer im Stande, sich schnell wechselnden Bedingungen anzupassen. Cho behauptet, er habe diese Flexibilität während seiner neunjährigen Amtszeit als Generaldirektor in den USA erlernt. Der Produktionsprozess habe dort immer wieder neu angepasst werden müssen. Ihm sei klar geworden, dass «wir eine Menge Dinge nur deshalb taten, weil es von unseren Vorgängern so vermittelt worden war». Das Abenteuer Amerika, so argumentiert Cho heute, «war insofern eine echte Verjüngungskur für die gesamte Firma».
Im Moment steht Toyota wieder vor einer ähnlichen Herausforderung wie damals, diesmal in China, dem am schnellsten wachsenden Automobilmarkt der Welt. Im vergangenen Frühjahr bemerkte Akio Toyoda, Enkel des Firmengründers und Leiter der chinesischen Niederlassung, dass Toyota «so etwas wie der Neuling am Markt» sei. Toyota produziert derzeit nur rund 130 000 Fahrzeuge pro Jahr in China und verfügt über einen Marktanteil von weniger als fünf Prozent – weit hinter Volkswagen, General Motors und Honda. Toyota hofft, bis 2010 die Produktion auf eine Million Einheiten hochzufahren und ihren Marktanteil in China auf zehn Prozent zu steigern. Der Konzern hat sich hier einige Schnitzer erlaubt.
Nach der Annäherung der politischen Beziehungen zwischen Japan und China in den siebziger Jahren hätte sich Toyota eigentlich in der formidablen Position befunden, auf der ersten Welle der Auslandinvestitionen in Chinas Automobilindustrie mitzureiten. Toyota räumte damals indes der schnellen Markterschliessung in den USA höhere Priorität ein. Eine Einladung Beijings wurde ignoriert, die chinesischen Führer fühlten sich beleidigt.
In den neunziger Jahren dann nutzten die Herren in Beijing geschickt den nun fast flehentlichen Wunsch Toyotas nach einem Bündnis mit Chinas staatseigener Shanghai Automotive, nur um am Ende ein besseres Abkommen des Staatskonzerns mit General Motors herauszuschlagen. Danach zauderte Toyota erneut, als nunmehr Chinas zweitgrösster Automobilbauer, Guangzhou Automobile, Avancen machte. Diesmal sprang Honda in die Bresche. 2002 schliesslich, als attraktive Partner langsam zu verschwinden drohten, wurde Toyota mit First Autoworks (FAW) in Changchun handelseinig.
Letzten September verkündete Toyota Pläne, rund 460 Millionen Dollar in eine neue Fabrik zu investieren, um gemeinsam mit Guangzhou Automobile den Camry Sedan zu produzieren. Mit dem eigenen Partner FAW wollen die Japaner das Hybridmodell Prius bauen, das derzeit nur in Japan hergestellt wird. Die Hybridproduktion nach China zu bringen, wäre ein Signal des guten Willens. Die meisten japanischen Hersteller sind nämlich ausgesprochen abgeneigt, Zukunftstechnologien nach China zu exportieren – aus Furcht, sie könnten abgekupfert werden. Andererseits sind die chinesischen Verbraucher (noch) nicht besonders versessen auf umweltfreundliche Automobile. Aber die Bereitschaft zum Technologietransfer markiert allemal eine politische Botschaft. Die Regierung in Beijing ist nämlich sehr daran interessiert, saubere, verbrauchsfreundliche Vehikel zu fördern. Die Machthaber haben angedeutet, dass sie von Toyota nichts anderes erwarten, als ihre besten Technologien mit chinesischen Partnern zu teilen – als Eintrittskarte in den chinesischen Markt.
Die Chinesen sind nicht die einzigen Interessenten für Toyotas Hybridtechnologie. Während seiner Stippvisite in Tokio im November versuchte auch Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger seinen Gesprächspartner Fujio Cho davon zu überzeugen, eine Prius-Fabrik in seinem Bundesstaat zu errichten. Cho konnte sich immerhin zu dem Zugeständnis durchringen, Toyota werde bis Ende des Jahres irgendeine Form des hybriden Fahrzeugs in den USA herstellen – und dass das Unternehmen in den kommenden Monaten über einen geeigneten Standort entscheide.
In der Zwischenzeit strampelt Toyota mächtig, um mit der gewaltigen Nachfrage nach Hybridflitzern in den USA Schritt zu halten. Das Unternehmen verdoppelte das Exportkontingent des Prius nach Amerika zuletzt auf 100 000 Einheiten und führt in Kürze Hybridversionen seines Highlanders und des Lexus-Geländewagens ein. Marktbeobachter kritisieren zwar, Toyota lege für jedes Hybridmodell derzeit noch kräftig Geld drauf. Die frühe Dominanz in diesem Markt und die Aussicht auf sprudelnde Gewinne scheinen aber fürs Topmanagement Anreiz genug zu sein.
Cho lässt keine Gelegenheit aus, seinen Vorgänger und heutigen Chairman Hiroshi Okuda zu loben, Forschung und Entwicklung des Prius beherzt vorangetrieben zu haben. Der unerwartete Erfolg des Hybrids sei ein hervorragendes Beispiel für die Fähigkeit des Toyota-Managements, schnelle Entscheidungen zu treffen. «Wenn wird dies den Forschern und Ingenieuren überlassen hätten, würden wir vermutlich noch immer am Prototyp basteln», schmunzelt der Konzernlenker.
Heute ist es vor allem Fujio Cho selbst, der das Unternehmen unermüdlich vorantreibt. Zwischen 2004 und 2007 verjüngte Toyota fast ihre gesamte Modellpalette, wesentlich schneller als etwa die Konkurrenz aus Detroit. Unterdessen tummelt sich Toyota ungeniert in angestammten (und profitablen) Nischen der US-Autobauer, etwa im Segment der Geländewagen und hubraumstarken Pick-ups.
Zu Hause in Japan übernahm Toyota die Führung bei der Organisation der World Expo, die im März in Aichi eröffnet wird. Der Konzern entsandte einen Topmanager, um beim Bau und bei der finanziellen Planung des neuen internationalen Flughafens von Chubu zu helfen. Der Flughafen ermöglicht es Toyota, Tausende von Managern vom Hauptsitz im verstopftem Tokio nach Nagoya umzusiedeln, wo das Unternehmen ein prächtiges, 47 Stockwerke hohes Verwaltungsgebäude errichtet hat.
Er ist unklar, ob Cho dort noch das Chefbüro beziehen wird, wenn der Komplex in Nagoya 2006 seine Pforten eröffnen wird. Viele erwarten, das er seinen Posten spätestens anlässlich der diesjährigen Hauptversammlung im Juni zur Verfügung stellen wird, um dann vielleicht Okuda in der repräsentativeren Rolle des Chairman zu folgen. Ob mit oder ohne Cho: Es ist zu erwarten, dass Toyota auch in Zukunft mit aller Kraft den sprichwörtlichen Handkarren weiter den Hügel hochziehen wird – und zum nächsten Gipfelsturm ansetzt.