Die Meldung, welche die UBS-Chefs Peter Wuffli und Marcel Ospel ihren Investoren Mitte Oktober zukommen liessen, war von höchster Ebene abgesegnet. Die Eidgenössische Bankenkommission hatte der Bank die Erlaubnis erteilt, ihre Risiken nach einem neuen Modell zu berechnen. Angenehmer Nebeneffekt der neuen Methode: Die Marktrisiken der Bank konnten um rund ein Viertel tiefer als vorher ausgewiesen werden. So weit, so gut. Hat die Bank damit aber ihre Risiken auch wirklich gesenkt? Das nicht.
Das Zauberwort heisst Value at Risk (VaR). Mit diesem Ausdruck bezeichnen Banken den theoretischen Verlust im Handelsgeschäft an einem Handelstag. Bei der UBS betrug er im zweiten Quartal 2004 im Schnitt 126,9 Millionen Franken.
Die Modelle zur Berechnung dieser Risikokennzahl sind von Bank zu Bank verschieden. Die UBS, bekannt für ihre traditionell strikte Risikokontrolle, hat bisher ein besonders strenges und konservatives Berechnungsmodell angewandt. Mit dem Effekt, dass die Risiken im Vergleich zu den anderen Banken eher zu hoch ausgewiesen wurden. Die neuen Zahlen basieren verstärkt auf jenen Methoden, die vor allem die angelsächsischen Banken bereits seit Jahren anwenden.
Die neuen Methoden zur Risikoberechnung können aber über zwei Tatsachen nicht hinwegtäuschen. Erstens: Das Risiko der UBS ist immer noch vergleichsweise hoch – unverändert liegt die UBS im obersten Drittel der Banken mit dem höchsten Value at Risk. Zweitens: Auch die neuen Zahlen zeigen eine klare Zunahme des Risikoappetits der UBS seit 2003.
In den letzten Monaten thematisierte die internationale Presse vom britischen «Economist» bis hin zum deutschen «Spiegel» das generell hohe Risiko-Exposure in der Finanzbranche, das sich in den steigenden Value-at-Risk-Zahlen spiegelt. Immer dabei in den Aufzählungen der «grössten Zocker» («Spiegel»): die UBS. Es waren wenig erfreuliche Bezeichnungen für die UBS, die lange nur positive Schlagzeilen gemacht hatte. Die UBS war schliesslich die Bank, die sich aus fast allen Skandalen der Krisenjahre hatte heraushalten können, Ospel und Wuffli waren die Chefs, die nun schon zwanzig Quartale in Folge eine stabile Performance ausweisen durften.
Das Image einer im Risiko stark exponierten Bank konnte die UBS mit den neuen Zahlen zwar relativieren, aber doch nicht aus der Welt schaffen. Was also sollte das ganze Manöver?
Klar ist, dass die nunmehr tieferen Risiko-Kennzahlen der Bank neuen Spielraum eröffnen, zusätzliche Marktrisiken einzugehen. Diesen Spielraum könnte die Bank in Zukunft durchaus brauchen.
Nur wenige Wochen vor dem Communiqué an die Investoren über das neue Risiko-Rechnungsmodell verkündete der Präsident der UBS, Marcel Ospel, in einem Gespräch mit dem US-Wirtschaftsmagazin «Forbes» grosse Pläne: «Die UBS will die Nummer eins im weltweiten Investment-Banking werden.»
Diese Ambitionen kommen nicht von ungefähr. In der Tat hat der Bereich Investment-Banking der UBS in den letzten drei Jahren eine eindrückliche Erfolgsgeschichte hinter sich. Lange ein Nobody in der Branche, gehört das UBS-Investment-Banking inzwischen zu den top five der Welt. Je nach Quartal stammt bis zur Hälfte des UBS-Gewinns aus dem Investment-Banking. Die lange Zeit vor allem als Private-Banking-Koloss bekannte UBS hat sich in Rekordzeit zu einem fast ebenso stark aufs Investment-Banking fussenden Finanzkonzern entwickelt. Verantwortlich für den Erfolg: Investment-Banking-Chef John Costas, seit rund zwei Jahren an der Spitze des Bereichs. Die Bedeutung, welche die UBS dem Bereich intern zuweist, zeigt sich auch daran, dass Costas im letzten Mai zum stellvertretenden Konzernchef und damit zur Nummer zwei nach Wuffli gekrönt worden ist.
Die grosse Anzahl neuer UBS-Kunden fragt einerseits mehr risikobehaftete Produkte nach, andererseits ist durch die Expansion auch die Risikokapazität der UBS gestiegen. Das Risikokorsett der Bank, geschneidert nach den bitteren Erfahrungen mit dem Milliardenverlust beim US-Hedge-Fund Long Term Capital Management (LTCM) von 1998, wurde für den Wachstumsschub der erfolgreichen Investment-Bank-Tochter fünf Jahre später zu eng. «Wir mussten die Grundsatzfrage klären, wie die UBS damit umgeht, dass sie seit 1998 konsequent die Risiken reduzierte und gleichzeitig eine Investment-Bank in weiten Teilen neu baute», sagt Wuffli.
Die strategische Diskussion über die Risikopolitik fand bei der Bank in der zweiten Hälfte des letzten Jahres statt. Die UBS entschied, ihre Risikolimiten zu erhöhen. «Wir kamen überein zu akzeptieren, dass sowohl die Marktrisiken wie die Kreditrisiken tendenziell zunehmen könnten», so Wuffli. Ende 2003 tat er in einem Interview mit der «Finanz und Wirtschaft» offiziell kund, die Bank wolle «im Investment-Banking mehr riskieren».
Für das Investment-Banking der UBS bedeutete dies zunächst, im Trading die Limiten für Marktrisiken zu erhöhen. Wuffli selber hat an der Halbjahres-Pressekonferenz das Spiel mit dem Risiko folgendermassen beschrieben: «Chancen kommen und gehen: Der Trick besteht darin, die Chancen zu nutzen, wenn sie erscheinen, und Risiken vom Tisch zu nehmen, wenn die Chancen zurückgehen.» Diese Risikobereitschaft ist es, die sich in den höheren Value-at-Risk-Zahlen spiegelt. Vor allem im ersten Quartal 2004 spielte die UBS mit hohem Einsatz – und gewann. Der Handelsertrag stieg deutlich. Im zweiten Quartal reduzierte sie ihren Einsatz etwas, auch dies im Einklang mit der Entwicklung an den Märkten. «Mit der Ertragskraft ist auch unser Risikospielraum gestiegen. Wie wir diesen Spielraum nutzen, hängt von den Marktopportunitäten ab», sagt Wuffli, «das wird täglich und sehr flexibel entschieden.» Wuffli betont, die Grundsätze der UBS seien noch die gleichen wie 1998, nämlich «Diversifikation und grosse Scheu vor konzentrierten, langfristig illiquiden Risiken, um die Volatilitäten unserer Ergebnisse zu minimieren.»
Risiko rein, Risiko raus – es ist ein Spiel mit hohen Einsätzen. Im globalen Börsenhandel ist die UBS Marktführer. Der weltweite Marktanteil beträgt zwölf Prozent, jede neunte Aktie wird also von der UBS gehandelt. Auch im Devisenhandel ist die Bank traditionell stark. Immer noch wichtig ist dabei auch der Eigenhandel. Wie gross der Anteil bei der UBS ist, will sie nicht bekannt geben. Laut Insidern war es noch in den Neunzigerjahren rund die Hälfte. Auch wenn der Anteil inzwischen reduziert worden ist, muss er immer noch beachtlich sein.
Das Problem des Investment-Bankings bei der UBS ist, dass der Handelsertrag immer noch einen Grossteil des Gewinns ausmacht. Will die UBS die Nummer eins der Welt werden, muss sie auch ihre Stellung im klassischen Investment-Banking, also bei Aktivitäten wie Beratungen bei Fusionen und Übernahmen (Mergers & Acquisitions) oder Börsengängen, stärken, vor allem in den USA. Hier steht die UBS heute erst auf Platz sieben.
Das Problem dabei: Diese Marktausweitung ist praktisch nur möglich, wenn die UBS ihren Kunden nebst der Beratung auch Finanzierungen anbieten kann. Die grossen Firmenkunden in den USA suchen sich verstärkt jene Bankpartner, die ihnen auch mit Geld unter die Arme greifen.
Bei solchen Wünschen ist die UBS traditionell sehr zurückhaltend. Denn es besteht die Gefahr, Neukunden mit Krediten zu ködern und so riesige Kreditrisiken in die Bücher zu holen. Markus Granziol, bis Anfang 2002 Chef des UBS-Investment-Bankings, hat den Satz geprägt, Kredite in den Händen von Investment-Bankern seien «wie Bonbons in den Händen von Kindern» (BILANZ 1/2003).
Am Grundsatz, das Investment-Banking nicht auf die Kreditvergabe zu stützen, habe sich nichts geändert, sagt Walter Stürzinger, oberster UBS-Risikochef, «das ist nach wie vor in Stein gemeisselt».
Die Bank bietet ihren Kunden aber vermehrt Finanzierungen an, die durchaus kreditähnlichen Charakter haben. So stellt die UBS ihren Kunden etwa Bridge-Loans (Überbrückungsfinanzierungen) zur Verfügung, gibt dem Kunden also Geld aus der UBS-Kasse, bis dieser selber das nötige Kapital auftreiben kann, oder nimmt bei Restrukturierungen gleich einen Teil der Verpflichtungen der Kunden auf die eigenen Bücher. Es handle sich dabei aber immer um Risiken, die weiterverteilt werden. Laut Wuffli stellt die UBS ihren Kunden Kapitalressourcen zur Verfügung, ohne von ihren Risikogrundsätzen abzuweichen. Er betont auch, dass diese Finanzierungen ausschliesslich im Rahmen von bestehenden Kundenbeziehungen zur Verfügung gestellt werden. Man brauche die Mittel nicht, um Kunden zu ködern, sondern um ihnen «eine möglichst breite Palette von Finanzdienstleistungen anzubieten». Wie auch immer: Mit der Geldvergabe erhöht die UBS tendenziell ihr Risiko für Verluste. Dass sie im Spiel mitmacht, hat viel mit den veränderten Marktgewohnheiten zu tun. Denn auch Konkurrenten wie Citigroup oder Goldman Sachs bieten den Kunden eine breite Palette von Dienstleistungen an, die immer öfter dazu führen, dass den Kunden Geldmittel zur Verfügung gestellt werden.
Das Risiko für die UBS ist dabei aber tendenziell grösser. Citigroup, die in den USA als Universalbank agiert, kennt ihren Kunden in der Regel sehr genau, weil man seit Jahren von der Kontoführung über Liquiditätsfinanzierung, Hypotheken und Anleihen alles für den Kunden macht. Die Chefs der Investment-Bank Goldman Sachs, Nummer eins im US-Markt, wiederum kennen die CEOs der grossen Firmen vor Ort zum Teil schon seit über zwanzig Jahren auf Grund persönlicher Beziehungen.
Newcomer UBS tut das nicht. Investment-Banking-Chef Costas ist auch nach seinem Aufstieg mit der UBS an der Wall Street nicht sehr bekannt. Immer noch geben Stars wie Goldman-Sachs-Topmann Hank Paulson den Takt an.
Kein Wunder, wirbt die UBS die besten Mitarbeiter von der Konkurrenz ab. Doch auch das hat eine Kehrseite: Die kennen zwar die Kunden, sind aber teuer. Dies ist mit ein Grund, dass für die UBS trotz höheren Risiken im klassischen Investment-Banking in den USA unter dem Strich vergleichsweise wenig Geld in der Kasse verbleibt.
Will die UBS das ambitiöse Ziel von Ospel erreichen, die Nummer eins in der Welt werden, kommt die Bank wohl um zusätzliche Finanzierungszugeständnisse an Firmenkunden nicht herum, nicht nur in Amerika, sondern auch in Asien, einem anderen Wachstumsmarkt.
Genau mit Finanzierungen im fernen Ausland hat die Bank in der Vergangenheit aber schlechte Erfahrungen gemacht. Der Bankverein, Vorgängerbank der fusionierten UBS, sah sich Anfang Neunzigerjahre auf einem Berg notleidender Auslandkredite sitzen, die der Bank fast das Rückgrat brachen. Die Verluste in Höhe von Hunderten von Millionen waren mit ein Grund, dass sich der Bankverein 1997 die kapitalkräftige Bankgesellschaft anlachte und mit ihr zur heutigen UBS verschmolz. Die Altlasten und Risikokredite wurden abgebaut.
Dass auch Bridge-Loans ihre Tücken haben können, musste Konkurrent CS schmerzlich erfahren, als ihr US-Partner First Boston 1990 auf einem Pulk von Überbrückungskrediten sitzen blieb, was die CS zuletzt zu einer Kapitalspritze für den Partner von über einer Milliarde Dollar zwang.
Die Frage ist nun, wie die UBS es schaffen wird, die neuen Risiken im Ausland zu managen. Immerhin kann man heute feststellen, dass sich die interne Risikokultur klar verbessert hat. Das Risikomanagement der UBS geniesst einen guten Ruf und blickt auf einen zuletzt fast makellosen Erfolgsausweis zurück. Die internen Risikomechanismen der UBS wurden nach dem LTCM-Debakel von Grund auf neu aufgebaut. UBS-Präsident Marcel Ospel persönlich hat sich immer für eine strikte Risikokontrolle ausgesprochen. Spätestens seit er als Bereichsleiter beim Bankverein 1994 einen grossen Derivateverlust produzierte und seine Karriere dem ersten grossen Test ausgesetzt war, weiss er um das wechselhafte Glück auf den Finanzmärkten.
Laut Guido Giese, Leiter Marktrisiken beim Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen KPMG, zeigt sich die konservative Ausrichtung der UBS auch im guten Ausweis beim so genannten Back-Testing. Bei diesem Verfahren wird im Nachhinein geschaut, wie oft der in den Value-at-Risk-Zahlen ausgewiesene mögliche Verlust denn nun wirklich eingetreten ist. Bei den weniger konservativen Banken ist dies ein- bis zweimal pro Jahr der Fall, bei der UBS ist es in den letzten Jahren kein einziges Mal vorgekommen.
Das Problem bei allen Risikomodellen, inklusive den derzeit so eifrig diskutierten Value-at-Risk-Zahlen, ist aber, dass sie im wirklichen Krisenfall meist nicht viel weiterhelfen. Die Modelle basieren auf den kumulierten Erfahrungen der Vergangenheit. Treten neue, unvorhersehbare Situationen auf wie zum Beispiel die Terroranschläge vom 11. September 2001, die Russlandkrise von 1998 oder der Börsencrash von 1987 brechen oft die Schutzdämme. «Wenn plötzlich eine Krise kommt, dann ist die historische Beobachtung nicht mehr viel wert», sagt Risikoexperte Giese.
Gerade die derzeitige Börsenlage dürfte die Anleger dabei in falscher Sicherheit wiegen. Die Volatilitäten sind im Moment tief, also die Kursbewegungen nach oben und unten nicht besonders markant. Eine solche Börsenlage erlaubt es den Banken, ihre Risikopositionen zu erhöhen, ohne dass sich die Kennzahlen für das Risiko-Exposure erhöhen. Bei tiefen Volatilitäten fliessen zudem die Gewinne an den Börsen weniger. Wenn sich auf den Märkten kaum etwas tut, ja sie sogar wie zuletzt lange seitwärts tendieren, müssen die Banken ihre Handelstätigkeit forcieren, um ihre Eigenkapitalrenditen zu sichern. «Es ist bei der derzeitigen Marktsituation fast nötig, zusätzliche Risiken einzugehen, um zusätzliche Gewinne zu generieren», sagt Christoph Ritschard, Finanzanalyst der Zürcher Kantonalbank. Nur so können die Banker die hohen Renditeerwartungen der Anleger erfüllen.
Nun sind die Volatilitäten im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen generell tief, wie historische Vergleiche zeigen. Dies, weil die Notenbank glättet und weil die Anleger vorsichtig abwarten. Die Erfahrungen aus vielen Jahrzehnten zeigen, das diese Volatilitäten nach dem Entscheid in Washington von Anfang November wieder nach oben gehen werden. Gehen die Banken mit den heutigen, unverändert grossen Risikopositionen in die Nachwahlperiode, wird die Verletzlichkeit grösser.
Wenn der Markt einbricht, sind auch die Limiten nicht mehr viel wert, weil alle Anleger wie die Lemminge gleichzeitig zum Ausgang eilen. Da kommt es dann drauf an, ob und wie schnell man seine Risikopositionen abbauen kann.
Bereits haben die meisten grossen Institute neben ihren öffentlichen Value-at-Risk-Zahlen auch interne «Stresstest»-Zahlen, die durchspielen, was bei tief gehenden Krisen passieren könnte.
Die UBS gibt diese Leitplanken, wie beinahe alle Banken, nicht bekannt, Chief Risk Officer Stürzinger betont aber, die Bank habe sich hier durch mehrere Frühwarnsysteme abgesichert. Der strikte Grundsatz, auch bei steigendem Risikoappetit keine konzentrierten Grossrisiken (wie etwa LTCM) zu halten, sondern das Risiko breit zu diversifizieren, schütze zusätzlich. Wichtig sei es auch, bei den Risiken darauf zu achten, dass sie liquide seien, sich also auch im Krisenfall noch abstossen liessen. Der Chief Risk Officer der UBS räumt ein, dass immer eine gewisse Unsicherheit bleibe. Man könne trotz der inzwischen stark verbesserten Risikosysteme auch mit den besten Risikomodellen nicht alle zukünftigen Entwicklungen voraussehen: «Eine Kristallkugel haben auch wir nicht.»
Das Geschäft mit dem Risiko gehört zum Grundhandwerk des Bankers. Steigende Einsätze bedeuten ja auch Chancen für steigende Erträge. Die zuletzt üppigen Gewinne zeigen, dass sich die UBS-Chefs bis jetzt im Spiel mit dem Risiko keine Fehltritte erlaubt haben. Zeit zum Innehalten habe er allerdings nicht, sagte Ospel jüngst dem «Manager-Magazin». Dafür sei das globale Finanzgeschäft zu risikoreich. Es sei ein ewiger Kampf und nicht einfacher geworden. «Morgens, wenn ich mich rasiere», liess der UBS-Präsident wissen, «bin ich nicht weniger nervös als früher.»