Gut gelaunt bittet Willy Kissling ins Büro. Dass der Präsident des Technologiekonzerns Unaxis unter Druck steht, gar um seinen Ruf kämpft, lässt sein Auftreten nicht erkennen. Mit demonstrativer Gelassenheit beantwortet er unangenehme Fragen um seine Person und den von ihm geführten Konzern – «off the record», in vertraulichem Rahmen.

Bislang hat Kissling eisern geschwiegen, sowohl zur Unaxis-Aktie, die seit Anfang Jahr gegen 40 Prozent an Wert verloren hat, als auch zur Kritik gegen ihn persönlich, anonym vorgebracht aus dem Kreis der Hauptaktionäre. Am 7. August schrieb die «Finanz und Wirtschaft», die Familien Anda und Bührle seien unzufrieden mit dem Unaxis-Verwaltungsrat. Kissling sei zu wenig dynamisch, kein Unternehmer. Wer bei einzelnen Vertretern der Familienholding Ihag nachfragte, bekam hinter vorgehaltener Hand dasselbe zu hören: Zu oft seien die Erwartungen enttäuscht worden, jetzt brauche es neue Köpfe an der Konzernspitze.

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Gut eine Stunde dauert das Gespräch mit Willy Kissling, da zieht er plötzlich ein zweiseitiges Papier hervor. Darin steht: «Wir verfügen über einen sehr qualifizierten und engagierten Verwaltungsrat. Dies wird meines Wissens auch von den Hauptaktionären so gesehen.» Bezüglich Strategie bestehe ebenfalls Einigkeit zwischen Verwaltungsrat und Hauptaktionären, heisst es in der Stellungnahme. Spontan macht Kissling einen Vorschlag: Er werde das Papier nun zur Beglaubigung an den Präsidenten der Ihag Holding, Gratian Anda, schicken.

Ganz offiziell stellt Kissling dem 35-jährigen Enkel des Firmengründers Emil Georg Bührle somit die Vertrauensfrage. Seine gesamte Macht wirft er in die Waagschale. Das Signal: Wer Kritik an seiner Person üben will, der soll offen dazu stehen.

Seit Monaten kommt der 60-jährige Profi-Verwaltungsrat nicht mehr aus den negativen Schlagzeilen heraus. Im März trat er beim Maschinenbauer SIG Knall auf Fall zurück, nach nur einem Jahr als Präsident. Zu einem heftigen Machtkampf kam es gleichzeitig beim krisengeschüttelten Industriekonzern Forbo. Dort übernahm Kissling, der nebenbei noch im VR von Holcim und Kühne & Nagel sitzt, das Zepter, während der Präsident und der CEO über die Klinge springen mussten.

Auch bei Unaxis war die Ära Kissling bis dato von zahlreichen Wechseln in der Chefetage geprägt. Zwar schreibt der Konzern wieder knapp schwarze Zahlen. Verglichen mit den wichtigsten Konkurrenten, liegen die Gewinnmargen jedoch deutlich tiefer. Entsprechend ist der Aktienkurs sogar unter den Buchwert des Unternehmens gesunken. Deutlicher könnten die Finanzmärkte ihr Misstrauen gegenüber der Firmenleitung nicht ausdrücken.

Wie reagiert nun Gratian Anda auf die öffentlich gestellte Vertrauensfrage von Willy Kissling? Würde er einen Machtkampf mit dem Unaxis-Präsidenten riskieren? So ungewöhnlich der Vorstoss auch ist: Kissling trifft Anda damit an seiner empfindlichsten Stelle. Abrupt wird der auf absolute Diskretion bedachte jüngste Spross des Bührle-Clans ins Rampenlicht gezerrt. Vor fünf Jahren, als er die Führung der Familienholding übernahm, wurde er mit Vorschusslorbeeren überhäuft. Der ehemalige Oerlikon-Bührle-Chef Hans Widmer zum Beispiel verglich ihn mit dem jungen Stephan Schmidheiny. Philippe de Weck, Expräsident der Bankgesellschaft und ein Freund der Familie, entdeckte in ihm die unternehmerischen Talente seines Grossvaters. Manche Zeitungen handelten den ETH-Ingenieur mit McKinsey-Erfahrung bereits als den zukünftigen Konzernchef.

Seither ist es um Anda jedoch merkwürdig still geworden. Seine Fäden zog er bisher höchst unauffällig aus dem Hintergrund. Doch jetzt muss er seine Karten auf den Tisch legen: Wichtiger noch als das Verhältnis zu Kissling ist die Frage, ob er als Vertreter der Hauptaktionäre weiterhin zu seinem Familienerbe steht – einem Erbe, das als Lehrbeispiel für den industriellen Niedergang steht.

Seit über zwei Jahrzehnten zerfällt das einst so mächtige Bührle-Imperium unaufhaltsam. Ein Heer von 37 000 Mitarbeitern arbeitete 1980 bei der damaligen Oerlikon-Bührle. Heute, unter dem Namen Unaxis, sind es noch deren 6700. Zu seinen Glanzzeiten, vor 25 Jahren, besass der Konzern einen Börsenwert von 3,5 Milliarden Franken, mehr als die Zürich-Versicherung und die Schweizer Rück zusammen. Hätte sich die Aktie seither im Gleichschritt mit der Schweizer Börse entwickelt, so wäre das Unternehmen heute über 30 Milliarden wert. Nur schon um die Inflation auszugleichen und die reale Substanz zu erhalten, wäre eine Verdoppelung nötig gewesen. Stattdessen ist der Börsenwert des Unternehmens auf magere 1,5 Milliarden geschrumpft. Selbst ABB oder Sulzer, ebenfalls keine Ruhmesblätter der Schweizer Wirtschaft, haben im Vergleich deutlich besser abgeschnitten.

Köpfe rollten, neue Strategien wurden aus dem Hut gezaubert – doch letztlich sind sämtliche Versuche, den steten Zerfall aufzuhalten, gescheitert. Einen ersten Tiefpunkt erlebte das Unternehmen im August 1990, als Gründersohn Dieter Bührle auf Druck seiner um fünf Jahre jüngeren Schwester Hortense Anda-Bührle, Gratians Mutter, die Führungsämter abgeben musste. Ausgerechnet das Waffengeschäft, das die Familie reich gemacht hatte, wurde Bührle zum Verhängnis. Über eine Milliarde Franken hatte er in die Entwicklung des Fliegerabwehrsystems Adats investiert. Doch die erhofften Verkäufe blieben aus.

«Schuhe statt Waffen» hiess die neue Losung unter der resoluten Hortense Anda-Bührle. An die Konzernspitze setzte sie den früheren McKinsey-Direktor Hans Widmer. Dank der Schuhmarke Bally und der Beschichtungsfirma Balzers sollte der Konzern, der inzwischen noch 26 000 Mitarbeiter beschäftigte, zu neuen Höhenflügen ansetzen. Kurz nach seinem Antritt erklärte Widmer in einem BILANZ-Interview selbstbewusst: «Oerlikon-Bührle hat heute den besten Verwaltungsrat in der Schweiz: hervorragende Unternehmer, schnell denkende, flexible Bankiers.» Zusätzlich engagierte er «Starsanierer» Ernst Thomke, der sich zunächst um die Flugzeugtochter Pilatus und ab 1995 um Bally kümmerte.

Die Manager-Koryphäen scheiterten ebenfalls. Der Gemischtwarenladen Oerlikon-Bührle stagnierte weiter, Dividenden gab es auf Jahre hinaus keine. Angeblich weil er seine Vermögenssteuern nicht mehr bezahlen konnte, war Dieter Bührle gar gezwungen, aus seinem Privatbesitz Vincent van Goghs Gemälde «Kornfeld mit Zypressen» zu verkaufen, zum Preis von 57 Millionen Dollar. Obwohl der Gründersohn aus dem Konzern ausgeschieden war, blieb sein Vermögen in der renditeschwachen Familienholding blockiert.

In der Folge riss der Geduldsfaden von Hortense Anda-Bührle erneut. Im Februar 1998 schickte sie den gesamten Verwaltungsrat in die Wüste. Auch sie selber – die Familie besass zu diesem Zeitpunkt noch 37 Prozent der Aktien – verliess nun das Gremium.

Ein ambitiöser Neubeginn war indes schon aufgegleist. Diesmal hiess das Zauberwort Technologie. Als Spiritus Rector dieser letzten Rettungsaktion durfte Henri B. Meier, hauptberuflich Finanzchef bei Roche, Hand anlegen. Meier holte bekannte Namen wie den Banker Peter Küpfer, Anwalt Peter Nobel oder den deutschen Ex-Politiker Lothar Späth in den Verwaltungsrat, ohne jedoch selber Einsitz zu nehmen. Zum neuen Präsidenten ernannte er Willy Kissling, der im Dienste der Schmidheiny-Familie Karriere gemacht hatte.

Bei seiner Verwandlung zum Technologiekonzern durchlief Oerlikon-Bührle eine Radikalkur, wobei die Belegschaft in Kürze von 15 000 auf 8000 schrumpfte. Das Waffengeschäft, Bally, Pilatus und die Immobiliensparte wurden verkauft. Der Grossteil aus dem Milliardenerlös floss in den Aufbau einer neuen Halbleiterdivision. So kaufte man zu überteuerten Preisen ein Aktienpaket am Chipautomaten-Hersteller Esec in Cham, das sich, pikanterweise, gerade im Besitz von Henri B. Meiers Roche befand.

An der Börse verfing der Hightech-Zauber. Der Aktienkurs explodierte von 150 auf über 500 Franken. Die Banken setzten Kursziele von bis zu 700 Franken (heute notieren die Titel knapp über hundert Franken). Willy Kissling versprach schöne Gewinnmargen und ein jährliches Umsatzwachstum von 20 Prozent. Plötzlich schien der jahrelange Niedergang, der wie ein Bannfluch auf dem Unternehmen lastete, gestoppt. Um mit der unrühmlichen Vergangenheit endgültig zu brechen, erhielt Oerlikon-Bührle im April 2000 – einen Monat nachdem die Technologiebörse Nasdaq ihr Allzeithöchst erreicht hatte – den neuen Namen Unaxis.

In dieser Phase der Euphorie und des Aufbruchs übernahm Gratian Anda die Verantwortung für die Familienholding Ihag. Dagegen hegten die beiden Nachkommen von Dieter Bührle, Carol und Christian, als einfache VR-Mitglieder der Ihag keinerlei Ambitionen, das Erbe weiterzuführen. Umso höher angesetzt waren die Pläne Andas. Im Juni 2000 hielt der sonst medienscheue Bührle-Spross in der BILANZ fest: «Ich will nicht nur ein paar Rädchen drehen, sondern auch ein paar grosse Sachen machen.» Die Ihag sollte zu einer wichtigen Drehscheibe der New Economy heranwachsen. In dieses Konzept passte der frischgebackene Technologiekonzern Unaxis als Kerninvestition bestens hinein.

Das alte Oerlikon-Bührle-Syndrom – der programmierte Misserfolg – kehrte indes bald zurück. Die Technologieblase platzte, und auf das Jubeljahr 2000 folgte der jähe Absturz. Heute zeigt sich, dass der Konzern seinen eigentlichen Konstruktionsfehler noch immer mit sich herumträgt, den zahlreichen Restrukturierungen zum Trotz: Unaxis bleibt wie Oerlikon-Bührle ein bunt zusammengewürfeltes Konglomerat.

Das Unternehmen verzettelt sich auf fünf verschiedene Segmente, die kaum Gemeinsamkeiten aufweisen (siehe Artikel zum Thema «Fünf Sparten: Kein Zusammenhalt»). So ist es kein Zufall, dass die bereits zu Zeiten von Dieter Bührle gekaufte Beschichtungsfirma Balzers noch heute die höchste Marge erzielt. Mit einem Umsatzanteil von 18 Prozent steuert die Sparte zwei Drittel zum Konzerngewinn bei. Dagegen schreibt die jüngst forcierte Halbleiterdivision, mit einem Umsatzanteil von 36 Prozent die grösste Sparte, auch dieses Jahr wieder rote Zahlen. In diesem Geschäft fehlt Unaxis die Grösse, um mit der Konkurrenz mitzuhalten. Zudem wurde die Verlagerung nach Asien verschlafen. Von Seiten der Ihag sind indes Zweifel zu vernehmen, ob sich die jetzige Konzernführung ohne Glaubwürdigkeitsverlust wieder von diesem Geschäft trennen könne.

Fest steht: Nach einem kurzen Intermezzo steht die Bührle-Familie erneut auf der Verliererseite. In dieser misslichen Lage nun muss Gratian Anda, provoziert durch die Vertrauensfrage von Willy Kissling, plötzlich Farbe bekennen: Steht er zur heutigen Führung? Engagiert er sich für einen Neuanfang? Oder bricht er gar mit der industriellen Tradition der Familie und verkauft den Aktienanteil, der mittlerweile auf 21 Prozent geschrumpft ist?

Vier Tage nachdem Kissling sein zweiseitiges Papier geschrieben hat, gibt Ihag-Direktor Bernhard Müller eine sehr knappe Antwort: «Der Verwaltungsrat der Ihag Holding AG, dessen Präsident Gratian Anda ist, bestätigt, dass er mit den Aussagen im Papier einverstanden ist.» Kisslings Kalkül ist also aufgegangen: Anda hatte im Grunde gar keine andere Wahl, als dem Unaxis-Präsidenten seine Loyalität zu versichern. Zu schwach ist die Machtposition des Hauptaktionärs inzwischen geworden. Nun rächt sich, dass die Besitzerfamilie nicht mehr im Verwaltungsrat des Konzerns vertreten ist.

Auch Gratian Anda hat es bislang stets abgelehnt, sich im Führungsgremium von Unaxis zu engagieren. Stattdessen verfolgte er eigene Projekte. So versuchte er im Herbst 2000 noch auf den vermeintlichen Boom in der Breitbandtechnologie aufzuspringen. Zusammen mit Markus Ebner, dem Neffen von Financier Martin Ebner, führte er die millionenschwere Beteiligungsgesellschaft Broadband Capital. Das Vehikel überlebte nur etwa ein Jahr. Auch bei diversen weiteren Risikokapitalfirmen, primär im Internet- und Telekom-Bereich, mischte Anda mit.

Bei Unaxis vertraute der Bührle-Spross darauf, seinen direkten Draht zu Willy Kissling nutzen zu können, obwohl er sich damit in eine fatale Abhängigkeit zum Präsidenten begab. «Wir haben ein sehr offenes und von Vertrauen geprägtes Verhältnis», schreibt Kissling in dem von Anda abgesegneten Papier. Tatsächlich: Nebst regelmässigen Telefonkontakten treffen sich die beiden alle ein bis zwei Monate zum informellen Gespräch. Das Problematische an diesen Zusammenkünften: Kissling darf Anda dabei nicht mit börsenrelevanten Informationen versorgen. Entsprechend versichern sowohl Kissling als auch die Ihag, bei diesen Gesprächen werde das Prinzip der Gleichbehandlung aller Aktionäre nicht verletzt.

Doch besonders die letzte grosse Transaktion der Familienholding hat das Vertrauen der Publikumsaktionäre nicht eben gestärkt. Anfang April gab die Ihag bekannt, sie habe ihren Aktienanteil an Unaxis von 24,4 auf 21 Prozent reduziert. Die Besitzerfamilie erzielte dabei einen Erlös von rund hundert Millionen Franken. Wenig später setzte an den Börsen eine dramatische Talfahrt der Unaxis-Aktien ein, als sich enttäuschende Bestellungszahlen sowie ein zunehmender Druck auf die Margen abzuzeichnen begannen. Heute wäre das gleiche Paket noch etwas über 60 Millionen wert.

Der Aktienverkauf hat Spekulationen im Markt genährt, wonach sich Gratian Anda vom industriellen Vermächtnis seiner Familie trennen wolle. Allerdings, so ist aus der Ihag zu hören, soll sich vor allem seine Mutter gegen einen vollständigen Verkauf der auf einen Wert von etwas über 300 Millionen Franken geschrumpften Unaxis-Beteiligung wehren. Hortense Anda-Bührle fühle sich noch immer der familiären Tradition des industriellen Engagements verpflichtet. Zudem soll ein Vertrag, dessen Existenz jedoch nie offiziell bestätigt wurde, die Familienmitglieder aneinander binden.

Die Folge ist eine eigentliche Pattsituation: Weder drängen die Hauptaktionäre in den Verwaltungsrat, noch stossen sie ihre Beteiligung an Unaxis ab. Derweil bemüht sich Willy Kissling, seine Machtbasis zu sichern, und beschwört den einvernehmlichen Kontakt zur Besitzerfamilie. In dieser blockierten Lage agieren beide Seiten als Verbündete auf Zeit, darauf bedacht, den eigenen Schaden möglichst in Grenzen zu halten. Doch wie es mit dem Unaxis-Konzern weitergehen soll, erscheint unklarer denn je.

Im September 1979, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, hatte Dieter Bührle in einem BILANZ-Porträt erklärt: «Leider ist die Bührle-Aktie im Moment kein sehr aufregender Titel.» Dass der Satz gleich für die kommenden 25 Jahre Gültigkeit behalten würde, davon war er allerdings kaum ausgegangen.