Die neuste Anschaffung hat 2500 Franken gekostet. Ein stolzer Preis für eine Hörhilfe für beide Ohren, findet Barbara Wenk. Für das Geld bekomme man heute gleich mehrere Smartphones. Dabei seien Herstellungskosten und Technik durchaus vergleichbar. Und überhaupt, ärgert sich die Hörbehinderte, bei ihren Hörgeräten habe sie sich keineswegs für ein Luxusmodell entschieden.
Die 61-Jährige weiss, wovon sie spricht. Als Präsidentin von Pro Audito, der grössten Hörbehindertenorganisation der Schweiz, kennt sie den Markt für Hörgeräte besser als die meisten der über 1 Million Hörgeschädigten im Land. Sie spricht von «kartellartigen Zuständen» und sagt: «Es fehlt an Wettbewerb. Hörhilfen sind in der Schweiz viel teurer als anderswo.»
Zu diesem Schluss kam der Preisüberwacher bereits im Jahr 2003, als er die Hörgeräte-Preise in der Schweiz mit jenen in Deutschland verglich: Hierzulande zahlt man für identische Hörhilfen bis zu viermal mehr – selbst bei Schweizer Fabrikaten. 2007 stellte schliesslich auch die Eidgenössische Finanzkontrolle fest, dass die Preise für Hörgeräte zu hoch seien. Passiert ist seither wenig. Die Preise für Hörhilfen kamen nicht auf breiter Front ins Rutschen. Preisüberwacher Stefan Meierhans spricht noch immer von «Marktversagen».
Das könnte sich jetzt aber ändern. Auch die Wettbewerbskommission nahm den Markt für Hörhilfen unter die Lupe. Wie Recherchen der «Handelszeitung» ergaben, hat die Behörde ihre monatelange Vorabklärung in den letzten Tagen mit einem Zwischenbericht abgeschlossen. Das brisante Fazit: «Uns liegen Indizien für vertikale Preisabsprachen zwischen Herstellern und Akustikern vor», sagt Vizedirektor Olivier Schaller. Dieser Tage wird den Firmen der Bericht zugestellt.
Brennend interessieren dürfte die Vor-abklärung der Wettbewerbshüter nicht nur die Hörgeschädigten und die Hersteller, sondern auch die Sozialversicherungen AHV und IV. Sie tragen einen grossen Teil der Kosten für Hilfsmittel von Betagten und Behinderten. Bei Wenks Hörhilfe übernahm die Invalidenversicherung 2100 Franken. Die IV bezahlte also mehr als vier Fünftel. Insgesamt gab sie für Hörgeräte im letzten Jahr fast 50 Millionen Franken aus – so viel wie für kein anderes Hilfsmittel (siehe Grafik).
7 Millionen allein für Perücken
Doch von solchen Kostenblöcken ist in der 6. IV-Revision kaum die Rede. Die Invalidenversicherung ist zwar hoch verschuldet und muss überall sparen. Die Parlamentarier in Bern haben aber nur die Versicherten im Fokus: Die IV-Renten sollen überprüft und gegebenenfalls aufgehoben oder zumindest gekürzt werden. Die Hersteller und Verkäufer von Hörhilfen, Rollstühlen, Beinprothesen, orthopädischen Schuhen, Elektrobetten oder Treppenliften werden von den Sparmassnahmen weitgehend verschont.
Dabei zahlt die IV nicht nur für Hörgeräte viel Geld. Total kosten die Hilfsmittel für Behinderte die Invalidenversicherung jedes Jahr rund 240 Millionen Franken. Allein für Perücken gab sie 2010 knapp 7 Millionen aus – exakt 1387 Franken pro Bezüger. Die Hersteller und Verkäufer von Haarersatz verlangten von der IV damit fast den in der Hilfsmittel-Verordnung angegebenen Höchstbetrag von 1500 Franken.
Hörgeräte sind nicht Popcorn
Die IV zahlt und ärgert sich: «Die Hilfsmittel sind häufig zu teuer», sagt IV-Chef Stefan Ritler. «Es herrscht in diesem Bereich oft kein Wettbewerb.» Tatsächlich gibt es auch bei den Hörgeräten nur wenige Hersteller – darunter der Stäfener Weltmarktführer Sonova mit der Marke Phonak und die Berner Firma Bernafon, die heute zum grossen dänischen Konzern William Demant gehört. Ihr Geschäft ist hochprofitabel. Anders als in der Computerindustrie sind die Preise für Hörhilfen kaum unter Druck gekommen. PC werden rasant billiger. Die Preise für Hörgeräte sinken höchstens leicht.
«Hörgeräte stellt man nicht wie Popcorn her», verteidigt sich Sonova-Chef Valentin Chapero. «Das sind kleine Computer, für deren Entwicklung wir viel Geld ausgeben.» Auch Wettbewerbskomissions-Vize Schaller sieht nicht unbedingt bei den Produzenten das Problem: «Unsere Vorabklärung hat keine Anhaltspunkte für Preisabsprachen zwischen Herstellern ergeben», hält er fest. Kritisch beurteilt er hingegen die Preisempfehlungen der Hersteller an die Händler und Verkäufer von Hörgeräten: «Die Preise werden meist eins zu eins übernommen», sagt Schaller. «Nur wenige Akustiker gewähren Rabatte.» Darin bestehen laut dem Kartellwächter «Anzeichen für eine erhebliche Wettbewerbsbeschränkung».
Die Bank Vontobel kam in einer Marktanalyse letzten Frühling zum Schluss, dass «60 bis 75 Prozent des Endpreises in den Zwischenhandel» fliessen. Die heimlichen, grossen Profiteure im Markt für Hörhilfen sind demnach die Akustiker. Vontobel rechnet vor: «Ein Hörgerät wie etwa das Phonak Naida kostet in der Produktion 100 Franken, wird von Sonova zu einem Listenpreis von 1500 Franken an den Händler verkauft, der es dann für einen Endpreis von bis zu 4500 Franken an den Kunden veräussert.» 3000 Franken also allein für den Händler.
Zirka 60 Prozent des Schweizer Marktes teilen sich die grossen Anbieter auf, unter ihnen Amplifon oder Kind. Auch der Billigoptiker Fielmann bietet seit einigen Jahren etwas fürs Ohr. Wer eine Brille trägt, braucht in einer alternden Gesellschaft oft auch ein Hörgerät. Die deutsche Kette mischte den Akustiker-Markt zumindest etwas auf. Fielmann soll in der Vorabklärung der Wettbewerbshüter auch zu den wenigen Anbietern gehören, die mit Rabatten auf sich aufmerksam machten.
Daneben mischen aber viele kleine, unabhängige Geschäfte mit. Generell ist der Markt für Akustiker daher durch Überkapazitäten gezeichnet. Wären die Endverkaufspreise für Hörgeräte nicht derart hoch, wäre der Konsolidierungsdruck grösser, glauben die Vontobel-Analysten.
Für Hörenschweiz, den Verband der Hersteller und Dienstleister, greifen reine Preisvergleiche zu kurz. Man müsse auch die Personalkosten miteinbeziehen. In der Tat bieten viele Akustik-Fachgeschäfte einen Service, den man in anderen Ländern nicht findet. Im Preis inbegriffen sind etwa die vergleichende Anpassung mehrerer Hörgeräte oder lebenslange Reparaturleistungen. Bei der Qualität der Hörmittelversorgung nehme die Schweiz eine Spitzenposition ein, folgern deshalb die Wirtschaftsforscher des BAK Basel letzten Sommer in einer Studie, die vom Branchenverband in Auftrag gegeben wurde.
Auch Pro-Audito-Präsidentin Wenk anerkennt, dass sie für die Neuanpassung beim Kauf der letzten Hörhilfen fünf Sitzungen beim Akustiker brauchte. Dennoch findet die oberste Vertreterin der Hörgeschädigten im Land, dass die Hörgeräte-Händler «erst zaghaft» die Apparate-Preise senkten: «Es besteht noch immer ein kartellartiger Markt.»
Die Probleme sind allerdings auch systembedingt. Solange die staatliche Invalidenversicherung bei Hörhilfen, Rollstühlen oder Perücken an Tarifverträge, Maximalvergütungen oder Pauschalen gebunden ist, ist ihr Handlungsspielraum begrenzt: «Mit den der IV heute zur Verfügung stehenden Instrumenten ist es für das Bundesamt für Sozialversicherungen schwierig, Wettbewerb in einem Hilfsmittelmarkt zu erzeugen», sagt IV-Chef Ritler.
Staatliche Einkaufsmacht
Von den Parlamentarieren bisher kaum beachtet, will der Bundesrat im Rahmen der 6. IV-Revision deshalb die gesetzliche Basis für neue Einkaufsmöglichkeiten schaffen – etwa durch öffentliche Ausschreibungen. Die beste Offerte soll dereinst den Zuschlag erhalten. Erfahrung mit Vergabeverfahren hat die Behörde bei Hörgeräten bereits gesammelt. Um die Preise zu drücken, lancierte sie einst eine Ausschreibung. Wegen fehlender Rechtsgrundlage wurde sie vom Bundesverwaltungsgericht jedoch zurückgepfiffen.
Bis solche Instrumente zur Verfügung stehen, setzen die Sozialversicherungen bei den Hörapparaten auf Pauschalen. Ab Mitte Jahr gibt es für Hörgeschädigte einen fixen Beitrag von 840 Franken pro Gerät. IV und AHV hoffen so auf mehr Wettbewerb und Einsparungen von bis zu 30 Millionen Franken pro Jahr. «Bei den Hörgeräten besteht ein hohes Sparpotenzial», bestätigt Ritler.
Glücklich macht der Beschluss die Hörgeschädigten nicht: «Die Kosten werden mehrheitlich den Betroffenen überwälzt», sagt Wenk. Für ihre zwei neuen Hörgeräte hätte sie mehr als 800 statt 400 Franken aus der eigenen Tasche bezahlen müssen.
6. IV-Revision: 17'000 IV-Rentner sollen wieder arbeiten
Soziales Auffangnetz Die Invalidenversicherung (IV) ist eine Volksversicherung. Sie bietet allen in der Schweiz lebenden und arbeitenden Menschen einen weit-reichenden Schutz vor finanziellen Risiken bei Gesundheitsschäden. Oberstes Ziel ist dabei die Eingliederung oder Wiedereingliederung der Behinderten in den Arbeitsmarkt.
Riesiger Schuldenberg Zuletzt war die Invalidenversicherung, die mit Lohn- prozenten und Beiträgen des Bundes finanziert wird, zunehmend in Schieflage geraten. Ende 2010 lag das Defizit nach verfügbaren Zahlen bei voraussichtlich 1,1 Milliarden Franken und die Schulden bei der Alters- und Hinterbliebenen- versicherung (AHV) betrugen rund 15 Milliarden Franken. Eine nachhaltige Sanierung der IV in mehreren Etappen ist daher unumgänglich.
Härtere Praxis Während mit bisherigen IV-Revisionen die Zunahme der Neurenten reduziert wurde, sollen bei der laufenden 6. IV-Revision bestehende Renten aufgehoben oder gekürzt werden. Im Fokus der systematischen Überprüfung von IV-Rentnern stehen Invalide, die ein organisch nicht erklärbares Leiden haben – zum Beispiel Leute mit einem Schleudertrauma. Ziel ist es, bis 2018 rund 17 000 IV-Rentner in den Arbeitsmarkt zu integrieren und die IV um jährlich ungefähr 500 Millionen Franken zu entlasten. Für Einsparungen sollen auch öffentliche Vergabeverfahren bei den Hilfsmitteln für Behinderte sorgen. Das Parlament hat den ersten Teil der 6. IV-Revision diese Märzsession verabschiedet. Als Nächstes wollen die Räte den zweiten Teil der 6. IV-Revision anpacken. Dieser sieht den Wechsel zu einem stufenlosen Rentensystem vor.