Zunächst schöpft niemand Verdacht, als der ältere Herr in die Bank kommt und sich einen vierstelligen Betrag in kleinen Scheinen auszahlen lässt. Er ist seit Jahren ein guter Kunde und hat 2 Millionen auf dem Konto.
Irgendwann fasst sich der Schalterangestellte ein Herz und fragt: «Was machen Sie eigentlich mit dem ganzen Geld?» Darauf der Mann: «Ich verschenke es.» Das stellt sich als wahr heraus.
Der Mann geht jedes Mal aus der Bank in die nahe Fussgängerzone und gibt Fremden Geldscheine in die Hand.
Fälle wie dieser – er hat sich in Deutschland ereignet – werden sich in Zukunft häufen. Denn die Gesellschaft altert: Im Jahr 2050 werden in der Schweiz etwa doppelt so viele Achtzigjährige leben wie heute, sagt das Bundesamt für Statistik (BFS) voraus. Damit steigt zwangsläufig die Zahl der Personen mit Demenzerkrankungen.
«Oft braucht es viel Fingerspitzengefühl, um geistige Einschränkungen zu erkennen»
Michael Eisenbart, Zürcher Kantonalbank
151 000 Personen sind es heute, zur Mitte des Jahrhunderts werden es 299 000 sein, erwartet die Organisation Alzheimer’s Disease International. Auf Unternehmen kommt damit eine neue Herausforderung zu: Sie haben es in Zukunft häufiger mit Kundinnen und Kunden zu tun, die in ihren geistigen Fähigkeiten eingeschränkt sind und möglicherweise vor sich selbst geschützt werden müssen.
Smarte Online-Programme
Profis spüren den Trend. «Die Anfragen nehmen tendenziell zu», sagt Michael Eisenbart, der bei der Zürcher Kantonalbank die interne Fachstelle zum Thema Kindes- und Erwachsenenschutzrecht leitet. Mitarbeitende, die Zweifel an der geistigen Leistungsfähigkeit eines Kunden oder einer Kundin haben, können sich hier melden und beraten lassen.
Häufig geht es bei den Anfragen um Personen, die mehrmals am Tag Geld abheben kommen, doch längst nicht in allen Fällen sind die Indizien so offensichtlich. «Oft braucht es viel Fingerspitzengefühl, um geistige Einschränkungen zu erkennen», weiss Eisenbart.
Wie schwierig das ohne Übung ist, hat Ulrich Welzel am eigenen Leib erfahren. Der deutsche Banker sah sich eines Tages mit einer älteren Dame konfrontiert, die ihn mitten in der Schalterhalle anschrie: «Sie haben mir mein Geld geklaut!» Welzel warf die Kundin raus. «Dafür schäme ich mich noch immer in Grund und Boden», gesteht der 64-Jährige.
Heute weiss er, dass es besser gewesen wäre, die Kundin beiseitezunehmen und mir ihr alles in Ruhe zu besprechen. Für Welzel war das Ereignis der Anlass, seinem Leben eine neue Richtung zu geben: Heute berät er Unternehmen – vor allem Banken – zum Umgang mit demenziell erkrankten Kundinnen und Kunden, und erklärt, wie man ein Nachlassen der geistigen Fähigkeiten erkennt.
Teams werden geschult, um Kunden mit nachlassenden geistigen Fähigkeiten diskret zu erkennen.
Er empfiehlt den Mitarbeitenden zum Beispiel, ins Gespräch mehrfach eine Frage zur Vergangenheit einzuflechten, zum Beispiel: «Wie war gestern das Wetter?» Antwortet die Kundin jedes Mal etwas anderes, kann das auf kognitive Einschränkungen hindeuten.
Banken und Versicherungen treffen Vorkehrungen. Viele Online-Banking-Programme warnen mittlerweile die User, wenn sie mehrfach dieselbe Order aufgeben wollen.
Inzwischen haben alle Banken das Thema Demenz auf dem Schirm. Es sei «regelmässig Teil von Schulungen der Kundenberaterinnen und -berater», sagt Karin Aquilino, Sprecherin der UBS in Zürich.
«Unsere Bank- und Schaltermitarbeitenden werden laufend sensibilisiert, um im Interesse unserer Kundschaft eventuelle kognitive Defizite festzustellen», heisst es bei der CS. Bestünden Zweifel an der Urteilsfähigkeit, treffe man «geeignete» Massnahmen, so ein Sprecher. Dazu gehörten die Nichtausführung des Auftrages.
So weit die offiziellen Abläufe. In der Praxis jedoch wird viel improvisiert. Experte Welzel berichtet von einer Schaltermitarbeiterin, bei der ein Kunde oft mehrmals täglich Geld abheben wollte. Damit sich der offensichtlich verwirrte Mann nicht ruiniert, liess sie sich einen Trick einfallen: Sie zahlte das Geld zunächst aus, nahm es jedoch sofort wieder zurück und schrieb es dem Konto gut.
Wenn einer vermeintlich dementen Kundin durch Bankmassnahmen Gewinne entgehen, drohen Klagen.
Der Kunde bemerkte nichts davon. Solche Lösungen mögen menschenfreundlich und praktikabel sein – juristisch sind sie hochriskant.
Streit vor Gericht
Rechtlich stecken die Banken bei diesem Thema in einer Zwickmühle. «Gemäss Zivilrecht müssen sie der Erwachsenenschutzbehörde eine Meldung machen, wenn der Verdacht der Urteilsunfähigkeit besteht», sagt Lucy Gordon, Partnerin bei der Kanzlei MME in Zürich. In diesem Fall darf die Bank die Anweisungen des Kunden oder der Kundin bis auf Weiteres nicht ausführen, da sie als nichtig gelten.
Tut sie es dennoch, kann sie für einen möglichen finanziellen Verlust belangt werden. «Die Banken versuchen, sich durch Klauseln in ihren AGB vor diesen Folgen zu schützen und die Haftung auf den Kunden zu überwälzen», berichtet Rechtsanwältin Gordon.
Ihrer Meinung nach sei es aber fraglich, ob solche Klauseln einer richterlichen Überprüfung standhalten würden.Im eingangs erwähnten Fall des urteilsunfähigen Mannes, der sein Vermögen verschenkte, könnte ein Vertreter also Ansprüche gegen die Bank erheben.
Kommunikation
Kommen erste Zweifel an der Entscheidungsfähigkeit einer Person auf, muss eine Bank aktiv werden. Meist wendet sich der Berater in einem solchen Fall an den Bevollmächtigten, den die Kundin bei Vertragsunterzeichnung angegeben hat. In der Regel handelt es sich um den Partner oder um Angehörige.
Demenzexperte Ulrich Welzel rät zu einem sensiblen Vorgehen. «Sagen Sie nicht ‹Die hat Demenz›, sondern schildern Sie ganz nüchtern Ihren Eindruck.» Viele Banken scheuten sich aber vor diesem Gespräch.
Beistand
Problematischer wird es, wenn die Kundin keinen Vertreter angegeben hat. «In diesem Fall versuchen wir zunächst, zusammen mit der Person eine Lösung zu finden», erklärt Michael Eisenbart von der Zürcher Kantonalbank.
Fruchtet das nicht und besteht die Gefahr, dass sich die Kundin selbst finanziell schadet, bleibt den Angehörigen nur der schwere Gang zur örtlichen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb). Sie prüft, ob die betroffene Person noch handlungsfähig ist, und ernennt dann allenfalls einen Beistand.
Verhält sich das Geldhaus dagegen rechtskonform und führt Anweisungen des vermeintlich geistig verwirrten Kunden nicht aus, droht ein anderes Risiko: Ein Gutachter könnte dieser Einschätzung im Nachhinein widersprechen. In diesem Fall kann der Kunde die Bank auf Schadensersatz verklagen – zum Beispiel, weil er Verluste durch ein nicht ausgeführtes Geschäft erlitten hat.
Vor dem Bankenombudsman werden beide Arten von Fällen immer wieder verhandelt.
Letztlich können nur die Bankkundinnen und -kunden selbst verhindern, in ein unwürdiges juristisches Scharmützel verwickelt zu werden, indem sie Vertreter benennen. Immer mehr tun das auch. «Die Fragen nach einem Vorsorgeauftrag nehmen zu», beobachtet Teamleiter Eisenbart von der ZKB.
Ein Vorsorgeauftrag ermöglicht es, dass eine bestimmte Person als Vertretung fungiert, falls der Aussteller oder die Ausstellerin nicht mehr urteilsfähig ist.