In den Stunden, da dieses Heft erscheint, «tritt die Schweizer Wirtschaft in ihre schwächste Periode ein». Denn gemäss der Prognose der Credit Suisse First Boston von Mitte August werden das dritte und das vierte Quartal fast ohne Wachstum bleiben. Doch schon zu Beginn des Jahres 2002 werde die Schweizer Konjunktur mit einer Rate von 2,9 Prozent starten. So findet der Aufschwung bei allen Prognostikern seit Monaten immer «im übernächsten Quartal» statt. Und zwischendurch ist nun die Industrieproduktion in Europa abgebröckelt, in den USA abgerutscht, in Japan ein- (–8 Prozent) und in Asien zusammengebrochen (Singapur –16 Prozent). Die Industriellen schicken die Leute nach Hause, nach den Entlassungsrunden der Telekomgiganten wackeln die Arbeitsplätze nun in der Elektroindustrie, bei Banken, in Autofabriken. Furcht greift um sich – noch nicht bei den Beschäftigten selbst, aber bei den Prognostikern. Denn wenn die immer noch Beschäftigten tatsächlich Angst um ihren Arbeitsplatz bekämen, dann fielen sie als spendierfreudige Konsumenten aus – und bisher hielt sich die Gesamtkonjunktur nur dank ihnen oben. Die bereits Entlassenen gefährden die Lage nicht. Sogar in Deutschland, wo seit Monaten im Durchschnitt 13 000 Arbeiter entlassen werden, schätzten die Bürokraten der Rentenversicherung den Ausfall an Beiträgen auf bisher bloss 0,05 Beitragsprozente, was zu verschmerzen sei.
Auch auf der Vollbeschäftigungsinsel Schweiz haben die über den Sommer angekündigten Entlassungen Sorge verursacht. Es bekümmert dabei weniger die Menge, denn insgesamt wurden weniger als 2000 Arbeitsplätze aufgekündigt, während seit Herbst 1997 sensationelle 175 000 Stellen neu geschaffen worden sind. Vielmehr machte es den Anschein, als breche die Hightechwirtschaft zusammen, denn dort ballten sich die Hiobsbotschaften. Doch die oft beschworenen Tausende von IT-Spezialisten, die dem Lande fehlen, haben sich nicht einfach als Problem erledigt. Eine Studie der Consultingfirma IDC schätzt, dass in Westeuropa heute 200 000 Spezialisten für Netzwerke fehlten und es im Jahre 2004 schon 550 000 sein würden.
Deshalb werden die vielen Hundert Informatikbeschäftigten, die jetzt frei werden, zum Gewinn für die Schweizer Wirtschaft. Denn anstatt einige grosse ausländische IT-Multis um Bruchteile von Promillen reicher zu machen, können sie in den inländischen Firmen endlich die Flaschenhälse in neuen Techniken beseitigen. Dann kann der Beschäftigungseffekt sogar positiv werden – nicht nur haben diese Spezialisten wieder eine gute Stelle, sondern sie ziehen viele weitere, einfachere Arbeitskräfte in die neuen Produkte- und Dienstlinien hinein. Nach allen Zahlen der Konjunkturforschung KOF an der ETH fällt der schweizerische Arbeitsmarkt zwar nicht so rasch zusammen. Aber die Wachstumsraten aller Art schwächen sich leicht ab – von den Konsumgüterexporten über die Invesitionen bis zur Industrieproduktion.
Die soeben verwendeten Formulierungen klingen sehr gedreht – «abnehmende Wachstumsraten». Das muss man sich mathematisch vorstellen als die «zweite Ableitung»: Man hat eine Ausgangsgrösse wie die Produktion und misst deren Veränderung (= Wachstumsrate, erste Ableitung einer Kurve). Nun blickt man auf die Veränderung dieser Wachstumsrate! In den USA geniesst diese zweite Ableitung gegenwärtig höchste Aufmerksamkeit der mathematikverliebten Prognostiker. Im Gegensatz zur Schweizer Konjunktur, wo sich erst der Zenit mit sinkenden Wachstumsraten andeutet, kommt es dereinst in den amerikanischen Gewinnen zu abnehmenden Rückgängen. Das lässt dann den unteren Wendepunkt erahnen. Kompliziert, aber Millionen wert, wenn dies an der Börse ein paar Stunden vor den andern angewendet werden kann.
Bezogen auf den schweizerischen Arbeitsmarkt, darf man wohl schätzen, dass er gegenwärtig nicht mehr im Wachstumsrausch der 175 000 Zunahmen der letzten vier Jahre steckt, dass die Zunahmen abnehmen, dass aber im Saldo noch keine Stellen vernichtet worden sind. Beunruhigen könnte allenfalls die Verdreifachung der Stunden an Kurzarbeit, die gegenüber dem Sommer 2000 nun im Juni ausgefallen sind: 60 000 Stunden statt 20 500. Aber es waren nicht einmal tausend Personen, die auf diese Art kürzer treten mussten, und sie konzentrierten sich im Maschinen- und Fahrzeugbau sowie in der Elektrotechnik.
Diese Erscheinung muss mit weiteren Beobachtungen der Konjunkturforscher verknüpft werden, dann spricht sie Bände: Weiterhin drückt der Mangel an Facharbeitern, die Langzeitarbeitslosen sind fast nur noch Unqualifizierte, und die Firmen haben in den letzten Monaten die Ausrüstungsinvestitionen enorm hochgetrieben. Das heisst, den ungewöhnlich starken Aufschwung der letzten drei, vier Jahre bewältigten die Firmen zuerst mit viel neuem Personal, ersetzten es, als die Konjunktur anhielt, durch Maschinen und Rationalisierungen, und erste Auftragsausfälle werden jetzt mit Kürzertreten beim ersetzbaren Personal gemeistert. Die Investitionen in immer schlagkräftigere Anlagen im Inland gehen aber, so die KOF, ungebremst weiter. Die Konkurrenzfähigkeit der Schweiz wird dadurch gesteigert. Wie immer werden jedoch die Personalumschichtungen weitergehen, selbst wenn die Konjunktur anziehen sollte. Auch in den USA und im drei Monate verzögerten europäischen Konjunkturgeschehen wird man noch monatelang von Entlassungen hören.
Dass in den USA die Produktivität der Arbeitenden in diesem Sommer allen Unkenrufen zum Trotz dennoch weiter gestiegen ist, verbessert auch dort langfristig die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Denn die Lohnstückkosten der Firmen steigen so nur wenig, ihre Gewinne erholen sich, sie stellen Leute ein, und günstige Exporte schaffen weiteren Verdienst.
Vorderhand aber geht die spannende Show der Zinssenkungen weiter: Gelingt es, mit ein paar Fed-Entscheiden die Weltkonjunktur herumzudrehen? Bisher glückte diese Geldtechnik noch immer, ausser nach 1929. Damals schafften alle Politiker die Globalisierung ab. Sie stoppten die internationalen kurzfristigen Geldtransaktionen zwischen den USA und Deutschland sowie zwischen Deutschland und Frankreich/England für Reparationen, dann zogen sie Zollmauern hoch, und 1933 liess Roosevelt die Weltwirtschaftskonferenz platzen, wodurch die Währungen nicht mehr frei tauschbar waren. Das sollten sich manche Leute zwischen zwei Demos gegen die Globalisierung mal kurz überlegen.
Auch wenn die Schweizer Wirtschaft erst 2002 auf den Wachstumspfad zurückkehren wird, bleibt der Arbeitsmarkt angespannt.
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Veröffentlicht am 31.03.2002 - 01:00 Uhr
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