Birsfelden BL. Schweizer Mittelstandsidylle. Die Menschen hier bevölkern biedere Reihenhäuschen, die sie sich dank arbeitsamer Lebensführung leisten können. Bewohnen enge Wohnzimmer mit Möbeln ab Stange. Kaum liegt die letzte Häuserzeile im Rücken, tut sich eine ganz andere Welt auf: Eine verschachtelte, bunte Riesenskulptur rückt ins Blickfeld. Das Headquarter des Schweizer Design-Vorzeigeunternehmens Vitra, erbaut vom weltberühmten US-Architekten Frank O. Gehry. Hier herrscht Weltoffenheit, hier laufen Fäden der internationalen Designavantgarde zusammen.
Im Zentrum Rolf Fehlbaum, Chairman und Mitbesitzer von Vitra, ein 63-jähriger Charakterkopf, auf der Nase die passende, prägnante Brille. Im perfekt geschnittenen Gucci-Anzug sitzt er da und erzählt mit sparsamer Gestik von einem neuen Projekt, das verbindet, was seine Firma gross gemacht hat in der Welt des Designs und für Vitra eine neue Dimension erschliesst: Vitra at home.
So heisst das Projekt, das auch mit vitra@home umschrieben wird; dahinter versteckt sich nicht etwa ein neuer Auftritt im Netz, sondern gewissermassen die Vollendung einer über Jahrzehnte gepflegten Firmenidentität.
Zunächst bedeutet Vitra at home der Einstieg der Firma in die Welt des Wohnens – bislang hat Vitra zwar Möbelstücke, insbesondere Stühle weltberühmter Designer, oft exklusiv für Europa produziert, aber nie eigentliche Wohnwelten zusammengestellt. Zum anderen nutzt Fehlbaum für seine schöne neue Wohnwelt Vitra at home einen wohl weltweit einzigartigen Fundus von Designobjekten, deren Produktionsrechte er erworben hat dank über Jahrzehnte sorgsam gepflegten persönlichen Beziehungen zu Spitzendesignern aus mehreren Generationen.
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So gesellen sich in den neuen Wohnwelten Designklassiker des vergangenen Jahrhunderts zu Objekten von Gegenwartskünstlern. Alt und Neu und verschiedene Ausstattungsobjekte vom Sideboard über die Wohnwand und den Tisch bis zum Stuhl gehen bei Vitra at home eine neue, einzigartige Beziehung ein. Und es ist Rolf Fehlbaum, der Chairman, der als Regisseur dieses neuartigen Konzepts die Fäden spinnt, durch die sich dieses Collagenkonzept zu einem wohnlichen Gesamtkunstwerk zusammenfügt.
Es dauerte Jahrzehnte, bis Fehlbaum nun mit Vitra at home sein Collagenkonzept in die Tat umgesetzt hat. Erstmals konfrontiert mit ähnlichen Ideen wurde er bereits vor 44 Jahren. Als damals 19-Jähriger besuchte er in den Vereinigten Staaten das berühmte Architekten- und Designer-Ehepaar Ray und Charles Eames und wurde mit deren kreativ-dynamischem Einrichtungsstil konfrontiert, dem so genannten Collagenkonzept.
«Wie sie lebten, hat mich beeindruckt und geprägt», sagt Fehlbaum, «eine Collage aus Möbeln, Objekten, Volkskunst, Stoffen, Bildern, Pflanzen und Büchern. Es war wie eine Reise durch Kulturen und Zeiten.» Dieser inspirierende Ansatz steht auch bei Vitra at home Pate.
Keine abgestimmten Set-Konfigurationen dominieren die Wohnszenerie, sondern fliessende Arrangements, die von Objekten und Schaffenskraft der grossen Designer des 20. Jahrhundert inspiriert sind und Vitra noch heute im Programm hat: Jean Prouvé etwa, der Anfang des 20. Jahrhunderts einst Schmied lernte und später für seine Stahlmöbel weltberühmt wurde. Oder George Nelson, die Schlüsselfigur des US-Designs, und natürlich Charles und Ray Eames, die von Nelson gefördert wurden und als Begründer des neuen organischen Stils gelten. Schliesslich der Däne Verner Panton, der den ersten stapelbaren Vollplastik-Stuhl konstruierte. Mit Ausnahme des Letztgenannten sind dies allesamt Designer, die vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurden und über Jahrzehnte das grosse Design im vergangenen Jahrhundert beeinflusst und geprägt haben.
Hinzu kommen bei Vitra at home Vertreter einer jüngeren, zeitgenössisch avantgardistischen Generation von Designern, die Fehlbaum dazu animieren konnte, für Vitra tätig zu werden. Etwa der Engländer Jasper Morrison oder die Franzosen Erwan und Ronan Bouroullec. Morrison, Meister der archetypischen Formen, gehörte in den Achtzigerjahren zur neuen Designbewegung einer einfachen Material- und Formensprache. Die Brüder Bouroullec entwerfen Möbel für Kenner, die nicht ein Statussymbol, sondern das intelligente Produkt suchen.
Mit dieser Kombination generationenübergreifender Designkunst im «Vitra at home»-Collagenkonzept schliesst sich auch für das Basler Familienunternehmen ein historischer Kreis. Es war Rolf Fehlbaums Vater Willi, der anno 1934 ein Ladenbauunternehmen übernahm und die Vitra-Gruppe in Basel gründete; 1950 kam jenseits der Grenze in Weil am Rhein eine Produktionsstätte hinzu. Auf einer Amerikareise entdeckte Fehlbaum senior die revolutionäre Bedeutung der Entwürfe des Ehepaars Eames und George Nelsons. Ende der Fünfzigerjahre übernahm er die Lizenzproduktion diverser Objekte für Europa und brachte damit grosse Namen des zeitgenössischen US-Designs erstmals nach Europa.
Es war dies ein Schlüssel, der das weltweite Prestige und Renommee des Unternehmens Vitra begründete. 1966 produzierten die Basler den ersten eigenen Stuhl, den heute weltberühmten Panton Chair des Designers Verner Panton. In den Siebzigerjahren stiess die Firma mit ihren Möbeln in die Welt der Büros vor, und das mit Erfolg. Erstmals wurden ergonomische Bürostühle hergestellt, die ein gestalterisches Niveau aufwiesen.
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In dieser Zeit, im Jahre 1976, trat Rolf Fehlbaum mit 36 Jahren in die Firma ein. Seither ist er seinem Credo treu geblieben: «Alles, was man passioniert macht», sagt er aus Erfahrung, «macht man besser. Alltagskultur hat mich schon immer fasziniert, und mit Design kann man eine künstlerische Sensibilität in die Alltagswelt tragen. Und: Ein kulturelles Engagement kann auch kommerziell erfolgreich sein.»
Die schöne Vitra-Designwelt mag nach einem ausgeklügelten Konzept riechen, aber das trügt. Fehlbaum hat sich nie mit Marketing auseinander gesetzt, sondern immer nur das vorangetrieben, was ihn faszinierte. Sagt er. Design ist für ihn und seine Firma keine Strategie zum Zweck der Verkaufsförderung. Kreative Designer finden bei Vitra lediglich ein adäquates Umfeld von Gleichgesinnten und einen Chef, der gutes Möbeldesign nicht nur schätzt, sondern auch einfordert. «Was in Zusammenarbeit mit Architekten und Designern entsteht», weiss er aus Erfahrung, «folgt einer anderen Logik als jener des gängigen Business. Aber auch wir müssen ökonomisch denken und Geld verdienen.»
In dieser Hinsicht funktioniert Vitra nicht anders als jedes andere Unternehmen auch. Es verfügt über Produktionsstätten in Weil am Rhein, Neuenburg und Allentown in den USA, Vertriebgesellschaften in Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Grossbritannien, Belgien, den Niederlanden, Spanien, Österreich, Tschechien, den USA und Singapur. Schauräume gibt es vier in Deutschland, vier in den USA und je einen in Paris, Madrid, Wien, Prag, London, Amsterdam, Zürich und Barcelona.
Vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten war Vitra noch eine beschauliche Welt mit weniger als 19 Millionen Franken Umsatz. Heute beschäftigt Fehlbaums Firma 826 Mitarbeiter, der konsolidierte Umsatz betrug vergangenes Jahr 203 Millionen Euro. Und hinter diesen stolzen Wachstumszahlen steht so etwas wie eine globale Expansion des Designs made by Vitra. Dank Produktionsrechten an Werken bedeutender Designer der Vergangenheit und der Gegenwart sind Vitra-Stühle und -Möbel an Topadressen dieser Welt vertreten. So stehen im Plenarbereich des Deutschen Bundestages in Berlin Bürostuhle von Mario Bellini. In der EU-Kommission in Strassburg sitzen die Beamten auf dem Bürodrehstuhl von Antonio Citterio. Die von Rem Kolhaas gebaute öffentliche Bibliothek in Seattle ist mit Stühlen von Maarten Van Severen und Tischen von Ronan & Erwan Bouroullec bestückt. Auf deren Kundenliste stehen Namen wie Cartier Paris, BBC London oder der Flughafen Toronto.
Diese starke Präsenz von Vitra-Design macht Rolf Fehlbaum zu einer grossen Nummer in der Szene. Auch in einer zweiten Disziplin – in der Architektur – hat Fehlbaum starke Zeichen gesetzt: Vitra-Firmengebäude sind architektonische Besonderheiten. In Weil am Rhein beherbergt ein von Frank O. Gehry erstellter skulpturaler Bau das Vitra Design Museum. Auf dem Firmenareal steht auch ein firmeneigenes Feuerwehrhäuschen von der irakischen Architektin Zaha Hadid, nachdem hier einst ein Grossbrand gewütet hat.
Heute beherbergt es, was Fehlbaum lieb und teuer ist: eine Auswahl seiner sagenhaften Stuhlsammlung. Als wären sie an die Wand genagelt, stehen die Trouvaillen aus der Historie der Sitz-Objekte in Reih und Glied. Rolf Fehlbaum weiss um deren ideellen Wert: «Durch das Sammeln hat sich für mich die Welt des Designs erschlossen», sagt der Herr der Stühle, «ich interessiere mich für Stühle, weil man sie wie ikonografische Entwürfe lesen kann. Ein Stuhl ist eigener als ein Tisch, und er steht in direktem Kontakt zum Menschen, hat Beine, Arme und einen Rücken. Ein Stuhl positioniert den Menschen und ist immer auch eine kleine Skulptur. Das 20. Jahrhundert war für das Möbeldesign eine gewaltige Zeit. Seit Ende des 19. Jahrhunderts haben sich die Architekten mit Möbeldesign auseinander gesetzt, und in hundert Jahren hat die neue Disziplin grossartige Leistungen hervorgebracht. Ich hoffe, dass es in diesem Jahrhundert weitergeht.»
Der Vitra-Chef ist inzwischen hochdekoriert: 1994 erhielt er den Corporate Design Award des Industrie Forums Design Hannover und den European Community Design Prize in Amsterdam. In der Laudatio hiess es: «Vitras konsequentes Produkt- und Kommunikationsmanagement in einem hart umkämpften Markt hat dem Begriff Innovation zu einer neuen Dimension verholfen.» Zehn Jahre später, im Januar 2004, kürte das US-Wirtschaftsmagazin «Business Week» Vitra zu einem von zwölf «Hidden Champions», «the little known European companies that are conquering the world», und bringt das Erfolgsrezept des Chefs auf den Punkt: «Fehlbaum always hires outside designers, gives them free rein – and never designs anything: He considers himself a curator of creative work.»
So gesehen ist Rolf Fehlbaums Vitra at home das formvollendete Spätwerk des Kurators von kreativen Prozessen.