Die Schweizer Wirtschaft startete ins neue Jahr dank einem steigenden Lohnvolumen mit zehn Milliarden Franken mehr Kaufkraft und mit einer Industrieproduktion, die beinahe rauschhaft zunimmt. Überdies hat sie im Jahre 2000 mit Luxus, Uhren und Tourismus Kasse gemacht. Doch in den USA droht Unheil – droht es auch der Schweiz und Europa?
Die amerikanischen Firmen melden Gewinnrückgänge, nicht nur bei utopischen Internetgründungen, sondern auch bei den Firmen der alten, aber repräsentativen Industrie. Im Dezember fielen die Autoverkäufe um acht Prozent, und der Index der Einkäufe durch Firmen steht mit 43,7 Punkten so tief wie nie seit der Rezession 1991. Unter 50 Punkten aber zeigt er Schrumpfung an. Die ersten Entlassungswellen rollen an, zuerst im «rust belt» des Industriereviers um Detroit. Allein im Dezember gingen der amerikanische Industrie 134 000 Jobs verloren. Doch auch der Zusammenbruch der Hausse an der Nasdaq, der Börse der New Economy, setzte in Kalifornien bisher 20 000 Fachkräfte auf die Strasse.
Schon zeigen sich auch die Wege einer möglichen Ansteckung Europas durch die amerikanischen Turbulenzen. Wegen des sinkenden Dollarkurses wurden europäische Exporte nach Nord- und Südamerika und nach fast ganz Asien um zehn Prozent teurer. Sodann treibt der amerikanische Energiehunger die Preise für das Erdöl hinauf, dessen Produzentenländer künftig automatisch weniger fördern wollen, wenn der Preis für ein Barrel unter 22 Dollar fällt. Schliesslich hat der Zusammenbruch der Kurse an den neuen Märkten und der Telekom-Aktien auch in Europa und in der Schweiz viel Geld vernichtet. Überdies steigt die Inflation wegen der stärkeren Lohnrituale, Branchenregeln und öffentlichen Marktordnungen in ganz Europa weiterhin stärker als in den USA – für eine knappe Geldpolitik fehlen dem Euro-Banker Duisenberg in Europa die Argumente nicht.
Immerhin hat die amerikanische Notenbank das Steuer herumgeworfen: Alan Greenspan hieb zu Jahresbeginn den ganzen Zinsaufschlag vom letzten Mai weg und versprach weitere Befreiungsschläge.
Allerdings fragt sich der Zeitgenosse, warum denn die Industrie, die zum gesamten Wirtschaftskuchen bloss ein Viertel beiträgt, eine derartige Panik auslösen soll. Und warum kann das bisschen Zinsdifferenz alle Hebel wieder in Bewegung setzen?
Die produzierende Wirtschaft ist viel grösser, als es die nackte Statistik anzeigt. Denn grosse Teile der Dienstleistungswirtschaft machen nichts anderes, als Vorleistungen für die Produktion zu erbringen. Die Maschinen müssen programmiert werden, die Firmen wollen beraten sein, die Volumen der Finanzierung und Versicherung laufen im Gleichschritt mit dem Volumen verkaufter Produkte. Der Ausstoss der Fabriken bestimmt das Geschäftsvolumen im Transport- und Logistiksektor.
Die Produktion ist und bleibt also wichtig. Ausserdem verursacht sie die Akzeleration der Volkswirtschaft. Wenn die Produktion zunimmt, werden nicht nur Maschinen ersetzt, sondern oft noch gleich viele zugekauft. Dadurch steigert sich die Nachfrage an die Investitionsgüterindustrie um gegen 100 Prozent, sie akzeleriert. Und wenn das Produktionswachstum stockt, fallen nicht nur die Zusatzbestellungen aus, sondern womöglich sogar der Ersatz. Die Investitionsgüter brechen um 60, 70, 100 Prozent ein, und dies wiederum nicht nur in den Maschinenfabriken, sondern auch bei Programmierern, Beratern, Werbern, Forschern. Auch deshalb bleibt die Produktion wichtig.
Die Zinsen spielen in diesem Mechanismus eine zentrale Rolle. Ein um ein Prozent tieferer Zins vermindert die Finanzierungskosten um 15 oder 20 Prozent, und zwar auf neuen wie auf alten Kreditschulden. Der von der amerikanischen Notenbank festgelegte Zins betrifft die Federal Funds, also Gelder, welche das Bankensystem über Nacht bei der Notenbank oder unter sich deponiert und ausleiht. Das Zinsangebot der Notenbank wird sich aber dank dem Wettbewerb bei der Kreditgewährung vom Bankensystem an die Kundenfront fortpflanzen.
Ist viel Geld günstig zu haben, beginnen die Firmen wieder zu investieren und werfen den Akzelerator an. Und die hoch verschuldeten Konsumenten der USA schöpfen wieder Hoffnung und lassen sich in ihrer Kauflust beflügeln. Denn mit dem jüngsten Zinsschritt Alan Greenspans wurde ein besonderes Alarmzeichen rund um den Zins behoben: Die kurzfristigen Zinsen auf den Federal Funds waren höher als die langfristigen Obligationenrenditen. Das berührt zwar all jene Firmen nicht, die früh genug tiefverzinsliche Obligationen ausgaben und ihre Investitionen damit finanzierten. Doch wer sich neu erst einmal mit einem bereits sehr teuren Baukredit verschulden muss, hat auch mit später happigen Obligationenzinsen zu rechnen, wenn die Baukredite abgelöst werden müssen. Und umgekehrt kann sich jeder Anleger Verluste ersparen, wenn er mit dem Kauf von Obligationen zuwartet, bis die höheren Zinsen sich vom kurzen zum langen Ende durchgefressen haben. Die Folge: Es gibt kein Geld, zumindest kein günstiges Geld für Investitionen.
Glückliche Schweiz – noch signalisieren diese Mechanismen keine Gefahr. Die Zinsabhängigkeit der Firmen ist dank höherer Eigenfinanzierung geringer, und die Konsumenten sparen meistens, bevor sie kaufen. Der Frankenkurs hat sich gegenüber den Hauptkunden in Europa nur wenig aufgewertet, die Inflation ist nur halb so hoch wie in den USA, und die produzierende Industrie boomt. Noch im Herbst stieg der Ausstoss gegenüber dem schon sehr guten Sommer um fast sieben Prozent, der Auftragseingang um zwölf Prozent, und die Arbeitsreserven explodierten um zwanzig Prozent.
Doch der Blick nach vorn wirkt ernüchternd. Die Nationalbank hat die Zinsen letztes Jahr erhöht und vorerst nicht gesenkt, ja sie drückte die umlaufende Geldmenge gegenüber dem Vorjahr um 2,6 Prozent zusammen. Euro-Land dagegen vermehrte das Geld um fünf Prozent. Dies wird den Franken eher knapper machen und gegenüber dem Euro etwas anheben, was zwar die Zinsen gegenüber Euro-Land tiefer hält, aber die Exporte leicht verteuert.
Die Einkäufer der Industriefirmen vermelden auch in der Schweiz ruhigere Transaktionen; ihr Index fiel von den 66 Punkten des Sommers auf noch 58,3 Punkte im Dezember. Mit einem Wert über 50 Punkten dampft die Industrie aber immer noch in der Expansion – und mit ihr der Rest der Volkswirtschaft. Technisch gesehen, haben die Notenbanker demnach alles im Griff. Die zweite Jahreshälfte dürfte weiteres Wachstum bringen. Die Fallgruben einer weichen Landung aber bleiben ein Dollarzerfall, ein Finanzcrash mit Konsumentenstreik trotz Zinsenkung («Liquiditätsfalle»), ein Ölpreisschock oder der Ausfall Asiens als Kunde. Augen auf!
Die Frühwarnsysteme weisen in den USA auf eine Abschwächung der Wirtschaft hin, während die entsprechenden Indikatoren in der Schweiz nach wie vor Wachstum anzeigen. Doch ist unser Land gegen Fallgruben wie Dollarzerfall oder Ölpreisschock nicht gefeit.
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Veröffentlicht am 30.06.2002 - 02:00 Uhr
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