Die Frau wird von Anfang an unter Strom stehen. Wenn Jasmin Staiblin per Anfang 2013 den CEO-Posten bei Alpiq übernimmt, warten dort unzählige Herausforderungen. Der Oltner Energiekonzern kämpft mit Umsatz- und Gewinnrückgang, muss seinen Weg in der bundesrätlich verordneten Energiewende finden und trotz unsicheren Zeiten Investitionen auf Jahrzehnte hinaus sichern. Die süddeutsche Managerin, die von der ABB-Länderchefin Schweiz zur Strom-Baronin wird, bringt aber noch mehr Arbeit mit. Staiblin ist nebenher auch Verwaltungsrätin bei Georg Fischer (GF), der Neuen Aargauer Bank (NAB) und Rolls-Royce. Olten, we have a problem.
Neben der eigenen CEO-Tätigkeit firmenfremde VR-Posten zu halten, ist heute nicht mehr en vogue. Chefs, die ihren Mitarbeitern volle Fokussierung und totalen Einsatz diktieren, selber aber Zeit finden, an VR-Sitzungen branchenfremder Firmen im In- und Ausland teilzunehmen, senden eine merkwürdige Botschaft. Roy Hitchman, Präsident der gleichnamigen Executive-Search-Firma, sagt: «Grundsätzlich ist der CEO dafür bezahlt, dass er CEO ist. Ich befürworte es deshalb, dass sich ein CEO ausschliesslich auf seinen Job als CEO konzentriert.» Ähnlich sieht es Christian Wunderlin, Präsident des Vereins SwissVR, der sich für Professionalität und Qualität von Schweizer Verwaltungsräten engagiert: «Wenn jemand operativ tätig ist und darüber hinaus vermehrt VR-Mandate anstrebt, dann weckt das bei mir eine gewisse Grundskepsis.» Und die Compliance-Professorin Monika Roth fragt sich, «wie Jasmin Staiblin den Job bei Alpiq machen will, wenn sie nebenher noch in drei Verwaltungsräten sitzt. Der Wechsel an die Alpiq-Spitze muss zumindest zu einer Bereinigung führen» (siehe Interview).
Jagd nach Mandaten. Jasmin Staiblin ist nicht die einzige Mandate-Grosswildjägerin. Auch Axpo-Chef Heinz Karrer findet neben Ämtern bei Firmentöchtern Zeit für VR-Sitze bei Kuoni und Notenstein; André Kudelski, CEO und Präsident der Kudelski Group, bringt sich nebenher in den Boards von Edipresse, Dassault, Nestlé und HSBC Private Bank Schweiz ein. Panalpina-Chefin Monika Ribar sitzt in den Verwaltungsräten von Logitech, Sika und Swiss, und Michael Pieper, Gründer und CEO der Franke Artemis Group, macht sich bei Autoneum, Berenberg, Forbo, Hello, Rieter, Adval Tech und Hero breit. Ab 2013 tritt er kürzer. Er gibt die operative Leitung ab.
Zusätzliche Mandate wären für Staiblin nicht ausgeschlossen. Denn bei Alpiq gibt es gemäss Sprecher Martin Stutz «keine rein quantitative Begrenzung der VR-Mandate». Entscheidend sei vielmehr, dass der Firmenpolitik nachgelebt werde. Priorität bei VR-Mandaten hätten Gesellschaften, an denen Alpiq Beteiligungen hält, sowie Branchenorganisationen. Nahestehende Branchen seien zulässig, sofern es im Hinblick auf Best Practice, Netzwerk, Erfahrung und dergleichen einen Zusammenhang mit der Tätigkeit von Alpiq gebe. «Und», sagt Stutz, «sofern sich der damit verbundene Aufwand mit den Aufgaben der Führungsposition vereinbaren lässt.»
Genau das ist der springende Punkt. Laut dem erfahrenen Headhunter Bjørn Johansson bringt ein VR-Mandat 18 bis 28 Tage Arbeit pro Jahr. Bei rund sieben Sitzungen plus Meetings der einzelnen Committees fällt mehr an als nur ein kurzes Abnicken der Traktanden. Bei drei Mandaten sind da schon einmal 60 Tage in der Agenda blockiert. Reisen ins Ausland erweisen sich als zusätzliche Zeitfresser. Natürlich können daraus für einen CEO und seine Firma Erkenntnisgewinne resultieren, kann ein Einblick in eine andere Branche helfen, Trends frühzeitig zu erkennen. Gerade bei branchenfremden Firmen aber erhöht sich der zeitliche Aufwand, um an die relevanten Informationen zu gelangen. «Eines oder maximal zwei Mandate können nützlich sein, um den eigenen Horizont zu erweitern», sagt Christian Wunderlin. «Was darüber liegt, ist zu viel.»
Spuhler als Vorbild. Wenn der Teppich brennt im eigenen Betrieb, stösst auch der bestorganisierte Firmenlenker an seine Grenzen: «Passiert dann etwas Gravierendes im angestammten Unternehmen, bringt das den CEO ins Rotieren.» Für Roy Hitchman ist Peter Spuhler in dieser Hinsicht ein Vorbild: «Indem er sich ausschliesslich auf Stadler Rail konzentriert, handelt er verantwortungsvoll.» Er erkannte die Notwendigkeit, sich nur noch im eigenen Betrieb zu engagieren, und legte daraufhin sein Nationalratsmandat ab. So müssten es auch angestellte CEOs machen, findet Hitchman: «Der Verantwortungsvolle ist fähig, Mandate abzulehnen.»
Es muss nicht immer etwas Gravierendes passieren. Es reicht schon wenig. Das regulatorische Terrain ist zunehmend vermint, die Vorbereitung auf Verwaltungsratssitzungen zeitintensiver. Woher die Zeit nehmen in einem Wirtschaftsleben, das kurzfristiger, schneller und volatiler ist als früher und das von den Konzernlenkern volle Konzentration fordert, um die Spur zu halten? «CEOs sind heute stärker unter Druck, das führt zu einer Komplexitätsfalle: Es gibt immer mehr zu tun, bei immer weniger Zeit», sagt Josef Felder, ehemaliger Zürcher Flughafenchef. Die Staiblins, Ribars und Piepers sind die Ausnahme der Regel beim Auslaufmodell der CEOs in Verwaltungsräten.
Felder ist ein Vertreter der neuen Generation Verwaltungsräte: Der 51-Jährige gab die Steuerknüppel vor vier Jahren ab und wechselte in den Tower. Immer mehr Manager verlassen im besten CEO-Alter das Cockpit und machen den «Beruf Verwaltungsrat» zum Vollzeitamt. Profi-VR Felder sitzt beim taiwanesischen Technologiekonzern HTC, bei der Luzerner Kantonalbank, der Amag und bei einigen kleineren Unternehmen im Aufsichtsgremium.
Die Profi-VR-Karriere ist ein jüngeres Phänomen, eine Art zweite Karriere. Professorin Monika Roth: «Dieser Wandel ist eine Entwicklung, die dem veränderten Bewusstsein der Verantwortung eines Verwaltungsrates Rechnung trägt.» Corporate Switzerland ist in Corporate-Governance-Belangen relativ gut unterwegs. Bereits vor zehn Jahren hielt sich das Mandatesammeln bei den Schweizer Blue-Chip-Unternehmen in Grenzen. Unter den SMI-Konzernen sitzt heute bloss Nestlé-Lenker Paul Bulcke in mehr als einem nicht firmeneigenen Aufsichtsgremium. Mit Roche und L’Oréal (Nestlé hält rund 26 Prozent) allerdings in zwei zeitintensiven.
Im Krisenmodus. Bei Franz Humer gab es das nicht. Als der heutige Roche-Präsident vor zehn Jahren an die Spitze des Pharmakonzerns berufen wurde, verzichtete er auf die Mandate bei der «Zürich» und dem britischen Getränkeriesen Cadbury Schweppes. Der Grund: Fokus auf den CEO-Job. Die Zeit gab ihm recht. Nach der jüngsten Wirtschaftskrise stiegen die Anforderungen an Verwaltungsräte sprunghaft, der Zeitaufwand potenzierte sich. Die UBS schaltete 2008 in den Krisenmodus, der Verwaltungsrat beriet sich fast 70 Mal, die Aktionäre waren zu vier Generalversammlungen geladen.
Andere Verwaltungsräte mussten wieder voll in die Hosen steigen wie Daniel Sauter. Der heutige Julius-Bär-Präsident war 2002 gewöhnliches Mitglied des Verwaltungsrates des klammen Modekonzerns Charles Vögele, als er interimistisch als Finanzchef einspringen musste. «Hätte ich mehr Mandate gehabt, wäre das zeitlich nicht möglich gewesen.» Bis 2001 hatte Sauter den Rohstoffkonzern Xstrata gesteuert. Doch damals hatte er genug. Während andere mit 44 Jahren richtig durchstarten, kündigte er. «Ich hatte über viele Jahre die Kerze an beiden Enden angezündet. Das wirkt sich auch auf die Lebensqualität aus, und die Familie kommt zu kurz», sagt er.
Es war die Zeit, in der Corporate Governance verstärkt zu greifen begann, viele Unternehmen machten sich Gedanken über die Zusammensetzung ihres Verwaltungsrats. «Als ehemaliger CEO und CFO ohne exekutive Funktion war ich aus deren Sicht für ein Mandat geeignet.» Heute sitzt er in den Aufsichtsgremien von Sika, Julius Bär und einigen kleineren Firmen.
Das Zeitmanagement ist entscheidend. Sauter ist seit diesem Frühjahr VR-Präsident der Bank Bär. «Deshalb trat ich aus dem Sulzer-VR aus. Ein VR-Profi muss seine Zeitressourcen gut einteilen.» Allein die Einarbeitungszeit für ein VR-Mandat benötige ein bis zwei Jahre. «Die darf man sich ruhig nehmen zum Verständnis aller Zusammenhänge.»
Die Liste der Profiverwaltungsräte wird länger: Rolf Dörig (Präsident Adecco und Swiss Life), Peter Küpfer (Holcim), Renato Fassbind (Swiss-Re-Vizepräsident), Andreas Schmid (Flughafen-Zürich-Präsident), Gilbert Achermann (Straumann-Päsident), Max Katz (Charles-Vögele-Vizepräsident), David Sidwell (UBS), Alexandre Zeller (ab Mai 2013 SIX-Group-Präsident). Ein illustrer Kreis mit grosser operativer Erfahrung, der jedem Verwaltungsrat gut anstände.
Operative gefragt. Doch Headhunter Roy Hitchman sagt: «Einige meiner Klienten lehnen Profi-Verwaltungsräte ab. Sie wollen Leute, die noch operativ tätig sind und dadurch sehr nahe am Business stehen.» Möglich ist das kaum mehr, angefragt wird trotzdem. Kommt hinzu, dass der Verwaltungsrat für die unternehmensfremden Mandate meistens das Plazet geben muss. In der Regel hält das der Arbeitsvertrag fest. Profi-VR Josef Felder bedauert die Entwicklung. «Ich befürchte, dass immer weniger CEOs in Verwaltungsräten Einsitz nehmen. Viele SMI-CEOs könnten aber Erfahrungen einbringen, die wertvoll sind.»
Die Situation ist vertrackt: Unternehmen suchen aktive CEOs für ihre Verwaltungsräte, doch denen fehlt wegen der zunehmenden Komplexität beider Jobs die Zeit.
Mangelware Verwaltungsrat? Wer den klassischen operativen Vertreter sucht, wird bei der VR-Suche zunehmend zum Klinkenputzer. Felder: «Man wird künftig neue Longlists machen müssen. In der Vergangenheit war das relativ einfach: Es tauchten immer die gleichen Namen auf.» Dazu kommt das Problem der Entschädigung. Zwar werden die hiesigen Verwaltungsräte im internationalen Vergleich gut bezahlt, eine operative Tätigkeit bringt aber weit mehr. Felder: «Sucht man vollberufliche Verwaltungsräte, wird man nicht darum herumkommen, das Entschädigungsmodell angesichts des steigenden Aufwands anzupassen.»
Es braucht auf Verwaltungsratsstufe einen Paradigmenwechsel. Die operative Tätigkeit ist ein Qualifikationskriterium unter vielen. «Es braucht im Sinne der Good Corporate Governance aber eine Durchmischung mit verschiedenen Backgrounds», sagt Bank- und Finanzprofessorin Sita Mazumder: Frauen, Männer, Junge, Alte, international Erfahrene, Theoretiker und Praktiker. Damit liesse sich auch das Problem der Mandate-Grosswildjagd lösen, besonders bei Frauen wie Jasmin Staiblin und Monika Ribar. Frauen sind zwar bei der Besetzung von Verwaltungsräten ein grosses Thema – aber sie sind in Toppositionen noch spärlich vertreten. Deshalb kommen bei VR-Wahlen immer die gleichen Managerinnen in die Kränze. Doch auch für Staiblin und Ribar gilt: Es ist nicht verboten, Angebote abzulehnen.