Robert Essner, Chef des US-Pharmakonzerns Wyeth, sieht in den kommenden Jahren eine weitere Übernahmewelle auf die Branche zukommen. «Zwischen den 12 bis 15 grössten Pharmaunternehmen wird es eine weitere Konsolidierung geben», sagte er Anfang September gegenüber Dow Jones Newswires in London. Sein Unternehmen sei dabei kein Übernahmekandidat. «Wir sind nicht leicht zu schlucken», meinte er im Brustton der Überzeugung. Wyeth wolle beim anrollenden Übernahmepoker aber auch keine Rolle spielen.

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Essner könnte sich täuschen. Wolf oder Lamm, fressen oder gefressen werden, der globale Konkurrenzkampf straft ein Abseitsstehen gnadenlos ab – aber auch mangelnde Schnelligkeit, wie das Beispiel Novartis zeigt. Nachdem der französische Pharmariese Sanofi – mit gütiger Hilfe der französischen Regierung – Novartis die deutsch-französische Aventis weggeschnappt hatte, herrschte in der Basler Konzernzentrale ziemliche Konsternation. Der Überraschungscoup der Franzosen hat der Vorwärtsstrategie von Konzernchef Daniel Vasella einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Novartis hat sich mittlerweile vom Schock erholt und setzt mit der Übernahme von Hexal und Eon Labs sowie mit dem geplanten Kauf von Chiron voll auf Wachstum.

Konsolidierung ade? Mitnichten. Wyeth-Chef Essner hat in London nur ausgesprochen, was unter Branchenkennern als ausgemachte Sache gilt. Der globalen Pharmaindustrie stehen in naher Zukunft gewaltige Eruptionen bevor. «Der Konzentrationsprozess in der Industrie wird zweifellos weitergehen», ist auch Hernani de Faria, Pharma-Analyst bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB), überzeugt. In anderen Branchen wie etwa der Nahrungsmittel- und Aluminiumindustrie hätten einzelne Unternehmen Marktanteile von über 20 Prozent, was in der Pharmaindustrie nicht der Fall sei.

In der Tat. Die Industrie ist im laufenden Konsolidierungszyklus nicht allzu weit fortgeschritten. Die Branche hat sich in jüngster Zeit eher geografisch arrondiert – in Richtung anglo-amerikanischer Dominanz. Der US-Konzern Pfizer, im Jahr 2004 mit einem Umsatz von 52,5 Milliarden US-Dollar der Platzhirsch unter den Pharmariesen, bringt es global auf elf Prozent Marktanteil. Schon etwas abgeschlagen folgen die englische GlaxoSmithKline (GSK) mit sieben Prozent, Merck (USA) und Sanofi-Aventis mit je fünf Prozent. Novartis landet mit 4,5 Prozent auf dem fünften Rang, und Roche folgt mit 3,2 Prozent hinter der US-Firma AstraZeneca auf Platz sieben.

Im Poker um die vorderen Plätze in der globalen Pharmaindustrie stehen die Multis aus der Schweiz nicht so schlecht da. «Die hiesigen Pharmaunternehmen haben die sich klar abzeichnenden globalen Trends bereits vor längerer Zeit antizipiert und sich entsprechend aufs Wachstum ausgerichtet», sagt Karl J. Deutsch, Vice President von A.T. Kearney (ATK). Die Beratungsfirma hat sämtliche globalen Player der Pharmaindustrie auf Wachstums- und Gewinnentwicklung der letzten fünf Jahre hin untersucht.

Gemessen am Umsatz- und Gewinnwachstum der letzten fünf Jahre ist Novartis zwar unter den Underperformern, den Verlierern, zusammen mit Bayer, Eli Lilly, Merck, Schering-Plough, Wyeth und anderen. In den letzten fünf Jahren ist die Firma jährlich nur um rund sechs Prozent gewachsen, während GSK und Pfizer Umsatz und Gewinn um 17 beziehungsweise 14 Prozent hochgeschraubt haben. Aber der Platzhalter unter den Schweizer Pharmafirmen liegt mit dem US-Konzern Abbott im oberen Segment und ist durch die realisierten und geplanten Zukäufe auf dem Sprung zu den Value-Growers, den Firmen mit dem höchsten Umsatz- und Gewinnwachstum.

Blendend im Ranking präsentiert sich die Genfer Serono. Die Westschweizer Biotechfirma mit einem Umsatz von 2,4 Milliarden Dollar hat die Verkäufe um 17 und den Profit um 19 Prozent gesteigert, liegt also etwa gleichauf mit GSK. Roche, vor kurzem noch auf der Verliererseite, ist mit rund zwölf Prozent Gewinnwachstum ins Feld der profitorientierten Firmen vorgestossen. Die Nummer zwei im Basler Pharmacluster dürfte in den kommenden Jahren steil nach oben zu den Value-Growers stossen, sie wächst derzeit dreimal so schnell wie der Gesamtmarkt.

Actelion dagegen ist ein Umsatzturbo – mit einer Steigerung von über 40 Prozent. Nur beim Gewinn hapert es bei der Allschwiler Biotechfirma derzeit noch ziemlich, denn dieser ist nahe bei null. Actelion ist vor den Biotechkonkurrenten Biogen Idec und Genzyme die Nummer eins unter den Wachstumsfirmen. Von den traditionellen Pharmaproduzenten kann in diesem Segment nur Sanofi-Aventis mithalten – dank dem jüngst erfolgten Merger.

Weit abgeschlagen im von A.T. Kearney untersuchten Firmenuniversum liegt Berna Biotech, die Berner Impfstoff- und Serumsproduzentin. Ihr Verlust beträgt zehn Prozent des Umsatzes, der mit plus sieben Prozent im Vergleich zur Konkurrenz nur marginal wächst. Sie ist die einzige Biotechfirma, die sich unter den absoluten Verliererinnen platziert hat. Alle anderen sind entweder umsatz- oder gewinnorientiert oder befinden sich gar wie die Roche-Tochter Genentech im Feld der Value-Growers.

Die Schweizer Pharmafirmen müssen sich sputen, wollen sie im künftigen Übernahme- und Fusionsspektakel mithalten. Die Untersuchung von A.T. Kearney zeigt die Herausforderungen der hiesigen Pharmafirmen deutlich auf. Alle Value-Growers – in der Grafik rechts oben platziert – wachsen beim Umsatz und Gewinn mit hoher Kadenz und im zweistelligen Bereich. Kommt dazu: «In den letzten Jahren haben viele milliardenschwere Akquisitionen stattgefunden», sagt Deutsch. Und die Value-Growers waren dabei. Alle haben einen oder mehrere Merger über die Bühne gebracht. Pfizer kaufte Pharmacia, Glaxo Wellcome erwarb SmithKline Beecham, Amgen kaufte sich Immunex und Tularik, während Sanofi sich die Aventis einverleibte.

Nicht so die beiden grossen Traditionsfirmen vom Basler Rheinknie. Novartis hat seit dem Jahr 2000 eine Reihe von kleineren und mittleren Firmen erworben und plant weiter Akquisitionen – vorab im Generikabereich. Doch der ganz grosse Coup ist Novartis-Chef Vasella bislang verwehrt geblieben. Auch die Roche-Gruppe hat einige wichtige Übernahmen unter Dach gebracht, vorab im Biotechbereich. Für Roche-Chef Franz B. Humer indessen steht – im Gegensatz zu Vasellas Intentionen – eine Grossakquisition nicht zuoberst auf dem Strategiepapier. Organisches Wachstum und Arrondierungen vorab im Biotech- und Diagnostikbereich sind für Humer prioritär.

«Klassisches organisches Wachstum genügt auf die Dauer nicht», sagt ATK-Berater Deutsch. Der internationale Pharmamarkt gilt als stabil, Höhenflüge sind kaum zu realisieren, also muss man akquirieren. Der Schweizer Markt selbst wächst mit acht Prozent unterdurchschnittlich – im Vergleich zum Weltmarkt, der seit 2002 elf Prozent zulegte. Der OTC-Markt, der Absatz von nicht rezeptpflichtigen Medikamenten, geht gar zurück, ist seit 2002 weltweit um neun Prozent geschrumpft. 13 Prozent Wachstum zeigen dagegen die rezeptpflichtigen Medikamente, und der Absatz von Generika stieg im betrachteten Zeitraum gar um 24 Prozent.

Generika sind eine Wachstumsstory – darüber sind sich alle Pharmaspezialisten einig. «Bereits heute ist absehbar», sagt Deutsch, «dass in den nächsten Jahren Originalmedikamente mit derzeit mehr als 40 Milliarden US-Dollar Umsatz den Patentschutz verlieren.» Somit sei zumindest kurzfristig mit einem starken Wachstum im Generikageschäft zu rechnen.

Längerfristig sieht es weniger rosig aus. Es werden immer weniger neue Medikamente patentiert, wodurch der Nachschub an Kopien zurückgeht. Zudem sind die Eintrittsbarrieren für neue Anbieter ausserordentlich tief, da die Rezepturen öffentlich zugänglich sind. Langfristig wird die wachsende Zahl der Wettbewerber die Margen deutlich erodieren lassen. «In diesem Segment», sagt Deutsch, «werden in Zukunft nur die Hersteller mit den grössten Absatzvolumen, den effizientesten Produktionsstätten und den besten Distributionskanälen überleben können.»

Wachstum als Überlebenselixier ist auch für die traditionelle Pharmaindustrie geboten. Das hat verschiedene Gründe:

– Die Pharmafirmen, in einem globalen Markt operierend, sehen sich zunehmend dem Druck nationaler Regulierungen ausgesetzt. «In Europa und Japan drücken die Regierungen die Medikamentenpreise zunehmend nach unten», sagt ZKB-Analyst de Faria. Und das lässt die Gewinne der Pharmafirmen erodieren. In der Schweiz musste die Pharmaindustrie jüngst Preiszugeständnisse in der Höhe von 250 Millionen Franken machen. In den USA mehren sich die Stimmen in der Politik, die ebenfalls Preisnachlässe verlangen. In den Vereinigten Staaten zahlen die Kranken die weltweit höchsten Medikamentenpreise.

– Zu schaffen machen den Konzernen auch die permanent drohenden Sammelklagen in den USA. Der Staat Kalifornien hat 39 Pharmafirmen wegen angeblich betrügerischer Machenschaften eingeklagt. Merck musste das Rheumamittel Vioxx vom Markt nehmen, weil es das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko erhöht. Bayer steht mit dem Cholesterinsenker Lipobay am Pranger, das Muskelschwäche auslösen und für den Tod von 100 Patienten verantwortlich sein soll. Auf beide Unternehmen könnten Schadenersatzforderungen in Millardenhöhe zukommen. Die internationale Pharmaindustrie reagiert mit verschärften Sicherheitsmassnahmen, welche die Entwicklungskosten in die Höhe treiben.

– Forschung und Entwicklung wird in der Pharmaindustrie immer kostspieliger. Die Entwicklung eines Medikaments, sagte Roche-Chef Humer jüngst in einer Rede in Zürich, gleiche «der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen». Lediglich eine von 10 000 geprüften Substanzen erreicht schliesslich Marktreife. Bis es so weit sei, so Humer, «vergehen 10 bis 15 Jahre» – mit Kosten von einer Milliarde Franken. Die F&E-Kosten sind in den letzten 20 Jahren um den Faktor acht gestiegen. Allein Roche hat 2004 über fünf Milliarden Franken in F&E investiert, Tendenz steigend. «Neue Technologien und deren Vernetzung», heisst es in einer Studie der Bank Sarasin, «werden nicht verhindern, dass die Kosten für die Entwicklung neuer Medikamente weiter steigen werden.»

– Auf die zunehmende Komplexität der medizinischen Substanzen und die Medikamentenskandale reagieren die Zulassungsbehörden der Vereinigten Saaten und der EU mit schärferen Kontrollen, was die Entwicklungskosten nochmals hochtreibt. «In den USA», so heisst es in der Sarasin-Studie, «sind die Zulassungszeiten für Arzneimittel angestiegen, bei gleichzeitigem Rückgang der Anzahl zugelassener Medikamente. Die US-Behörden sind also gleichzeitig anspruchsvoller und langsamer geworden.» Dadurch verkürzt sich auch der Patentschutz der Medikamente, was wiederum auf die Erträge drückt.

Trotz hohen Entwicklungs- und Marketingkosten, Preisdruck und Angriff der Generikaproduzenten: Neben der Abwehr potenzieller Gefahren kann die Pharmaindustrie auch Wachstumschancen wahrnehmen. Der Pharmamarkt nimmt mit schöner Regelmässigkeit zu, und ein Einbruch zeichnet sich nicht ab. Wachstumsschübe bringen die Überalterung der Bevölkerung in den Industriestaaten wie auch die schnell wachsenden Märkte in Osteuropa und Asien. Interessanterweise hat China auf Grund der Ein-Kind-Poltik ebenfalls ein Überalterungsproblem. Chronische Krankheiten und Mehrfacherkrankungen nehmen markant zu, und der technologische Fortschritt, insbesondere in der Biotechnologie, bringt neue Wirkungssubstanzen für neue Krankheiten und eine effizientere Heilung alter Gebrechen.

In diesem Umfeld sind die beiden Basler Pharmariesen ausserordentlich gut aufgestellt. Beide sind international breit diversifiziert. Novartis hat fünf und Roche sieben Blockbuster im Medikamentenportefeuille. Letztere ist führend in Biotechnologie und Onkologie, deren Markt in den kommenden Jahren um 17 Prozent wachsen wird. Für Martin Flückiger, Pharma-Analyst der Bank Leu, «ist der Geschäftsverlauf von Roche derzeit überzeugender als bei Novartis». Ihre Produkte seien in einem Bereich situiert, der hohe Preise und Margen bringe. «Die Krebsmedikamente wie MabThera, Herceptin und Avastin wachsen alle sehr schön.»

Aber auch Novartis steht mit einer prall gefüllten Pipeline nicht schlecht da. Rund 50 Wirkstoffe sind entweder in der letzten klinischen Phase (Langzeitstudie mit Patienten) oder stehen direkt vor der Zulassung. «Die beiden Schweizer Pharmafirmen», sagt Flückiger, «sind im Hinblick auf ihre Wachstumstreiber wie vermarktete Produkte, Pipeline und Patente in einer beneidenswerten Position.» Neuere Studien, zum Beispiel der Bank Vontobel, zeigen denn auch, dass sie im Gegensatz zu den angelsächsischen Konkurrenten von auslaufenden Patenten praktisch nicht betroffen sind.

Etwas weniger zukunftsträchtig sind die Perspektiven der Schweizer Biotechfirmen wie Actelion oder Serono, wenn es ihnen nicht gelingt, schnell an Grösse zu gewinnen. «Auch in der Biotechnologie, die dereinst ein Teilbereich des klassischen Pharmamarkts sein wird», so ATK-Vice President Deutsch, «wird es früher oder später genauso auf die Grösse ankommen, um sich erfolgreich gegenüber der Konkurrenz zu behaupten und nicht zum Übernahmekandidaten zu werden.»

BILANZ-Serie Wachstum

Seit den neunziger Jahren leidet die Schweiz an einer chronischen Wachstumsschwäche, Besserung ist nicht in Sicht. Liegt es an den sich verschlechternden staatlichen Rahmenbedingungen, oder ist die Schweizer Wirtschaft im internationalen Vergleich zu wenig agil? In Zusammenarbeit mit der internationalen Beratungsfirma A.T. Kearney hat BILANZ eine Diagnose der Schweizer Schlüsselbranchen vorgenommen.

Bisher erschienen:

– Die Schweizer Versicherungen haben viele Chancen fahrlässig verpasst.
– Die Schweizer Banken sind schlecht gewappnet für die Konsolidierungswelle.

In der nächsten Ausgabe: Die Schweizer Maschinenindustrie verfügt nur über wenige Perlen.

Schweizer Pharmaunternehmen im vorderen Mittelfeld