Da gerät auch ein abgebrühter Nationalrat ins Staunen: «Wenn man diese Dimensionen sieht», sagt Werner Marti als Präsident der Finanzkommission, «dann kommt einem alles, was wir gegenwärtig beim Entlastungsprogramm machen, daneben wie Peanuts vor.» Und die Staatsbürger und Steuerzahler können ihm nachfühlen: Zäh ringt das Parlament darum, den Bundeshaushalt um 3,3 Milliarden Franken zu entlasten, knapst bei Alternativenergien, Asylbewerbern oder Kinderkrippen je ein paar Millionen ab. Daneben öffnet sich ein Schlund, der einen zweistelligen Milliardenbetrag zu verschlingen droht: die Pensionskassen des Bundes und seiner ehemaligen Betriebe, die er inzwischen in die Selbstständigkeit entlassen hat.
Wie viel die Steuerzahler hier noch nachschütten müssen, kann niemand abschätzen. Die Finanzkommission des Nationalrats bekam zwar vor den Sommerferien die Zahlen zur Unterdeckung der Pensionskassen vorgelegt, ihr Präsident zeigte sich zufrieden. «Hässig» habe ihn aber gemacht, sagt Werner Marti, dass gleich die Diskussion um die noch nicht vorliegende Eröffnungsbilanz der Publica losging, der per 1. Juni 2003 selbstständig gewordenen Pensionskasse des Bundespersonals: Die Debatte dreht sich um die Kleinigkeit von einer Milliarde. Die Falltüre ins Fass ohne Boden öffnete der Publica-Direktor in einem Gespräch mit dem «Bund»: Seine Kasse kläre noch ab, welche Rückstellungen sie für Altlasten – die Rede ist von Rentnern – brauche, sagte Peter Düggeli, «sonst kann man uns in drei Jahren den Vorwurf machen: Wo habt ihr eigentlich die Augen gehabt?» Zur Höhe des Bedarfs sagte er: «Es kann sich um sehr hohe Beträge handeln.»
Selbst solch vage Aussagen bedeuten einen Erkenntnisgewinn. Denn in den Neunzigerjahren wusste die damalige Pensionskasse des Bundes nicht einmal, wen sie versicherte; das Parlament argwöhnte, sie zahle auch Renten an Tote. Mit seiner «Chaoskasse» geriet Bundesrat Otto Stich ins Trudeln und verschliss in der Führung gleich mehrere Frauen aus seinem engsten Umfeld. Die Kasse erstickte unter Zehntausenden von ungeklärten Dossiers, das Parlament bekam jahrelang keinen Abschluss mehr, der sich genehmigen liess. Als Kaspar Villiger 1998 als Finanzminister das Problem erbte, feuerte er die ehemalige Bundesratsberaterin Elisabeth Baumann als Direktorin und setzte den bewährten Aufräumer Peter Arbenz als Chefsanierer ein.
Als Lösung bot sich an, die grob geschätzt 170 000 Versicherten der Bundespensionskasse auf verschiedene Kassen aufzuteilen. Jeder der in die Selbstständigkeit entlassenen Betriebe bekam seine eigene Vorsorgeeinrichtung: erst die Swisscom, zum Börsengang herausgeputzt, nämlich von allen Rentnern entlastet; darauf die SBB, die Post, die ehemaligen Rüstungsbetriebe Ruag. Dafür bezahlte der Bund 26 Milliarden Franken, denn er hatte – im Gegensatz zu privaten Arbeitgebern – seinen Anteil an der Vorsorge nicht entrichten müssen, sondern als zu vier Prozent verzinsende Schuld auflaufen lassen. Die Entlassung in die Selbstständigkeit liess sich als Verschiebung von Schulden noch buchhalterisch bewältigen, zuletzt bei der Publica, die per 1. Juni 2003 mit versprochenen zwölf Milliarden begann. Woher also das Problem? Es kommt von Konstruktionsmängeln und Prognosefehlern, von übertriebenen Versprechen und überzogenen Ansprüchen:
Anlagepolitik: Ab 1999, im ungünstigsten Zeitpunkt, verschrieb Kaspar Villiger der Pensionskasse des Bundes ein aggressiveres Anlegen mit einem hohen Aktienanteil. Für die Verluste, die sie deshalb erlitten haben, fordern die Kassen Entschädigungen vom Bund.
Frühpensionierung: Niemand schickt die Angestellten so grosszügig in den Ruhestand wie der Bund und seine Betriebe: Bei SBB, Post, Swisscom und Rüstungsbetrieben liessen sich so Restrukturierungen sozial- und politikverträglich durchziehen. Vor allem die SBB verhalfen auch Leuten aus medizinischen Gründen zu einer Rente, die bei der IV nicht als erwerbsunfähige Kranke galten. In den Branchen öffentliche Dienste, Transport und Kommunikation beträgt so, wie der SP-Nationalrat und Soziologieprofessor Stéphane Rossini feststellt, die Quote an vorzeitig Pensionierten 50 Prozent – gegenüber 14 Prozent im Baugewerbe und 7 Prozent in der Landwirtschaft.
Eigentümerinteressen: Der Bund kann sich zwar auf den Standpunkt stellen, die Post und die SBB müssten selber für ihre Rentner aufkommen – aber die rechtlich selbstständigen Unternehmen können diese Belastung nicht verkraften und müssten sie über ihre Preise auf das Volk abwälzen. Das, meint Preisüberwacher Werner Marti, mache keinen Sinn.
Leistungsprimat: Im Gegensatz zum grossen Teil der Arbeitnehmer in der Privatindustrie sparen die Bundesangestellten nicht – mit einer Mindestverzinsung – ihr Altersguthaben an, sondern ihre Kasse verspricht ihnen dank dem Leistungsprimat 60 Prozent des letzten Lohnes. Um dies einzulösen, müssen die Kassen ihre Kapitalien mit einem technischen Zinssatz von vier Prozent vermehren. Das ist angesichts des Anlageumfeldes seit Ende der Neunzigerjahre nicht mehr möglich. Zurzeit bricht selbst bei der Publica, die vom einstigen Investmentguru Erwin Heri beraten wird, die Ratlosigkeit aus.
Auf diese Dimensionen des Problems machten zuletzt Heinz Zimmermann und Andreas Valda aufmerksam: In «Die Unterdeckung der öffentlichen Pensionskassen», ihrer Studie für Avenir Suisse, beleuchten sie grell die Lage der Kassen von Bund, Kantonen und Gemeinden, die 522 500 Erwerbstätige, also ein Siebtel der Beschäftigten der Schweiz, versichern. Sie schätzen, dass die Unterdeckung der Kassen derzeit 41,3 Milliarden Franken beträgt. Da diese auf dem Leistungsprimat beruhen, reicht eine Aufstockung nicht aus, um die Probleme zu lösen. Denn wenn der technische Zinssatz sinkt, brauchen die Kassen einen höheren Kapitalstock, um die versprochenen Leistungen zu erbringen. «Wird der technische Zinssatz auf 2,5 Prozent gesenkt, erhöht sich die Unterdeckung auf 78,9 Milliarden Franken», stellen die Autoren fest. «Ein solches Szenario ist bei den aktuellen Renditen der Bundesanleihen durchaus realistisch.» Und realistisch ist auch das Fazit, das sie ziehen: «Unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen und demografischen Perspektiven erscheint eine vollumfängliche Sanierung der öffentlichen Pensionskassen unmöglich.»
Wie wollen es Regierung und Parlament dennoch versuchen? Der Bundesrat will noch im Dezember eine Teilrevision des Gesetzes in die Vernehmlassung schicken: Ihre Inhalte seien noch nicht festgelegt, sagt Regierungssprecher Achille Casanova, sie solle aber «die bekannten Probleme anpacken». Über die wichtigste Änderung, die vom Parlament geforderte Umstellung auf das Beitragsprimat, will der Bundesrat auch bis Ende Jahr entscheiden, sodass sie 2005 vom Parlament beraten und Mitte 2006 eingeführt werden könnte. Damit sei noch nicht viel gewonnen, weiss Werner Marti: «Wir müssten einfach vom Leistungs- aufs Beitragsprimat wechseln, sagt SVP-Vertreter Hermann Weyeneth jeweils, wenn er nicht mehr weiter weiss.»
Warum dieses Riesenproblem, bei dem es um ein Viertel der Bundesschulden geht, kein Wahlkampfthema sei, fragte die «Weltwoche». Werner Marti kennt die Antwort: «Als Wahlkampfthemen eignen sich nur Probleme, für die es einfache Lösungen gibt.»
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