BILANZ: Wir sitzen an einem symbolträchtigen Ort, im «Schweizerhof» im Salon Louis XVI. Wer von Ihnen vertritt das Ancien Régime, wer die Revolution?
Peter Hasler: Heute sind wir die Revolutionäre. Wir müssen in diesem Land die Strukturen ändern, sonst stürzen wir in den Abgrund. Aber die Gewerkschaften wollen alle Traditionen bewahren. Nehmen Sie nur die Staatsfinanzen als Beispiel: In den letzten zehn Jahren hat sich die Staatsschuld von 50 auf 120 Milliarden Franken mehr als verdoppelt. Die Gewerkschaften akzeptieren das, weil sie Besitzstände halten wollen. Wir meinen: Da ist die Revolution angesagt.
Paul Rechsteiner: Wir erleben seit längerem eine Umwertung aller Werte: Jene, die sich für soziale Anliegen einsetzen, sollen jetzt konservativ oder gar reaktionär sein. Dabei will die rechte Politik, auch jene des Arbeitgeberverbandes, doch einfach die Besitzstände der Reichen verteidigen oder sogar noch ausbauen. Das lässt sich durchaus als revolutionäres Programm bezeichnen. Für die Linke sind Reformen soziale Reformen
Hasler: Die Reichen sind nicht unser Zielpublikum, sondern die 99,7 Prozent KMUs und die 3,8 Millionen Arbeitnehmer, die von unseren Löhnen leben. Diese Löhne wollen wir erhalten; wenn sich die Rahmenbedingungen verschlechtern, gehen aber Arbeitsplätze verloren. Auch wir kämpfen für den Erhalt der Renten, aber wir wollen und können sie nicht mehr ausbauen. Das will Herr Rechsteiner aber, wenn er eine 13. AHV-Rente fordert.
Wenn Sie, Herr Hasler, sich als Revolutionär sehen, macht Ihnen wohl auch die Attacke der Gewerkschaften nichts aus, Sie planten einen «Sozialstaatsstreich»?
Hasler: Nein, wir wollen den Sozialstaat nicht abreissen, sondern sichern. Ich sehe ihn als Schiff mit Schlagseite: Überall läuft Wasser herein, irgendwann tauchen wir ab. Auch die AHV ist nicht so sicher, wie die Gewerkschaften behaupten. Wir brauchen jetzt ein weiteres Mehrwertsteuer-Prozent, um die Finanzierung zu gewährleisten; dagegen wehren wir uns. Die AHV ist nur sicher, wenn wir alle paar Jahre weitere Mittel hineinpumpen. Aber wir kämpfen dagegen, dem Volk immer mehr Steuern und Abgaben aufzuerlegen.
Rechsteiner: Die AHV hat ein einmalig effizientes Finanzierungssystem. Schauen wir doch einmal auf 1975 zurück: Seither ist die Zahl der Rentnerinnen und Rentner von einer Million auf 1,6 Millionen angewachsen, und wir haben die Renten ausgebaut, kräftig übrigens. In dieser ganzen Zeit liess sich die AHV mit denselben Lohnprozenten bezahlen.
Hasler: Das schon, aber wir brauchten 1999 dazu ein Mehrwertsteuer-Prozent, und jetzt ist ein weiteres geplant. Wir setzen also eine Abwärtsspirale in Gang.
Die Gewerkschaften wehrten sich in den letzten Wochen gegen einen «fundamentalen Angriff auf die AHV». Und dies, weil wegen des Sparpakets der Mischindex einmal ausgesetzt werden soll: Das bedeutet maximal 50 Franken weniger Rente im Jahr. War das nicht ein etwas lächerlicher Anlass für Grossdemonstrationen?
Rechsteiner: Nein, denn es geht wirklich um einen fundamentalen Angriff. Vom Eingriff beim Mischindex, also der Anpassung der Renten an die Entwicklung nicht nur der Preise, sondern auch der Löhne, sind neben den Rentnern vor allem auch die Erwerbstätigen betroffen. Denn mit dem Mischindex werden nicht nur die laufenden Renten angepasst, sondern auch die zukünftigen Renten berechnet. Wenn wir seit 1980 keinen Mischindex gehabt hätten, wäre die einfache Rente heute 220 Franken tiefer. Wer also diesen Faktor verschlechtert, der fährt das ganze Rentensystem herunter: Das ist der Grossangriff.
Hasler: Es trifft zu, dass die Renten sinken, wenn sie nur noch gemäss der Preisentwicklung berechnet werden. Das wollen wir auch nicht, das wäre das absolute Notfallszenario. Wir schlagen vor, die neu festzulegenden Renten nach dem Mischindex, die bereits laufenden Renten aber nur noch nach dem Landesindex zu berechnen. Weshalb soll jemand, der im Alter eine Rente bezieht, noch die Lohnentwicklung mitmachen?
Rechsteiner: Zur Diskussion um den Mischindex kommt die Angstpolitik von Herrn Couchepin mit Herrn Hasler im Schlepptau, der als Scharfmacher vom Dienst auftritt. Diese Politik ist völlig unverantwortlich und hat den perversen volkswirtschaftlichen Effekt, dass die Leute noch viel mehr sparen, als sie in einer übersparten Volkswirtschaft ohnehin sparen.
Hasler: Die AHV hat einfach eine Schwäche: die Demografie. Bisher kamen vier Erwerbstätige auf einen Rentner, 2035 werden es noch zwei sein. Das bedeutet eine Verdoppelung der Belastung. 1993 forderten wir ein Moratorium, 1995/96 zeigten die Berichte des Bundesrates schon die ganze Dramatik. Aber die Linke weigerte sich, sie zur Kenntnis zu nehmen. Wer nur auf Mehreinnahmen setzt, hat natürlich mit dieser Entwicklung kein Problem. Aber wir finden diese Strategie für unser Land schädlich, und wir bekamen bereits Recht: In den Neunzigerjahren lag die Schweiz beim Wachstum unter den OECD-Ländern am Schluss. Inzwischen überholt uns schon Österreich. Die Strategie, die Einnahmen zu steigern, erweist sich also als Katastrophe.
Rechsteiner: Die Demografie ist das grosse Schreckgespenst der rechtsbürgerlichen Politiker. Dabei wirkte sie sich nie entscheidend aus, wie die Geschichte beweist: Bei der Gründung der AHV 1948 betrug das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen – der so genannte Alterslastkoeffizient, um dieses furchtbare Wort zu brauchen – eins zu neun, inzwischen beträgt es bald eins zu drei. Es hat sich also bis heute dramatisch verändert, wenn es denn dramatisch wäre, dass die Lebenserwartung erfreulicherweise ansteigt. Viel wichtiger war stets die wirtschaftliche Entwicklung, die auch durch die Renten gestützt wird. Die Leute leben besser mit der AHV. Sie ist für die Altersvorsorge wirksamer als jedes Bankkonto und jede Versicherungspolice, letztlich auch die Pensionskasse.
Allerdings wirft Ihnen Herr Hasler vor, Sie kämpften nur noch für die Rentner und vergässen die Erwerbstätigen, die für sie aufkommen müssen.
Hasler: Das sehen Sie beispielsweise auch bei den Prämienerhöhungen der Suva. Die Gewerkschaften unterstützten sie zu Lasten ihrer Mitglieder, wir wehrten uns für eine Abdämpfung, wurden aber überstimmt. Das ist der klare Beweis, dass für die Gewerkschaften die Leistungen einer Versicherung wichtiger sind als die Finanzen ihrer Mitglieder. Ich verstehe diese Prioritäten nicht. Gerade die Arbeitnehmer mit kleinen Einkommen werden doch durch Abgaben, Gebühren und Mehrwertsteuer übermässig belastet.
Die Liste geht ja noch weiter: Ob beim Festhalten am Umwandlungssatz, beim Hinnehmen der steigenden BVG-Prämien oder beim Widerstand gegen Sanierungsbeiträge der Rentner – immer vertreten die Gewerkschaften die Inaktiven gegen die Aktiven.
Rechsteiner: Es ist rührend, dass sich neben dem Arbeitgeberverband auch die BILANZ-Redaktion um die Ausrichtung des SGB sorgt.
Wir sind eben auch Arbeitnehmer, zum Teil sogar Gewerkschafter.
Rechsteiner: Da müssen wir einiges auseinander halten. Wenn wir die AHV-Leistungen verteidigen, dann wahren wir natürlich die Interessen der Rentner, also der ehemaligen Arbeitnehmer, aber nicht weniger jene der Erwerbstätigen. Die Jungen von heute sind darauf angewiesen, dass sie im Alter eine planbare Rente bekommen. Beim Mischindex habe ich Ihnen gezeigt, dass ein Aussetzen sie weit stärker trifft. Jede unserer Positionen ist das Ergebnis einer langen Diskussion in den Verbänden, die selbstverständlich die Erwerbstätigen vertreten. Wer die Jungen gegen die Alten ausspielt, der untergräbt die Grundlagen des Sozialstaates Schweiz.
Hasler: Die Gewerkschaften sind die Totengräber des Generationenvertrags. Denn sie bürden die Lasten systematisch den Jungen auf. Diese werden zwar auch einmal alt, aber sie werden schon vorher sagen: Das machen wir nicht mehr mit. Die Solidarität zwischen den Generationen, die wir auch wollen, wird überstrapaziert. Das Armutsrisiko liegt schon heute bei den jungen Familien, wir dürfen sie nicht mehr stärker belasten.
Rechsteiner: Da zeigt sich gerade: Es geht nicht um Junge gegen Alte, sondern um die Interessen der hohen gegen jene der tiefen Einkommen. Jene, welche die Alten als privilegierte Klasse attackieren, verweigern gleichzeitig den Familien die Leistungen, die sie brauchen, wie Mutterschaftsversicherung, Krippenplätze, Kinderzulagen, die diesen Namen verdienen. Der Generationenkampf, der geschürt wird, dient dazu, den Sozialstaat herunterzufahren, zum Nachteil der unteren und mittleren Einkommen bei den Jungen wie bei den Alten.
Bei der Lohnrunde verlangen die Gewerkschaften eine Erhöhung, um das Ansteigen der Lohnabzüge vor allem für BVG-Prämien zu kompensieren. Sollen Ihre Leute nicht merken, wie die Belastung zunimmt?
Hasler: Das zeigt, wie die Gewerkschaften jede Verantwortung verweigern. Sie betreiben die Sicherung der Besitzstände, das führt zu höheren Beiträgen und Prämien. Sie halten an einem unrealistischen Renten-Umwandlungssatz fest ...
Rechsteiner: Und an der Börsenentwicklung und den Rentenanstalt-Manövern sind wir wohl auch schuld.
Hasler: Was bei der Rentenanstalt passiert ist, die so genannte Abzockerei, hat für die Versicherten keinerlei Folgen.
Rechsteiner: Das Vernichten von Hunderten von Millionen?
Hasler: Nein, ein paar Herren haben Geschäfte gemacht. Das ist nur ein privates Imageproblem, das uns allerdings schadet. Aber zurück zum eigentlichen Thema, dass die Gewerkschaften mit ihrer Strategie mehr Einnahmen brauchen. Das bedeutet höhere Lohnabzüge, doch Sie sagen den Arbeitgebern: Wir können nichts dafür, ihr müsst uns einfach mehr Lohn geben. Ihre Politik darf alles kosten, aber Sie wollen die Rechnung nicht bezahlen, und Sie wollen sie auch Ihren Leuten nicht zumuten. Wir können auch nicht dafür aufkommen, sonst verlieren wir Arbeitsplätze. Dabei brauchen wir mehr Beschäftigung, denn alle Ihre Beschwichtigungen bei der AHV beruhen auf dem Wirtschafts- und damit dem Lohnwachstum. Sie müssten Ihren Mitgliedern ehrlich sagen: Wir wollen diese Prämienerhöhungen, sie sind die Folge der Solidarität, die wir von euch verlangen.
Wo könnten Sie sich zu einem Konsens finden, damit diese Revolution nicht tatsächlich zu einer blutigeren Angelegenheit wird?
Hasler: Immer wollen Sie am Schluss einen Konsens – wir wollen doch gar keinen.
Wir könnten uns zumindest darüber einigen, dass es ein Problem gibt, und über die Lösungen streiten.
Rechsteiner: Das Problem ist die Passivität des Bundesrates und des Volkswirtschaftsdepartements, während diesmal – im Gegensatz zu den Neunzigerjahren – die Nationalbank ihre Verantwortung wahrnimmt.
Das Problem sind also nicht die Sozialversicherungen?
Rechsteiner: Unser Sozialstaat ist schlank und übrigens auch wirtschaftlich ausserordentlich produktiv. Aber es braucht in der Wirtschaftskrise eine aktive Politik zum Bekämpfen der Arbeitslosigkeit, damit die Leute mit unteren und mittleren Einkommen eine Perspektive bekommen. Deshalb behalten wir die volkswirtschaftlichen Interessen im Auge, während die Arbeitgeber betriebswirtschaftlich verengt denken.
Hasler: Die Gewerkschaften glauben immer noch, der Staat könne alles regeln. Dabei ufert er längst aus. So sieht das Bundesbudget für die nächsten Jahre eine Ausgabensteigerung von über vier Prozent vor, bei einem Nullwachstum. Das ist doch unverantwortlich. Inzwischen zweifle ich, ob sich die Schweiz nochmals erholen kann. Ich glaube nicht mehr, dass wir die Wachstumsraten von zwei, drei Prozent erzielen, die wir brauchen.
Rechsteiner: Amen.
Also keine Annäherung?
Hasler: Wir sollten nichts beschönigen, die Bürger müssen diese Auseinandersetzungen, etwa die Abstimmung über ein zusätzliches Mehrwertsteuer-Prozent für die AHV, ungeschminkt erleben. Sie sind reif genug, und sie haben jetzt die klaren Botschaften – sie sollen entscheiden.
Zum Thema Sozialwerke lesen Sie auch das Interview mit Bundespräsident Pascal Couchepin