Rein äusserlich ist es ein Sonderfall, es gibt sogar einen Spezialbegriff dafür: «Erdoganomics». Da betreibt ein autokratischer Herrscher eine leichtfertige Wirtschaftspolitik, er macht seinen Schwiegersohn zum Finanzminister, er gängelt die Zentralbank und erklärt die Märkte zu einer patriotischen Sache. Worauf kühl kalkulierende Anleger kalte Füsse bekommen und ihr Geld abziehen. Und so sackte die türkische Lira zum Dollar innert einer Woche um 20 Prozent ab; seit Jahresbeginn hat sich der Wert der Währung halbiert.
Aber was hier geschieht, ist kein Sonder-, sondern ein Regelfall. Und das macht die Devisenkrise am Bosporus so bedenklich.
Denn da spielen Kräfte, die fundamental sind, es laufen Muster ab, die sich stetig wiederholen in der Wirtschaftsgeschichte.
Es fällt zum Beispiel auf, dass auch andere Währungen von so genannten Schwellenländern – die Rupien von Indien und Pakistan, der argentinische Peso, der brasilianische Real – seit Jahresbeginn ihre Absacker erlebten. Dies liess sich zwar ebenfalls jeweils mit nationalen Besonderheiten erklären. Doch stets spielten auch grundlegende Faktoren hinein. Insbesondere der schleichende Anstieg der Zinsen. Das Leben auf Pump wurde teurer, schwieriger und mühsamer. Was wiederum frühere Fehlentwicklungen ans Licht brachte.
Der Fluch des billigen Geldes
Im Fall der Türkei erinnert denn zum Beispiel einiges an das Spanien vor der Finanzkrise: Da wie dort heizte billiges Geld aus dem Ausland jahrelang Unternehmens-Investitionen und Bauprojekte an, ohne dass die Kunden- und Käuferbasis mithalten konnte – bis die Lage am Ende fragil wurde. So bolzte die Türkei in diesem Jahrzehnt beeindruckende Wachstumszahlen, seit 2010 betrug das jährliche Plus im Schnitt 6,8 Prozent. Doch der Boom war zu einem schönen Teil durch fremde Gelder befeuert; laut Daten des Institute of International Finance lasten auf den türkischen Unternehmen inzwischen Fremdwährungsschulden über 5'500 Milliarden Dollar.
Das ging gut, solange die Zinsen (weil tief) und die Währung (weil halbwegs stabil) mitspielten. Eines lässt sich jetzt aber ohne Schultaschenrechner kalkulieren: Wenn die Lira absackt, wird es für alle türkische Schuldner schwieriger, die am Ende die notwendigen Dollar und Euro abzustottern. Und für viele wird es am Ende unmöglich.
Allerdings: Nur der kleinste Teil dieser Verbindlichkeiten bestehen gegenüber dem Ausland; insgesamt liegen die Auslandsschulden der Türkei bei knapp 700 Milliarden Dollar, dies bei einem BIP von 860 Milliarden. Und dabei ist der Anteil von Krediten von Schweizer Banken mit 6,2 Milliarden Dollar notabene beruhigend mager.
Erinnerung an die Asienkrise
Doch die Verhältnisse können schlagartig kippen. Es gibt dazu einen anderen Vergleich, der sich mehr und mehr aufdrängt: Vieles in der aktuellen Situation erinnert an die Asienkrise, die ab Ende 1997 die Finanzmärkte der Welt erschütterte.
Damals begann der Sturm in Thailand, um bald weitere «Tigerstaaten» – wie man das damals nannte – zu erfassen: Indonesien, Malaysia, Südkorea, Philippinen. Die fernöstlichen Länder hatten eine mehrjährige Boomphase hinter sich, gefüttert von Dollar- und Yen-Krediten zu günstigen Zinsen, welche zu Blasen in den Immobilien- und Aktienmärkten führten. Mit steigenden Zinsen schlitterten mehr und mehr Firmen, Private und auch Staaten in Zahlungsprobleme – während zugleich Bath, Rupien, Ringgits und Pesos an Wert verloren: Eine brutale Spirale drehte los.
Kanarienvögel am Bosporus
Heute, zwanzig Jahre danach, mehren sich die Stimmen, wonach die Weltwirtschaft vor fast identischen Abgründen steht: Dann wäre die Türkei nicht einfach in einer hausgemachten Erdogan-Bredouille – eher schon wäre sie die Vorbotin einer ausgemachten «Emerging Markets»-Krise.
Gleich mehrere Experten nannten das Land in den letzten Tagen den «Kanarienvogel in der Kohlenmine», also jenen Vogel, der die Explosion ankündigt, indem er umkippt (siehe etwa hier, hier und hier).
«Etwas leicht Beängstigendes...»
Doch wie akut ist die Explosionsgefahr wirklich? No one knows. Das Risiko lässt sich auch nicht aus früheren Erfahrungen herauslesen. Paul Krugman, der Nobelpreisträger und Kenner von internationalen Krisen, suchte ebenfalls Orientierung im Asien von 1997 und 1998: «Erleben wir den Beginn einer neuen Finanzkrise?», kommentierte er unlängst die Ereignisse in der Türkei: «Wahrscheinlich nicht – aber ich habe schon zu oft gesagt, dass es am Horizont keine Hinweise auf so eine Krise gibt. Etwas leicht Beängstigendes kommt von dort.»
Dennoch kann uns die Asienkrise der späten 1990er insgesamt als Leitbild dienen – und zwar als positives. Denn damals wurde die Weltkonjunktur entgegen ersten Panikattacken kaum angesteckt. Warum?
- Nachdem man Thailand, Malaysia, Korea & Co in den Vorjahren zu den neuen Motoren der globalen Wirtschaft hochgejubelt hatte, zeigte sich nun: Die Export-Bedeutung und Vernetzung dieser Staaten war und ist immer noch überschaubar.
- Der Tourismus – ein wichtiges Standbein – profitierte sogar direkt und rasch vom Währungsverfall.
- Die Regierungen konnten mit Kapitalkontrollen, Schuldenschnitten und Auffangprogrammen etwas Luft beziehungsweise Zeit schaffen.
- Und vor allem: Entschlossene Stützungsprogramme für die einzelnen Länder durch den Internationalen Währungsfonds halfen, den Währungsverfall zu bremsen.
Am Ende schafften es die «Tigerstaaten» bereits fünf Jahre nach dem Einbruch wieder zu Wachstumsraten im Bereich von 8 Prozent. Bis zur nächsten Finanzkrise.
Paul Krugman wies nun allerdings darauf hin, wie entscheidend die entschlossene Koordination der Regierungen damals war. «Man braucht eine Regierung, die sowohl flexibel als auch verantwortungsbewusst ist, obendrein technisch kompetent genug, um spezielle Massnahmen durchzuführen. Und ehrlich genug, um diese Durchführung ohne massive Korruption zu schaffen. Leider tönt das nicht nach der Türkei von Erdogan.»