Es ist spät am Nachmittag, und die Sonne wirft grossflächige Wolkenschatten auf die Berghänge in Argentiniens Nordwesten. Donald Hess setzt die Sonnenbrille auf und zieht den Hut tiefer ins Gesicht. Langsam steuert er seinen beigen Mitsubishi-Geländewagen über eine enge Geröllpiste, der Höhenmesser am Armaturenbrett zeigt 2200 Meter über dem Meeresspiegel. Abrupt stoppt Hess den Wagen und hält vor einem Rebberg.
Dicke, violette Trauben hängen an den grünen Pflanzen.
Hess steigt aus, pflückt eine Malbec-Traube und drückt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. «Sie ist noch etwas hart», findet er, probiert und sagt: «Sie ist süss.» Aber nachdem er die Kerne ausgespuckt hat, meint er: «Sie sind noch nicht reif.» Es fehlen noch zwei Wochen bis zur Weinlese.
Der Rebberg steht in der argentinischen Provinz Salta, nahe der Grenze zu Bolivien. Seit 2001 baut Donald Hess Wein an, in Australien und Südafrika und auch in Südamerika. Seine Estancia Colomé, gelegen im abgeschiedenen Calchaquí-Tal, ist ein ambitioniertes Projekt; die Trauben wachsen auf Höhenlagen zwischen 2200 und 3015 Metern. Der dazugehörende Rebberg El Arenal soll der höchstgelegene der Welt sein. Doch um in Colomé Spitzenwein zu produzieren, waren titanische Anstrengungen nötig. Hess liess mehrere Häuser errichten, eine Kirche, einen Dorfplatz und ein Geschäft mit Kneipe; er liess Wasserleitungen verlegen und wird bald mit Turbinen seinen eigenen Strom produzieren. Kern des Projekts ist eine historische Estancia im Kolonialstil, die Hess in ein Luxushotel mit nur neun Zimmern verwandelt hat.
Nicht nur die Infrastruktur ist eine Herausforderung, sondern auch die Logistik. Von der Provinzhauptstadt Salta bis nach Colomé sind es nur 220 Kilometer. Doch für die 220 Kilometer braucht man mit dem Geländewagen viereinviertel Stunden, wenn alles glatt geht. Die ersten 44 Kilometer auf der asphaltierten Ruta Nacional 68 laufen problemlos. In dem Ort El Carril steht die letzte Tankstelle, dann geht es auf die Provinzstrasse 33, eine enge Geröllpiste. Die Kulisse ist atemberaubend. Es geht vorbei an roten Felswänden und dichten Kakteenhainen, durch grüne Täler und gelbe Steinwüsten. Neben der Strasse stehen Lamas, in der Luft kreisen Kondore. Der Wagen kämpft sich auf den engen Bergpässen Meter für Meter vorwärts. Es gibt wenige Brücken, die meisten Flüsse fliessen über die Strasse, und man fragt sich: Wer kam auf die Idee, hier Wein anzubauen?
Colomé ist das älteste noch in Betrieb befindliche Weingut Argentiniens, über 170 Jahre lang war es im Besitz einer Familie. Die alte Weinkellerei steht noch. Sie ist terrakottafarben gestrichen und mit einem Strohdach bedeckt. Auf dem Balken über der blauen Türe steht «Colomé 1854». Daneben steht jetzt das Hotelgebäude mit Satelliten-Internet, Souvenir-Shop und Konferenzsaal.
Zum ersten Mal wurde Hess im Jahr 1996 auf Colomé aufmerksam. In einem Restaurant in der Provinzstadt Cachi probierte er den Wein und befand sofort: «Das ist ein Rohdiamant.» Er wollte gleich nach Colomé fahren, um sich das Gut anzusehen. Doch die Strasse war wegen Überschwemmungen gesperrt. Erst 1998 schaffte er den beschwerlichen Weg nach Colomé. Im Jahr 2001 kaufte er das Weingut.
Seither ist Hess Herr über ein Tal von 39 000 Hektar Fläche, etwa zweimal so gross wie Liechtenstein. Wein baut er derzeit jedoch nur auf knapp 100 Hektar an, 200 Hektar sind das Ziel. Trotzdem hat sich der Kauf gelohnt. «Die vielen Berge sind wichtig, sie geben uns das Wasser», sagt Hess. Er sitzt im schweinsledernen Sessel in der Bibliothek seines Hotels und zündet sich eine Pfeife an. «In Colomé», sagt er, «haben wir optimale Bedingungen.» Das Klima der Höhenlage sei ideal. 350 Sonnentage im Jahr gibt es in Colomé, es ist sehr trocken, die Trauben bleiben vor Pilzerkrankungen verschont. Für Hess ein weiterer Pluspunkt, denn er arbeitet in Colomé biodynamisch. «Und wenn man ohne Chemie arbeitet, ist die Feuchtigkeit ein Werk des Teufels», sagt er. Auch die starken Temperaturschwankungen sorgen für optimale Bedingungen: Im Winter kann das Thermometer nachts schon mal auf minus 14 Grad fallen, steigt dann aber wieder auf plus 24 Grad. Dadurch entwickeln die Trauben genügend Säure. Zucker haben sie bei der starken Sonne der Südhalbkugel ohnehin genug. Daher sagt Hess: «Wir suchen in den Trauben nicht Zucker, sondern Reife.»
Das Klima mag optimal sein in Colomé. Aber es gab keine Infrastruktur. Als Hess im Jahr 2001 hier ankam, funktionierte noch nicht einmal das Telefon. Und so muss Hess ein komplettes Dorf bauen. Auf einem Hügel, von dem man einen herrlichen Blick auf die Estancia und die Reben hat, liegen neue Rohre neben einem Wasserfall. Arbeiter rühren im Zement und legen Fundamente für schwere Eisenträger, welche die Wasserleitungen halten sollen. Hess sammelt das Wasser aus den Bergen oberhalb der Estancia in einem Becken , das 30 Millionen Liter fasst. Schon bald soll es von dort in eine Turbine gelenkt werden. Dann erzeugt Hess auch noch seinen eigenen Bio-Strom – bis zu seiner Ankunft gab es in Colomé gerade mal ein Notstromaggregat.
Der Einzug von Hess hat das Leben in der bitterarmen Gegend verändert. Seit der Schweizer dort baut, ist ein reicher Geldsegen auf das Tal niedergeregnet, in Form von Stromleitungen und Strassen, Gebäuden und Pflanzen. Kurz: Hess hat Arbeitsplätze geschaffen. Doch wenn man ihn fragt, ob ihn die Leute im Tal für einen Spinner halten, dann sagt er geradeheraus Ja. Nach einer Pause fügt er an: «Die halten mich für verrückt.»
Vielleicht muss man verrückt sein, um ausgerechnet in Colomé ein Dorf aus dem Boden zu stampfen. 15 Millionen US-Dollar wird die Hess Group in Colomé investieren. Neben der Infrastruktur hat Hess die Kellerei aufgebaut. In einer Halle stehen Stahltanks, Eichenfässer stapeln sich in einem klimatisierten Raum, daneben ist ein Labor untergebracht und eine Abfüllanlage. Und hinter der Estancia liegt ein junger Rebberg mit Malbec-Pflanzen.
Doch Weinbau braucht Zeit. Bevor überhaupt Reben angepflanzt werden können, muss der Boden zwei Jahre lang bearbeitet werden, erst im dritten Jahr werden die Wasserleitungen gelegt und die Reben gepflanzt. Bis zur ersten vollen Ernte werden neun Jahre vergehen. Und dann muss der Wein erst einmal liegen. «Es dauert elf Jahre», so Hess, «bis man damit das erste Geld verdient.» Wenn alles glatt geht.
Bei Hess ging nicht alles glatt. Ameisen frassen ihm ein Drittel seiner jüngsten Reben weg, er musste sie neu pflanzen. Wenige Wochen nachdem er Colomé gekauft hatte, hagelte es – zum ersten Mal seit fünfzig Jahren. Und dann kollabierte Ende 2001 auch noch die argentinische Wirtschaft. Die Regierung musste den im Wechsel eins zu eins an den Dollar gebundenen Peso freigeben und sich gegenüber seinen Gläubigern zahlungsunfähig erklären. Die Krise war wie ein Schock für das Land; niemand wollte etwas verkaufen, aus Angst, ein schlechtes Geschäft zu machen. Hess konnte zwei Monate lang kein Material für seine Bodega kaufen, die im März 2002 für die erste Ernte betriebsbereit sein musste.
Aber das konnte den heute 68-Jährigen nicht schrecken. 45 Jahre lang hat er als Alleinherrscher die Hess Group geleitet und einiges Ungemach überstanden. Im Jahre 1957 übernahm er nach dem Tod seines Vaters im Alter von nur 20 Jahren die Firmen der Familie. Dazu gehörten die Steinhölzli-Brauerei in Bern, mehrere Restaurants, ein Hotel in Marokko und ein kleines Schloss mit Rebberg zwischen Lausanne und Genf.
Hess verkauft das Weingut, weil der Wein sauer war, zwölf Jahre später verkaufte er die Brauerei wegen des starren Bierkartells. 1960 erwarb er dann mit einem Partner die Valser Quellen. Bis dahin hatten die Quellen zu einem heruntergekommenen Kurhaus gehört, und «niemandem war in den Sinn gekommen, ein Mineralwasser daraus zu machen», erzählt Hess. Mit dieser Idee legte er den Grundstein für sein privates Imperium. Die Hess Group wuchs, erwarb Immobilien, baute mehrere Weingüter auf und einen Weinvertrieb. Im Jahr 2002 schliesslich verkaufte Hess die Valser Mineralquellen AG an Coca-Cola. Den Preis dafür hat er nie genannt. «Ich kann aber sagen, dass es für beide Seiten ein guter Preis war», sagt er.
Colomé ist sein letztes Projekt für die Hess Group, die er schon 2001 verliess, nachdem er seine 100 Prozent an den Aktien der Gruppe in eine Familienstiftung hatte fliessen lassen. Nahe bei Colomé baut sich Hess jetzt in El Arenal auf 3000 Metern Höhe ein Haus. Von Dezember bis Juni lebt er mit seiner Frau Ursula in Argentinien. Die restlichen sechs Monate reist er durch die Welt und kümmert sich um die Hess Collection, seine Kunstsammlung. «Ich will einfach einmal in Ruhe mit meiner Frau spazieren gehen, oder drei Tage lang nichts tun», sagt er über seine Pläne. Das klingt nach Entspannung.
Doch er arbeitet wie im Akkord. Noch verkauft Hess wenig Wein aus Colomé, 27 000 Flaschen werden es in diesem Jahr sein, im kommenden Jahr sollen es schon über 60 000 Flaschen werden – wenig im Vergleich zu den 14 Millionen Flaschen, welche die Hess Group weltweit produziert. Sein Augenmerk richtet sich aber weniger auf die Quantität als auf die Qualität der Weine. Zwei Sorten exportiert er aus Colomé: den Colomé Estate und den Colomé Reserva. Der Estate lagert 12 Monate in Eichenfässern, der Reserva 18 Monate. Beide sind Malbec-Blends, die der Önologe Randle Johnson von den Reben in Colomé zusammenstellt. Regelmässig müssen sie zur Qualitätskontrolle degustiert werden.
Zusammen mit seiner Frau und Randle Johnson sitzt Hess auf der Terrasse seines Hotels. Hinter ihm ragt die schneebedeckte Spitze des 6380 Meter hohen Nevado de Cachi in den blauen Himmel. Vor ihm auf dem Tisch stehen in Weingläsern mehrere Proben des Estate und des Reserva. Hess schwenkt das Glas mit dem neuen Blend für den Reserva. Er führt es zur Nase, hält es dann wieder über die weisse Tischdecke. Riecht wieder. Probiert. Er verzieht kennerisch die Lippen und hält das Glas wieder über die Tischdecke. Schliesslich sagt er: «Der Geschmack ist gut, aber es fehlt Farbe.» Johnson wird im Labor versuchen, noch etwas dunklen Wein der Criollo-Traube reinzumischen. Ein Kunststück: Er darf dabei kaum den Geschmack verändern.
Nach der Weinprobe packt Hess seinen Koffer, zieht wieder die Sonnenbrille und den Hut an und läuft zu seinem Geländewagen. Viereinviertel Stunden Fahrt nach Salta liegen vor ihm. Morgen kommt das Board der Hess Group in Argentinien an und will wissen, wie es um Colomé steht. Hess geht die Kollegen am Flughafen abholen. Auf dem Weg zum Parkplatz sagt er: «Erst wenn die Hess Group in zehn Jahren besser dasteht als in dem Moment, als ich sie verlassen habe, habe ich unternehmerisch alles richtig gemacht.» Auch beim Wein wird man dann wissen, ob es die Mühe wert war, ausgerechnet auf 3012 Metern Höhe einen Rebberg zu bestellen.