Urplötzlich war sie wieder da, die panische Angst vor dem Terror. Als Mitte November eine Maschine der American Airlines auf dem Weg in die Dominikanische Republik nach dem Start vom John-F.-Kennedy-Flughafen in ein Wohngebiet im New Yorker Stadtteil Queens stürzte, stockte der Welt der Atem. Sollten Terroristen erneut zugeschlagen haben, fast genau zwei Monate nach den Anschlägen vom 11. September? In Manhattan rannten die Menschen aus den Hochhäusern auf die Strasse, an den Börsen rund um den Globus fielen die Kurse.

Auch wenn alles darauf hindeutet, dass es ein Unfall war: Der Vorfall zeigt, wie tief verunsichert die Menschen nach den Terroraktionen, dem Krieg in Afghanistan und den Milzbrandanschlägen sind. Die Nerven liegen blank – für die Wirtschaft könnte das fatal sein. Denn in Krisenzeiten bestimmen mehr als sonst Stimmungen das wirtschaftliche Geschehen. Neue Anschläge oder auch katastrophale Unfälle wie der Flugzeugabsturz in Queens «könnten die Zuversicht in den Staat schwer erschüttern und damit auch zu grösseren Einbrüchen beim Konsumentenvertrauen führen», warnt Richard Curtin, Leiter der Konsumentenbefragung an der Uni Michigan.

50 Prozent der Wirtschaftspolitik sind Psychologie, sagen Experten. Dass es jetzt darauf ankommt, dass Bürger und Unternehmer wieder mit Vertrauen in die Zukunft blicken, wissen auch die Notenbanker. In der letzten Zinssenkungsrunde schleusten sie die Leitzinsen in den USA, Grossbritannien und Euro-Land um 50 Basispunkte nach unten. Mit diesem unerwartet kräftigen Schritt wollen sie ein Abrutschen in eine tiefe Rezession verhindern.

Doch ob die Rechnung der Notenbanker aufgeht, ist unsicher. Denn die geldpolitischen Lockerungen, mit denen die US-Notenbank Fed vor fast einem Jahr begonnen hat, zeigen noch keine Wirkung. Nach dem Ende des IT-Booms und dem Platzen der Spekulationsblase an den Börsen steuern die USA und Euro-Land ungebremst in eine tiefe Wirtschaftskrise. Die verängstigten Bürger halten sich beim Konsum zurück, die Unternehmen fahren die Investitionen zurück.

Wiederholt sich nun die Geschichte? Schlittern die USA und Europa und damit auch die Schweiz in eine ähnliche Krise wie Japan, das nach dem Platzen der Spekulationsblase am Aktien- und Immobilienmarkt vor zehn Jahren in einen Abwärtsstrudel aus Deflation, Wachstumsschwäche und steigenden Staatsschulden geriet, aus dem es sich immer noch nicht befreit hat?

Wie in den Neunzigerjahren die USA, so war Japan in den Achtzigerjahren der Shooting Star der Weltwirtschaft. Hohe Wachstumsraten, eine boomende Börse, privater Wohlstand – die fernöstliche Wirtschaftsmacht zog neidvolle Blicke auch aus der Schweiz auf sich. Manager, Politiker und Volkswirtschafter waren sich einig: Dem «Modell Japan» gehöre die Zukunft.

Heute spricht davon keiner mehr. Das Land befindet sich in der vierten Rezession innerhalb von zehn Jahren, die Arbeitslosigkeit ist auf einen Rekordstand von 5,3 Prozent geklettert, und die Staatsschulden haben mit 130 Prozent in Relation zum Bruttoinlandprodukt den höchsten Stand aller Industrieländer erreicht.

Der wirtschaftliche Niedergang Japans ist vor allem Folge einer verfehlten Politik, die sich nicht an die verkrusteten Strukturen heranwagt. Mit billigem Geld hatte die japanische Notenbank in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre eine riesige Spekulationswelle an den Aktien- und Immobilienmärkten finanziert. Zwischen Anfang 1985 und Ende 1989 verdreifachte sich der Nikkei-Index, die Gründstückspreise schossen in die Höhe. Die Übertreibungen waren gigantisch: Zeitweise war der Boden, auf dem der Kaiserpalast steht, mehr wert als der gesamte amerikanische Bundesstaat Kalifornien.

Niedrige Zinsen, steigende Aktienkurse und überzogene Wachstumserwartungen beflügelten die Investitionen der Firmen. In der Euphorie blieben Renditeüberlegungen jedoch häufig auf der Strecke. Viele Investitionen flossen in unrentable Projekte.

Mit dem Boom beschleunigte sich der Preisauftrieb und zwang die Notenbank zum Gegensteuern. Von Mai 1989 bis September 1990 schraubte sie den Diskontsatz um 350 Basispunkte in die Höhe; Aktienkurse und Immobilienpreise brachen auf breiter Front ein. Innerhalb eines Jahres halbierte sich der Nikkei-Index. Aber nicht nur der Spekulation ging die Luft aus, die Notenbank würgte mit ihren brachialen Zinserhöhungen auch die Konjunktur ab. «Die japanische Zentralbank hat zu lange gebremst», kritisiert Kenneth Courtis, für Asien zuständiger Vizepräsident der US-Investmentbank Goldman Sachs.

Der Einbruch der Aktien- und Immobilienpreise hatte für die Banken dramatische Folgen. Denn mit den Aktien und den Immobilien hatten sie ihre Kredite abgesichert. Aus den erstklassigen Forderungen wurden so über Nacht faule Kredite. Statt aber die Not leidend gewordenen Aussenstände rasch abzuschreiben, versteckten die Geldinstitute sie lieber in ihren Bilanzen. Die Ökonomen schätzen die Problemkredite derzeit auf umgerechnet rund 1000 Milliarden Franken. Das entspricht knapp 15 Prozent des japanischen Bruttoinlandprodukts (BIP).

Die Not leidenden Kredite in den Bilanzen verhindern, dass die Geldpolitik der Notenbank Wirkung zeigt, obwohl sie die Zinsen auf beinahe null Prozent heruntergeschleust hat. Denn unter der Last der faulen Kredite ist die Bereitschaft der Banken, neue Kreditrisiken einzugehen, gering. Zudem zeigen die hoch verschuldeten Firmen nur wenig Neigung, neue Schulden aufzunehmen. Folge: Die Kreditvergabe sinkt, der Wirtschaft fehlt frisches Geld, obwohl es noch nie so billig war.

Dass die Sanierung des Bankensystems für eine wirtschaftliche Erholung Nippons unumgänglich ist, dämmert mittlerweile auch den Politikern. Japans Ministerpräsident Junichiro Koizumi macht sich daher dafür stark, dass die zehn grössten Geldinstitute innerhalb von drei Jahren faule Kredite im Umfang von umgerechnet mehr als 150 Milliarden Franken wertberichtigen sollen. Doch die meisten Banken können sich das angesichts jährlicher Erträge aus Kommissionen und Zinsen von zusammen weniger als 37 Milliarden Franken nicht leisten. Sie haben es schlicht versäumt, dafür Reserven anzulegen.

Es wird «mindestens weitere fünf Jahre dauern, bis das Gröbste erledigt ist», prognostiziert Jeffrey Young, Volkswirtschafter bei Nikko Salomon Smith Barney. Nach seiner Berechnung wird die Sanierung der Bankbilanzen wohl auch die Steuerzahler mehr als umgerechnet 150 Milliarden Franken kosten. Eine wirkliche Marktbereinigung wird es aber nur dann geben, wenn die Politiker auch den Konkurs maroder Institute hinnehmen.

Das aber haben die Regierungen bisher zu verhindern gewusst, indem sie ein Konjunkturprogramm nach dem anderen auflegten. Kostenpunkt: umgerechnet mehr als 1,5 Billionen Franken, finanziert auf Pump. Genutzt hat das nur der Bau- und Immobilienwirtschaft. Der erhoffte selbsttragende Aufschwung der Wirtschaft blieb aus. Nachhaltige Spuren hinterliessen die Konjunkturprogramme nur in den öffentlichen Haushalten: Der staatliche Schuldenstand verdoppelte sich innerhalb von weniger als zehn Jahren.

Auch in der Schweiz wird im Nachhinein das 200 Millionen teure Förderungsprogramm des Bundes für die Bauwirtschaft von 1993 als verschleudertes Geld angesehen. Ob Konjunkturprogramme in Krisenzeiten wirklich die beabsichtigte Wirkung erreichen, ist also fraglich.

Mit der Schuldenpolitik seiner Vorgänger wollte der populäre Koizumi ursprünglich Schluss machen. Vor der Wahl zum Oberhaus im Juli hatte Koizumi versprochen, die staatliche Neuverschuldung auf jährlich 30 Billionen Yen (rund 400 Milliarden Franken) zu deckeln. Seit sich jedoch die Wirtschaftskrise verschärft, deuten alle Anzeichen darauf hin, dass Koizumi auf Druck seiner Partei und der Wirtschaft nach traditionellem Muster neue Ausgabenprogramme auflegen wird. Dass der jüngst beschlossene Nachtragshaushalt in Höhe von einer Billion Yen (rund 13,5 Milliarden Franken) vor allem der Verbesserung der Qualifikation der Arbeitskräfte dienen soll, ist da nur ein schwacher Trost.

Vertrauen in diese Politik haben die Japaner offenbar nicht. Bester Indikator ist die mangelnde Konsumbereitschaft der Bürger, die sich um ihre Arbeitsplätze sorgen. Statt ihr Einkommen auszugeben, legen sie es lieber auf die hohe Kante.

Den Konsum bremst auch das marode Rentensystem. In Japan haben die höhere Lebenserwartung und die rückläufige Geburtenrate die Bevölkerungspyramide binnen weniger Jahrzehnte auf den Kopf gestellt. Wegen der mangelhaften Absicherung durch staatliche Renten haben viele Japaner private Lebensversicherungen abgeschlossen. Die Minizinsen am Kapitalmarkt haben die Renditen dieser Versicherungen jedoch sinken lassen. Folge: Die Japaner müssen einen immer grösseren Batzen auf die hohe Kante legen, wollen sie ihren Lebensstandard im Alter halten.

Für den Einzelhandel bedeutet die Sparmentalität eine Katastrophe. Die Umsätze schrumpfen und zwingen die Anbieter zu Preisnachlässen. Seit der Asienkrise herrscht in Japan Deflation. Zuletzt sanken die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresniveau um 0,8 Prozent.

Ökonomen fürchten nun, dass die USA und Europa trotz niedrigeren Zinsen und Konjunkturprogrammen in eine Deflations- und Krisenspirale wie Japan treiben könnten. Zwar sind die amerikanischen und europäischen Banken strukturell nicht marode. Auch die Schulden der öffentlichen Haushalte sind weit geringer als in Japan. Doch in anderen Bereichen sind die Parallelen zu Japan frappierend. Ähnlich wie in Japan in den Achtzigerjahren haben die Notenbanken der USA und von Euro-Land nach der Asienkrise den Aktienboom mit billigem Geld angeheizt. Als Fed und EZB zur Eindämmung der Inflationsgefahren schliesslich kräftig auf die Bremse traten, platzte die Blase. Vor allem die zuvor in die Höhe geschossenen Technologieaktien brachen ein. Der SWX New Market Index, der Aktienbarometer der Schweizer Technologiewerte, verlor im abgelaufenen Jahr rund 55 Prozent.

Wie in Japan Ende der Achtzigerjahre war es in Deutschland im Zuge der Einheitseuphorie Anfang der Neunzigerjahre und in den USA nach Mitte der Neunzigerjahre mit dem IT-Boom zu einem kräftigen Anstieg der Investitionen gekommen. Die Schweiz folgte der allgemeinen New-Economy-Euphorie der Jahre 1999 und 2000 mit kräftigen Finanzspritzen für allerlei Start-ups. Doch auf den Boom folgte die Katerstimmung, die Investitionsquote geht drastisch zurück.

Um den Absturz der Wirtschaft in die Rezession zu verhindern, hat die US-Notenbank Fed seit Anfang dieses Jahres die Zinsen um insgesamt 450 Basispunkte gesenkt – der aggressivste Lockerungskurs seit der Rezession Anfang der Siebzigerjahre. Doch Erfolg haben die Notenbanker damit bisher noch nicht. Die US-Wirtschaft schrumpfte im dritten Quartal dieses Jahres um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal, die Arbeitslosenquote sprang im Oktober auf 5,4 Prozent.

Noch rechnen die meisten Ökonomen damit, dass die Geldpolitik der Wirtschaft wieder auf die Sprünge helfen wird. «Bevor sich Zinssenkungen in der realen Wirtschaft niederschlagen, vergeht bis zu einem Jahr», sagt Holger Bahr, USA-Experte der DGZ-DekaBank. Da die US-Geldpolitik erst seit Sommer 2001 auf einen expansiven Kurs umgeschwenkt sei, könne die Wirkung bis zur zweiten Jahreshälfte 2002 auf sich warten lassen, vermutet Bahr. Andere sind pessimistischer. So gibt es für Stephen Roach, Chefökonom der US-Investmentbank Morgan Stanley Dean Witter, «keine Garantie dafür, dass die Zinsschritte des Fed der Wirtschaft den Schwung geben werden, den die meisten Ökonomen erwarten».

Der Grund dafür sind die im Boom entstandenen Überkapazitäten bei Maschinen und Personal, welche die Firmen erst einmal abbauen müssen. Solange sie unter Überkapazitäten leiden, werden die Unternehmen trotz niedrigen Zinsen kein Geld für zusätzliche Investitionen lockermachen.

Durch den Abschwung sei die Reagibilität der US-Wirtschaft auf Impulse von der Geld- und Finanzpolitik beeinträchtigt. «Eine Volkswirtschaft mit abnehmendem Produktivitätswachstum reagiert schlechter auf Massnahmen der Geld- und Finanzpolitik als eine Wirtschaft mit zunehmendem Produktivitätswachstum», argumentiert Roach.

Behält Roach recht, droht die US-Wirtschaft in eine Liquiditätsfalle zu geraten: Zwar stellt die Zentralbank ausreichend Liquidität zur Verfügung, Bürger und Unternehmen sind aber nicht bereit, diese für Konsum und Investitionen zu nutzen. Die latente Verunsicherung durch die Terroranschläge dürfte zudem die Bereitschaft zum Geldausgeben weiter verringern.

Bis zu einer Abwärtsspirale ist es dann nicht mehr weit. Denn ein Einbruch der Nachfrage würde die Preise mit nach unten ziehen und so die Realzinsen in die Höhe treiben. Zinssenkungen von Zentralbanken würden dadurch in ihrer Wirkung konterkariert. «Selbst mit Nominalzinsen von null wären die realen Geldbeschaffungskosten dann zu hoch, um einen nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung zu ermöglichen», warnt Roach.

Dann dürften wie in Japan auch staatliche Ausgabenprogramme ins Leere laufen. Sie würden nur den notwendigen Anpassungsprozess der Wirtschaft verhindern, neue Überkapazitäten würden geschaffen. «Japans grösster Fehler war, dass die Regierung mit allen Mitteln versuchte, eine Rezession zu verhinden, und damit die Überkapazitäten konserviert hat. Die USA und Europa sollten daraus lernen», sagt Adolf Rosenstock, Ökonom beim japanischen Wertpapierhaus Nomura. «Eine Rezession ist wie ein reinigendes Gewitter. Sie gehört zu den Selbstkorrekturmechanismen einer Marktwirtschaft und legt die Basis für den nächsten Aufschwung.»
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