«Ich beschäftige mich seit über 30 Jahren mit der Digitalisierung», sagt Andrea Belliger eingangs des Gesprächs mit der «Handelszeitung». Wohnhaft in Luzern ist die Expertin oft unterwegs und hält Vorträge zum Thema Digitalisierung in der Gesundheit oder eGovernment. Mit diesem Wissen berät sie Schweizer Grossunternehmen wie die Migros oder Roche und sitzt in zahlreichen Gremien und Verwaltungsräten.
Wie sind Sie zum Thema digitale Gesundheit gestossen?
Andrea Belliger*: Mitte der 90er-Jahre habe ich zum ersten Mal einen Browser geöffnet und wusste: Da passiert etwas Grosses, an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technologie. Ich habe angefangen, ein bisschen zu programmieren. Weil ich damals aber Philosophie und Theologie studiert habe, hat mich vor allem die gesellschaftlichen Auswirkungen der Technologie interessiert. Wie verändert diese vernetzte Welt unsere Werte und Normen, wie verändern wir uns als Gesellschaft, was bedeutet Menschsein auf diesem Hintergrund und welche neuen Geschäftsmodelle entstehen daraus? Das Gesundheitswesen kam vor sieben Jahren dazu. Ich fand es spannend, weil es in diesem geschlossenen System mit klaren Rollen so richtig knistert.
Welches sind die Veränderungen im Gesundheitswesen?
Das Gesundheitswesen war bis anhin ein reguliertes, top-down gesteuertes System. In den letzten Jahren ist auf dem Hintergrund einer zunehmenden Vernetzung aber eine Art Paralleluniversum im Bereich digitaler Gesundheit mit neuen Spielregeln entstanden. Ich spreche häufig mit verschiedenen Akteuren von Ärzten über Pharma bis Krankenkassen und stelle fest, dass der Mindset vernetzter Kultur – offene Kommunikation, Transparenz, Partizipation – dort noch nicht angekommen ist. Daneben sind aber fast unbemerkt neue Akteure ins Spiel um Gesundheit und Krankheit gekommen, an die man gar nicht gedacht hätte. So etwa die Migros, die mit Ihrer Gesundheitsinitiative neue Impulse gibt.
Die Migros eröffnet sich mit der Gesundheit ein neues Geschäftsfeld, weil im Retail nicht mehr viel zu holen ist.
Sie hat vor allem einen anderen Blick auf das Thema. Die Krankenkassen, die Ärzte und die Pharmaindustrie sowieso interessieren sich erst bei im Krankheitsfall für uns. Dabei gibt es im ganzen Bereich vor der Krankheit, im Bereich der Prävention ein grosses Potenzial. Prävention ist für viele Akteure im Gesundheitswesen unattraktiv, weil die Vergütung über das Thema Krankheit geschieht. Die Migros, aber auch Firmen wie Apple oder Google sind diesbezüglich anders aufgestellt und betrachten das Thema Gesundheit viel umfassender. Dieses Eindringen neuer Akteure ins Gesundheitswesen wird von den herkömmlichen Playern mit Argusaugen beobachtet.
Andrea Belliger ist Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Luzern, führt als Co-Leiterin das Institut für Kommunikation & Führung und sitzt in diversen Verwaltungsräten. Dazu ist sie Buchautorin und Beraterin. Belliger hat Theologie, Philosophie und Geschichte in Luzern, Strassburg und Athen studiert und in Kirchenrecht promoviert. Dazu hat sie ein Entrepreneurship-Programm am MIT Boston absolviert.
Weshalb?
Weil es die Spielregeln ändert und natürlich auch Risiken birgt. Je mehr ein Kunde mit einem Unternehmen in verschiedenen Lebensbereichen interagiert, desto mehr Daten kann dieses Unternehmen sammeln. Im Prinzip könnte ein so breit aufgestelltes Unternehmen wie Migros zum Beispiel wissen, was ich einkaufe, wohin ich in die Ferien fliege, was ich lese, welche Technik-Geräte ich kaufe und wann ich ins Fitness gehe oder eben nicht. Perfekte Grundlage eigentlich, um mir eine personalisierte Gesundheitsdienstleistung, wie etwa ein Versicherungsprodukt, anzubieten.
Die USA scheint schon weiter zu sein. Amazon, Berkshire Hathaway und JP Morgan bauen eine gemeinsame Non-Profit-Krankenkasse auf. Wie sieht es hierzulande aus?
Der Vergleich ist schwierig. In den USA ist die Gesundheitsversorgung anders organisiert als in der Schweiz. Ein Bekannter von mir hat dort einen Selbstbehalt von über 10'000 Franken. Er überlegt sich jeweils sehr genau, welche Dienstleistungen er bezieht und wo auf der Welt er zum Beispiel eine Operation günstiger erhalten könnte. Diese Frage würde sich in der Schweiz niemand stellen. Diese Rahmenbedingungen erhöhen natürlich die Bereitschaft, innovative und neue Ideen im Gesundheitswesen auszuprobieren. Unsere Versorgung ist gut, die Notwendigkeit zu Veränderung wenig spürbar. Aus andern Branchen wissen wir aber, dass sich dies schnell ändern kann.
Die Gesundheit ist ein grosses Feld: Krankenhäuser, Krankenkassen, Ärzte, Pharmakonzerne, Patienten...Wo muss man denn jetzt genau ansetzen?
Digitale Transformation im Gesundheitswesen ist ein vielschichtiger Prozess. Wir arbeiten in der Schweiz seit zehn Jahren in mühsamer Kleinstarbeit an der eHealth Strategie, die das Ziel hat durch technische Vernetzung von Ärzten, Spitälern, Apothekern und so weiter die Qualität und Sicherheit im Gesundheitswesen zu erhöhen. Mit der Verpflichtung der Akteure sich endlich fit zu machen für den digitalen Datenaustausch. Etwas, das wir in anderen Branchen seit Jahren kennen. Die Prozesse im Gesundheitswesen müssen von A bis Z konsequent digital gedacht werden. Ich denke hier an Dinge wie die Überweisung in ein Spital oder an einen Spezialisten, das Verlängern von Rezepten, das Einholen eines Arztzeugnisses, Online-Sprechstunden und Diagnosen. Und schliesslich geht es um einen neuen Mindset im Gesundheitswesen. Zunehmende Vernetzung bedeutet offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation. Einige Akteure im Gesundheitswesen tun sich schwer damit.
Werden dem Schweizer Vorreiter in diesem Bereich – der Onlineapotheke Zur Rose – deshalb andauernd Steine in den Weg gelegt?
Es gibt viele grosse Lobbys im Gesundheitsbereich, die Angst haben, einen Stück des Kuchens zu verlieren. Jeder fühlt sich wohl in seinem Garten und viele sträuben sich gegen Veränderungen. Innovation wird nicht gerne gesehen.
Wie versuchen Sie persönlich, das Gesundheitswesen in der Schweiz zu modernisieren?
Der Einfluss eines Einzelnen ist natürlich sehr beschränkt. Ich versuche zum Beispiel gemeinsam mit innovativen Organisationen und Unternehmen Gesundheit neu zu denken. Medbase ist so eine Organisation. Sie ist mittlerweile das grösste Netzwerk in der ambulanten Grundversorgung in der Schweiz. Das ist ein spannendes Modell, weil hier versucht wird, gemeinsam und interdisziplinär eine neue Kultur und Vision zu entwickeln. Ansonsten schreibe ich jedes Jahr ein Buch. Aber diese Bücher liest ja kaum jemand (lacht).
Also müssen Privatunternehmen den Anschub geben. Warum kann die Politik das nicht leisten?
Politik muss Rahmenbedingungen setzen für Innovation, Verbesserungen und Veränderungen, die dann nicht zwingend aus der Politik selber kommen müssen. Für die Schnittstelle Gesundheit und digitale Transformation interessieren sich meiner Meinung nach aber wenige Politiker. Die vertiefte Auseinandersetzung und Fach-Expertise fehlt oft. Zudem bewegen wir uns mit dieser Thematik in einem schnell sich verändernden Umfeld, was die ganze Sache auch nicht gerade einfacher macht. Auch der gesellschaftliche Diskurs über Chancen und Risiken, aber vor allem auch über kreative Lösungen wird deshalb kaum geführt.
Welche konkreten Mittel können wir dennoch umsetzen?
Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Veränderung im Gesundheitswesen wie auch in andern Branchen im Kern nicht durch Technologie geschieht, sondern durch einen Kulturwandel. Technologie wirkt lediglich als Katalysator. Solange keine gemeinsame Vision über ein vernetztes Gesundheitswesen unter allen Akteuren vorhanden ist und man stattdessen diese offenen Fragen an die Technologie delegiert, wird das schief gehen. Wir werden weiterhin viel Geld in sinnlose Technologieprojekte stecken, die zu gar nichts dienen. Wir müssen einen Wandel in unseren Köpfen schaffen. Impulsgeber dieser neuen Kultur muss der Gesundheitskunde sein. Denn die Aussage stimmt: Die meist ungenutzte Ressource im Gesundheitswesen ist der Patient. Die Unternehmen, die im Gesundheitswesen tätig sind, müssen ihren Kunden auf Augenhöhe begegnen. Oft werden sie aber nicht ernst genommen. Viele Organisationen, nicht nur im Gesundheitswesen, auch Versicherungen, Banken und wir Hochschulen sind weiterhin sehr paternalistisch aufgestellt.
Hieven wir uns damit nicht ins Abseits?
Es gibt genügend Technologien und Tools auf der Welt, die vieles vereinfachen könnten. Aber sie sind nicht an unser Gesundheitssystem angeschlossen, die technische Interoperabilität, das Know-how und der Wille für eine Integration in Versorgungs- und Vergütungsprozesse fehlt. Das bedeutet, Menschen müssen das Thema selber an die Hand nehmen, beispielsweise mit Apps oder Dienstleistungen von Tech-Unternehmen ohne Unterstützung durch fachliche Experten. Ich mache beispielsweise hobbymässig Genom-Tests. Man kann mittels Speichelprobe für 99 Franken seine Genom-Daten analysieren lassen. Die Anbieter solcher Tests sitzen in Indien, den USA oder China. Man schickt die Probe ein und kriegt das Resultat via personalisierte Webumgebung. Ist das seriös, hat das Aussagekraft, was geschieht mit meinen Daten? Schwierig zu sagen. Aber versuchen Sie mal mit so einer Analyse zu ihrem Hausarzt zu gehen…
Entsteht diese Blockade nicht auch aus der Angst vor dem Verlust unserer Daten?
Beim Thema Daten stecken wir in einem Spannungsfeld zwischen dem Schutz des Individuums und der Nutzung dieser Daten im Blick auf gesellschaftlichen Fortschritt zum Beispiel die Entwicklung neuer Diagnosemöglichkeiten oder neuer Therapien. Der Blick ins eigene Genom macht aber noch etwas anderes deutlich: die klare Grenze zwischen gesund und krank verschwindet. Was bleibt, ist ein Individuum, das sich im Laufe seines Lebens irgendwie zwischen diesen Polen bewegt. Gerade deshalb müssten etwa Krankenkassen viel individueller mit uns umgehen. Ein Diabetiker, der seine chronische Krankheit im Griff hat, ist dann möglicherweise für die Community kein grösseres Risiko als der Manager, der jede Woche einen Halbmarathon läuft oder am Grümpelturnier im Dorf teilnimmt. Eine grosse Herausforderung, wenn wir dabei Themen wie Solidarität nicht aus den Augen verlieren wollen.
Roche hat Flatiron gekauft, der neue Novartis-CEO Vas Narasimhan predigt die Digitalisierung. Wie findet dieser am Pharmastandort Schweiz statt?
Flatiron ist eine Plattform, ein Konnektor im Krebsbereich, ein riesiges Wissensnetzwerk bestehend aus onkologischen Praxen, Kliniken und Patienten. Auf Basis der Daten und Erfahrungen der Patienten ermöglicht das Unternehmen, neue, personalisierte Krebstherapien zu entwickeln. Vernetzung und Daten scheinen nach der Ära der Patente das Kapital der Pharmabranche der Zukunft zu sein.
Was bedeutet Digitalisierung für ein Pharmaunternehmen?
Die Digitalisierung ist für Pharmaunternehmen eine besonders grosse Herausforderung. Pharmaunternehmen sind in der Regel eher traditionell aufgestellt, unterliegen strengen Regulierungen, sind intern hierarchisch aufgestellt, müssen komplizierte Zulassungsprozesse durchlaufen und tun sich eher schwer mit Veränderung. Aber alle sind auf der Suche nach Innovation. Mit Akquisitionen von Startups beispielsweise versuchen Unternehmen sich fitter zu machen und sich eine neue Kultur einzuverleiben. Das funktioniert aber nur mässig gut. Damit diese teuren Aktionen nachhaltig Wirkung erzielen, braucht es Veränderung in der DNA, der Kultur, dem Mindset der Organisation. Mit solchen Organisationen über eine gemeinsame neue Vision nachzudenken, finde ich äusserst interessant.
Dann sind Sie wohl gut gebucht?
Ich bin eine Predigerin. Während ich meinen Termin beim Frisör online in der Cloud buche, versuche ich dies bei meiner Gynäkologin vergeblich. Da muss sich alle drei Jahre hin und vereinbare dann den nächsten Termin für in drei Jahren. Nächste Woche ist es wieder soweit und ich vereinbare dann den Termin für 2021. Der wird bei meiner Ärztin im grossen Buch vermerkt und bei mir im Outlook-Kalender, immer in der Hoffnung, dass mein Betriebssystem die nächsten drei Jahre stabil durchhält. Ich kann vermutlich einfach nicht mit dieser Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit klarkommen.