Das Dröhnen im Steuerraum ist bedrohlich laut. Ähnlich dem Start eines Flugzeugs. Nur dass man hier nicht in die Luft geht, sondern vier Kilometer tief im Berg steckt. Das Pumpspeicherwerk Limmern im Glarner Hinterland produziert seine erste Kilowattstunde Strom. «Für uns alle hier ist das ein grosser Moment», sagt der Axpo-Mann mit Leuchtweste. «Zehn Jahre lang haben wir darauf hingearbeitet.»
Das zwei Milliarden Franken teure Kraftwerk ist der grosse Stolz von Axpo-Chef Andrew Walo. Deshalb lässt er auch anlässlich der Präsentation der Jahreszahlen Ende Dezember in Zürich die offizielle Inbetriebnahme per Leinwand live übertragen. Doch die Freude hält nur kurz und kann nicht über den Milliardenverlust von Axpo hinwegtrösten. Umso weniger, als Walo nur ein paar Minuten später einräumt, dass sein Konzern mit dem Kraftwerk erst in zehn Jahren schwarze Zahlen schreiben werde. Und dass man eine solche Investition unter den heutigen Bedingungen gar nicht mehr tätigen würde.
Energie im Überfluss
Das Beispiel ist symptomatisch für die Strombranche. Ihre Welt ist heute eine andere. Statt der jahrelang herbeigeredeten Stromlücke gibt es Energie im Überfluss. Gründe dafür gibt es mehrere: die schwache Konjunktur, die massiven Subventionen für Wind- und Solarenergie in der EU, der tiefe Öl- und Gaspreis, der nicht funktionierende Handel mit CO2-Zertifikaten – und die Katastrophe von Fukushima vom 11. März 2011.
Die deutsche Regierung hat unmittelbar danach nicht nur ältere AKWs vom Netz genommen, sondern – um das vermeintliche Loch zu füllen – bereits stillgelegte Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. Das hat den gesamten europäischen Strommarkt in Mitleidenschaft gezogen.
Mehr Kosten als Erlös
Die Folge der internationalen Überkapazitäten und Marktverzerrungen: Die Grosshandelspreise für Strom sind im Keller. 2008, als die Welt noch in Ordnung war, zahlten Versorger an der Leipziger Strombörse für eine Kilowattstunde (kWh) zu Spitzenzeiten 13 Rappen. Inzwischen sind es noch 3 bis 5 Rappen. Eine Erholung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: An der Terminbörse wird heute Strom für die Jahre 2017 bis 2021 verkauft – für umgerechnet weniger als 2,5 Rappen.
Das heisst: Die Konzerne geben mehr für die Produktion einer Kilowattstunde aus, als sie dafür auf dem Markt erhalten. Damit hat das traditionelle Geschäftsmodell von Axpo, Alpiq und BKW – Produktion und Handel von Elektrizität – ausgedient. Der harte Franken hat die Situation noch verschärft, auch weil die Stromkonzerne stark im Euroraum geschäften. Ein Neustart ist unumgänglich. Jeder hat dafür ein eigenes Rezept. Eine Schnittmenge bleibt: die Hoffnung auf höhere Marktpreise. Denn wenn die Unternehmen nicht daran glauben würden, müssten sie schon heute ihre Bilanzen deponieren, wie ein Kadermann nicht ohne Sarkasmus festhält.
Alpiq leidet am stärksten
Am stärksten leidet Alpiq. Der grösste der drei Konzerne entstand aus der Fusion von Atel und EOS, vollzogen 2009, als die Märkte durch rekordhohe Strompreise geprägt waren. Der Kraftwerkspark wurde aus heutiger Sicht zu hoch bewertet, die Westschweizer Besitzer wurden zu grosszügig entschädigt. Daraus wuchs ein beispielloser Schuldenberg, der noch nicht annähernd abgebaut war, als der GAU von Fukushima die Energiewende einleitete. Ende 2011 betrug die Nettoverschuldung 4,7 Milliarden Franken. Am Hauptsitz in Olten brach Panik aus, als sich abzeichnete, dass in der Schweiz keine AKWs mehr gebaut werden.
Als 2013 Jasmin Staiblin übernahm, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Tafelsilber zu verhökern. Schweizer Wasserkraftwerke, französische Gaskraftwerke, Anteile am Netzbetreiber Swissgrid: Alles musste weg. Bis Mitte 2015 sank der Schuldenberg auf 1,4 Milliarden. Als letzten Frühling Ex-Swisscom-Chef Jens Alder den Posten von VR-Präsident Hans Schweickardt übernahm, atmeten viele im Konzern auf. Der als Restrukturierer bekannte Alder ist so etwas wie der Antipode zum atomgläubigen Schweickardt. Bei seinem Amtsantritt soll er eine Motivationsrede gehalten haben, dass die Angestellten Gänsehaut bekamen.
49 Prozent aller Wasserkraft-Betieligungen verkauft
Trotz seiner 58 Jahre gilt Alder als Vertreter der jungen, pragmatischen Generation in der Stromwelt. Genauso wie Staiblin. Beide begeistern sich für energiesparende Gebäudetechnik und smarte Stromversorgung. Darauf angesprochen, blüht Staiblin auf: «Wir sprechen nicht nur über Energiedienstleistungen, sondern erzielen damit in Europa bereits über 1,5 Milliarden Franken Umsatz und sehen zusätzliches Wachstumspotenzial.» An 90 Standorten arbeiten 4600 Leute in diesem Bereich für Alpiq. Doch gerade weil dieser Zweig so personalintensiv ist, bleibt die Marge knapp.
«Auch wenn wir hier ein wichtiger Player sind, können wir den Preiszerfall an den Grosshandelsmärkten mit diesem Geschäft alleine nicht kompensieren», räumt Staiblin ein. Also kämpft sie daneben für die Rettung der Wasserkraft und spart an allen Ecken und Enden. 100 Millionen sollen es jedes Jahr sein. Am 7. März gab sie nun 49 Prozent aller Wasserkraft-Betieligungen für Investoren «mit einem langfristigen Anlagehorizont» frei. Ein Vorgehen, dass in der Schweizer Strombranche seinesgleichen sucht.
Stromhandel in den USA
Staiblins Praxis stösst bei Beobachtern auf viel Sympathie: «Alpiq orientiert sich schnell an neuen Opportunitäten», sagt Matthias Fawer, Nachhaltigkeitsanalyst beim Vermögensverwalter Vescore. «Das Unternehmen macht erstaunlich schnell vorwärts und ist agiler als Axpo.» Auch Alpiq-intern macht man sich gerne über den Konkurrenten in Baden lustig: «Uns gehts zwar dreckig, aber immerhin sind wir der Axpo mindestens zwei Jahre voraus», sagt ein Angestellter.
Doch von Rückstand will Axpo-Chef Andrew Walo nichts wissen. Er verweist auf das Stromhandelsgeschäft, bei dem Axpo europaweit niemand das Wasser reichen kann. Das hat der zweitgrösste Schweizer Stromkonzern der einstigen Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg (EGL) zu verdanken, die 2012 vom Mutterkonzern geschluckt, dekotiert und in Axpo Trading umbenannt wurde.
Im zürcherischen Dietikon handeln gehetzte Trader europaweit mit Strom, Gas, Öl, Kohle, CO2- und Ökostrom-Zertifikaten. Ein hochriskantes Geschäft, das Alpiq und BKW bestenfalls mit spitzen Fingern anfassen. Walo hingegen geht sogar noch einen Schritt weiter und expandiert jetzt mit dem Handelsgeschäft in die USA. «Ab Ende Jahr werden wir dort operativ tätig sein», sagt er. Als Chef von Axpo U.S. hat Walo den früheren Goldman-Sachs-Händler Jeremy Wodakow ernannt. «Um in den US-Markt einzusteigen, braucht es harte Arbeit und viel Geduld», verriet Wodakow auf der Axpo-internen Newsseite «Energiedialog online».
Regierungsräte denken über Verkauf nach
Den Axpo-Besitzern ist bei der Sache nicht ganz wohl. Parlamentarier der acht Eignerkantone kritisieren das wachsende Risikogeschäft auf internationalem Parkett. In Zürich, Schaffhausen, St. Gallen und im Aargau denken die Regierungsräte sogar schon laut über einen Verkauf ihrer Axpo-Anteile nach. Das Verhältnis hat sich spürbar abgekühlt. Das hat auch mit den ausbleibenden Einnahmen zu tun: Denn seit 2014 schüttet Axpo keine Dividende mehr aus.
Walo reagiert gelassen auf die Verkaufsabsichten: «Das ist eine Frage, die sich die Eigentümer zu Recht stellen können.» Eine leichte Provokation kann er sich aber nicht verkneifen: «Ob die Eigentümer Kantone oder private Investoren sind, macht für ein betriebswirtschaftlich geführtes Unternehmen keinen Unterschied. In diesem Sinn unterscheiden wir uns nicht von anderen Industrieunternehmen.»
«Eine enorme Herausforderung»
Die Frage ist: Kann Walo mit riskantem Energiehandel die Verluste der eigenen Stromproduktion wettmachen? Er selber sagt: «Wenn Sie einen Preiseinbruch von 80 Prozent innerhalb von sieben Jahren verkraften müssen, ist das – gelinde gesagt – eine enorme Herausforderung.» Fragt sich auch, ob es langfristig nicht günstiger kommt, wenn Walo die AKWs Beznau I und II abschaltet, in welche die Axpo nach Fukushima 700 Millionen Franken investiert hat. Die letzten Sommer entdeckten «Unregelmässigkeiten» im Reaktordruckbehälter kosten den Konzern weitere 100 Millionen – mindestens. Der Chef spricht nicht gern über das AKW, das sein Vorgänger Heinz Karrer nach Fukushima noch als «Weltklasse» bezeichnete.
Walos Vorteil ist, dass Axpo keine Schulden hat. Besser noch: Ende 2015 hatte der Konzern sechs Milliarden auf der hohen Kante. Heinz Karrer habe ja in seinen elf Jahren als CEO nicht gerade viel gestaltet, witzeln Branchenleute. Aber immerhin habe er Geld auf die Seite gelegt: für den Bau des neuen AKW. Damit werden jetzt die Verluste gedeckt.
BKW als Musterschülerin
Musterschülerin im Transformationsprozess ist ausgerechnet die BKW, die lange von ihren beiden grösseren Mitbewerbern als Juniorpartnerin belächelt wurde. Doch nun ist die fehlende Grösse plötzlich ein Vorteil: Ihr Kraftwerkpark ist kleiner, die Stilllegung des AKW Mühleberg eingeleitet.
«Wir sind agil und marktnah», sagt Konzernchefin Suzanne Thoma. Bereits ein Jahr nach Fukushima legten die Berner eine neue Strategie vor und kippten das früher in der Branche so verehrte «Mengenziel».
Lukrative Endkunden
Seitdem saniert Thoma das Energiegeschäft, entwickelt das Netz zum Smartgrid und baut vor allem den Dienstleistungsbereich aus. Das erfolgt vornehmlich mit Übernahmen. Rund zwanzig Firmen hat die BKW in den letzten eineinhalb Jahren aufgekauft, und die Zukäufe werden immer grösser. «Schritt für Schritt», wie Thoma sagt, wandelt sich der Berner Stromkonzern zum Gebäudetechniker, Infrastrukturspezialisten und Ingenieurbüro. Beobachter wundern und ärgern sich zum Teil auch über den Kaufeifer der BKW, doch für die Chefin ist das nur konsequent: «Der Gebäudepark wird zum integralen Bestandteil der Energieproduktion. Deshalb ist es nur logisch, wenn wir hier unser Angebot ausbauen.»
Ziel ist es, diesen Bereich nebst dem klassischen Energiegeschäft mit Produktion und Handel sowie der Netzgesellschaft zum dritten Pfeiler der BKW auszubauen. Unter dem Strich heisst das für den Konzern: Er will wachsen. «Wir werden in fünf Jahren eine integrierte Infrastrukturdienstleistungs-Gruppe sein mit 6000 bis 8000 Mitarbeitern.»
BKW mit Wettbewerbsvorteil
Die BKW unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den Konkurrenten: Sie hat Endkunden – und kann so ein Viertel ihrer Stromproduktion zu den im Vergleich zum Marktpreis höheren Gestehungskosten an Haushalte und kleinere Unternehmen verkaufen. Nicht ohne Neid schauen Axpo und Alpiq auf diesen Wettbewerbsvorteil und weisen darauf hin, dass beim zweiten Schritt der Strommarktliberalisierung das Geschäftsmodell der BKW zusammenbrechen werde.
Thoma sieht das freilich anders, das Blatt habe sich einfach gewendet, sagt sie kühl: «Drei Viertel unserer Stromproduktion stehen voll am Markt. Für das restliche Viertel erinnere ich daran, dass dies früher, als die Strompreise hoch waren, ein Nachteil war. Trotzdem konnte die BKW in dieser guten Zeit auch Reserven für die jetzt schwierigen Zeiten anlegen.»
Grosse Investitionen ins Marketing
Dennoch bereitet sich die BKW intensiv auf den zweiten Liberalisierungsschritt vor und investiert viel Geld ins Marketing: Sie tritt als «Tatort»-Sponsorin im Fernsehen auf, unterstützt den Schweizer Skisport und lässt emotionale Imagefilme unter dem Titel «Wo die Energie zuhause ist» drehen, die auf YouTube ausgestrahlt werden. Der Name BKW soll national für einen vertrauenswürdigen Stromlieferanten stehen.
Thoma wird noch eine Weile von ihren gefangenen Endkunden profitieren können – allzu schnell wird der Strommarkt nicht vollständig liberalisiert. In Bundesbern jedenfalls geht man neu davon aus, dass dies frühestens 2020 oder 2021 der Fall sein wird. Denn der Bundesrat will die Strommarktliberalisierung parallel zum EU-Stromabkommen vorantreiben. Doch Letzteres ist blockiert, solange mit Brüssel keine Lösungen für die Personenfreizügigkeit und die institutionellen Fragen gefunden werden.
Status quo bietet Schutz
Auch wenn Axpo, Alpiq und sogar die BKW sich für eine rasche Öffnung aussprechen: Dem Rest der Branche kommt die politische Verschnaufpause entgegen. Denn allen Elektrizitätswerken, die einen Teil des von ihnen verteilten Stroms selber produzieren, bietet der Status quo einen gewissen Schutz: Sie können den selbst produzierten Strom zu den derzeit meist über dem Marktpreis liegenden Gestehungskosten an ihre Endkunden abgeben – und mit dem Ertrag ihre Kraftwerke sichern.
«Die vollständige Marktliberalisierung wäre jetzt eine Katastrophe, gerade im Hinblick auf die wichtige Rolle der dezentralen Produktion in der Energiestrategie 2050», sagt deshalb Hans-Kaspar Scherrer, Präsident von Swisspower, dem Gemeinschaftsunternehmen der Stadtwerke, und Chef der IBAarau. «Dann müssten auch die kleinen Unternehmen grosse Wertberichtigungen bei ihren Kraftwerken vornehmen – Investitionen in nicht geförderte Kraftwerke würden ganz ausbleiben, und die ganze Branche käme noch mehr in Schieflage.»
Energiestrategie 2050
Auf der politischen Agenda steht also vorerst nur die Energiestrategie 2050. Hauptpunkte sind das Verbot des Baus neuer AKWs, höhere, dafür zeitlich begrenzte Abgaben in den Fördertopf für Ökostrom (KEV) sowie Richtwerte in Bezug auf den Kapazitätsausbau für erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Anfang März beugte sich erneut der Nationalrat über die Vorlage. Einige Differenzen sind noch immer nicht ausgeräumt: namentlich die Subventionierung der bestehenden Grosswasserkraft. Sie soll 0,2 Rappen pro kWh aus dem KEV-Topf erhalten, was rund 120 Millionen Franken pro Jahr entspricht.
Die Politiker sind sich nur noch nicht einig, wie dieser Zustupf erfolgen soll. Alpiq-Chefin Staiblin wollte mehr: Vor einem Jahr forderte sie die Politik auf, einen «Wasserrappen» einzuführen. Und sie pocht weiter auf Unterstützung: «Unser dringlichstes Thema ist die Wettbewerbsfähigkeit der Wasserkraft.»
«Bad Bank» auf der Wartebank
Die Politik vollzieht also derzeit nach, was der Markt den drei Stromfirmen ohnehin aufzwingt: den Ausstieg aus der Atomenergie. Über die Altlast will sie aber noch nicht sprechen. Nationalrat Eric Nussbaumer ist überzeugt, dass letztlich nichts anderes übrig bleibt, als eine Abwicklungsgesellschaft zu gründen, eine «Bad Bank». Und dass man dies am besten jetzt in Angriff nehmen sollte, solange die Stromkonzerne noch eine «Mitgift» leisten können.
Denn anders als ein Wasserkraftwerk, das bei höheren Strompreisen in Zukunft wieder Gewinne realisieren sollte, hat ein AKW eine beschränkte Laufzeit und muss immer wieder teuer nachgerüstet werden. Je länger also diese Tiefpreisphase dauert, desto geringer ist die Chance, dass die Betreiber mit ihren Reaktoren je wieder Gewinne schreiben.
Nicht kommen sehen
Die BKW hat deshalb aus betriebswirtschaftlichen Gründen entschieden, Mühleberg stillzulegen. Axpo-Chef Walo hingegen betont, dass Beznau «nach wie vor einen Deckungsbeitrag» leiste. Auch wenn sich viele Kenner fragen, wie diese Rechnung aufgehen soll bei Gestehungskosten, die der Branchenverband VSE für AKWs bei 4 bis 7 Rappen veranschlagt.
Rekordtiefe Strompreise, Verluste statt Gewinne – und eine «Bad Bank» für die einst gefeierte Kernkraft: Das alles haben die früheren Chefs von Axpo, Alpiq und BKW nicht kommen sehen. Bis zum 10. März 2011 machten sie vor allem eines: Sie warteten auf die Bewilligungen für die neuen AKWs.