BILANZ: Herr Piasko, glaubt die Börse an eine stabile grosse Koalition in Deutschland unter Kanzlerin Angela Merkel?
Gérard Piasko: Nein. Diese Regierung hält keine vier Jahre durch. Ihre Koalitionsverhandlungen machten einen chaotischen Eindruck, die Ergebnisse sind absolut enttäuschend.
Der DAX liegt dennoch wieder deutlich über 5000 Punkten. Ist der Börse die Politik im Grunde egal?
Keineswegs. Globale Politik und die Wirtschaftspolitiken einzelner Länder sind ein wichtiger Faktor für Anlageentscheidungen. Internationale Investoren kauften im Vorfeld der Bundestagswahl deutsche Aktien, weil sie auf eine unternehmens- und damit aktionärsfreundlichere Politik setzten. Der Optimismus hat sich vermindert – zum Teil nach dem Patt bei der Wahl und zum Teil jetzt. Abermalige Neuwahlen wären für die Börse besser gewesen. Dann hätten die Wähler deutlicher artikulieren können, was sie nun eigentlich wollen. Die Börse wünscht Klarheit.
Warum verkaufen Investoren ihre deutschen Aktien dann nicht?
Weil die Wechselkurse die exportstarken deutschen Unternehmen begünstigen. Wäre der Dollar nicht so stark gestiegen, stünde der DAX erheblich tiefer. Ausserdem gibt es die schwache Hoffnung, dass nach einem Auseinanderbrechen der Koalition eine Regierung mit stärkerer Beteiligung der CDU es besser macht.
Was könnte einen Wechsel auslösen?
In Krisensituationen sind Reformen leichter durchsetzbar. Eine weltweit schwächere Konjunktur oder gar eine globale Konjunkturkrise wäre für Deutschland mit seiner hohen Arbeitslosigkeit besonders schmerzhaft.
Was vermissen Sie aus Finanzsicht im Koalitionsprogramm am meisten?
Eine unternehmensfreundlichere, flexiblere Arbeitsmarktpolitik. Ausserdem Massnahmen, welche die Produktivität verbessern würden, etwa steuerliche Anreize für Technologieinvestitionen, wie sie die USA gewähren.
Macht es die Schweiz besser als Deutschland?
Die Schweiz hat weniger starke Gewerkschaften und deshalb einen beweglicheren Arbeitsmarkt. Die Unternehmenssteuern sind niedriger, die Mehrwertsteuer ist mit 7,6 Prozent schon heute nur halb so hoch wie in Deutschland. Die Schweizer mussten allerdings auch keine Wiedervereinigung verkraften und haben auch kein Immigrationsproblem wie Deutschland und Frankreich.
Werden eine Extrasteuer für Reiche und die Abschaffung der Spekulationsfrist Kapital aus Deutschland vertreiben – etwa Richtung Schweiz?
Sagen wir es diplomatisch: In Europa gibt es steuerlich interessantere Plätze, und die Position Deutschlands im Wettbewerb um Anlegergeld wird weiter geschwächt.
Ist es ratsam, in einer Phase schwacher Konjunktur Steuern zu erhöhen und Haushaltausgaben zurückzufahren?
Haushaltkonsolidierung ist gefährlich für die Binnenkonjunktur. Der Konsum ist sehr verwundbar. Positiv ist, dass die langfristigen Zinsen weniger stark steigen, als es bei einer weiter ausufernden Staatsverschuldung zu erwarten wäre. Wenn die Langfristzinsen niedriger blieben, würde das die Kapitalkosten der Unternehmen senken. Das ist gut für die Unternehmensgewinne und gut für die Börse.
Glauben ausländische Investoren noch an die Fähigkeit der Deutschen, selbst Reformen herbeizuführen?
Ich zweifle nicht an der Reformfähigkeit. Bei Anlegern im Ausland besteht aber der Eindruck, die besseren deutschen Konjunkturdaten der vergangenen Monate hätten den Reformwillen eher geschwächt. Die Hoffnung auf Reformen ist gesunken, aber immer noch grösser als vor 12 oder 18 Monaten. Wichtig wäre, dass ein Ruck durch die Bevölkerung ginge, dass der Optimismus der Deutschen wieder zunähme.
Wie schätzen Sie die Position der börsennotierten deutschen Firmen im internationalen Wettbewerb ein?
Die Wettbewerbsposition hat sich mit dem Aufkommen von Billiglohnproduzenten aus Osteuropa und vor allem Asien verschlechtert. Die inzwischen dank niedrigen Zinsen gesunkenen Kapitalkosten haben diesen Prozess etwas aufgefangen.
Würden Sie jetzt deutsche Aktien kaufen?
Im internationalen Vergleich sind deutsche Papiere einerseits nicht überbewertet. Andererseits haben wir einen steilen Kursanstieg mit vielen politischen Vorschusslorbeeren hinter uns. Ich erwarte, dass der DAX von jetzt an parallel zum gesamteuropäischen Aktienmarkt laufen wird.
Gérard Piasko (46) ist Chef-Investment-Stratege für Privatkunden bei der Bank Julius Bär.