BILANZ: Sie haben sich vom Saulus zum Paulus gewandelt, vom vehementen EU-Kritiker zum -Befürworter. Wie kam es dazu?
Alexander Van der Bellen: Sie müssen meinen jugendlichen Leichtsinn von damals entschuldigen. Vieles hängt in Österreich mit der Geschichte zusammen. Speziell Ende fünfziger, Anfang sechziger Jahre assoziierten viele mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft einen Wiederanschluss Österreichs an Deutschland quasi durch die Hintertür. Österreich ist jetzt seit zehn Jahren in der EU, und ich denke, der Beitritt war kein Verlustgeschäft.
«Kein Verlustgeschäft» ist wohl untertrieben, vergleicht man die Wirtschaftszahlen Österreichs mit jenen der Schweiz?
In der Tat liegt das österreichische Wachstum zusammen mit jenem Finnlands und Schwedens deutlich über dem EU-Durchschnitt. Im Vergleich zur Schweiz ist die Wirtschaft um 21 Prozent stärker gewachsen. Die jährlichen Ausfuhren haben sich in den vergangenen zehn EU-Jahren mehr als verdoppelt, von 37 auf 78 Milliarden Euro im Jahr 2003. Nur Irland verzeichnet ein höheres Exportwachstum. Sie müssen wissen, Österreich war früher ein kleines, in sich geschlossenes Land und gar nicht begeistert vom Wettbewerb. Es gab jede Menge Kartelle zu Lasten der Konsumenten, wie etwa jenes für Zucker, in der Landwirtschaft oder im Bankensektor. Die Öffnung hin zu mehr Wettbewerb hat wesentlich dazu beigetragen, diese Kartelle aufzubrechen. Es hat sich sehr viel getan in Österreich.
Dem widerspricht, dass heute nur mehr 37 Prozent der Österreicher für einen EU-Beitritt votieren würden. Woher kommt die schlechte Stimmung?
Wir mussten natürlich einen Preis für den Beitritt bezahlen. So werden immer wieder falsche Prioritäten gesetzt, die bei der Bevölkerung nicht ankommen. Anstatt über eine Vereinheitlichung der Umsatzsteuer wird über eine Normierung der Ausstattungen in Kindergärten oder den Krümmungsgrad einer Banane diskutiert. Viele Dinge treffen auch die österreichische Volksseele. So müssen wir Marmelade neuerdings Konfitüre nennen, weil man vergessen hat, den Begriff Marmelade zu schützen, und nun die Engländer diesen Ausdruck exklusiv für ihre Orangenmarmelade verwenden. Vieles in Brüssel ist schlecht organisiertes Chaos. Wohin die Reise geht, weiss man nicht. In einigen Fragen sind gar die Grenzen des Nationalstaates überschritten. Aber es ist besser, dabei zu sein, als keine Einflussmöglichkeit zu haben.
Den Super-GAU für Österreich gab es ja in der Verkehrspolitik. Warum haben in diesem Punkt die österreichischen Politiker in der EU derart versagt?
In Brüssel hätte man die Alpen am liebsten flach. In Tirol und Wien andererseits hat man immer mit Tricks versucht, sich aus der Misere zu ziehen, was in Brüssel schlecht angekommen ist. Die Transportunternehmer im eigenen Land beispielsweise sollten nicht besteuert werden, die ausländischen hingegen schon. Das geht nicht. In der EU ist es eben schon so, dass man sich für die Probleme der holländischen Fischer interessieren muss, wenn man etwas von der EU-Kommission will. In Österreich hegt man grosse Bewunderung für das, was die Schweiz mit der Europäischen Union ausgehandelt hat. Hut ab.
Österreich musste ja nicht nur die Verkehrs-, sondern auch die Geldpolitik aufgeben. Wie stehen Sie als Ökonom dazu?
Das war kein Problem, weil der Schilling in den letzten Jahrzehnten an die D-Mark gebunden war und Zinsentscheide von Frankfurt vorgegeben wurden. Für die Schweiz wäre dies ganz etwas anderes. Wenn die Schweizer den Franken aufgäben, wäre dies für sie wohl schlimmer als für die Deutschen die Aufgabe der D-Mark.
Sie erwähnen immer wieder, dass Sie die Schweiz gerne in der EU sähen. Die Kleinen gemeinsam gegen Goliath?
In vielen Belangen ist man ja so oder so bei der EU dabei. Die Frage ist: Hat man noch einen minimalen Einfluss oder nicht? Ich finde es schade, dass die Schweiz nicht dabei ist. Viele der österreichischen und Schweizer Probleme sind identisch. Denken Sie nur an die Verkehrsprobleme, den Naturschutz oder die verkrusteten Strukturen. Ich muss der Schweiz allerdings zugestehen, dass sie sich mit den Bilateralen Verträgen durchaus in einer komfortablen Situation befindet.
Alexander Van der Bellen (61) ist Professor für Volkswirtschaft an der Uni Wien und Präsident der Grünen Partei Österreichs. Seit er 1997 das Ruder bei den Grünen übernahm, vereinte er die zerstrittenen Öko-Fundis und schaffte es, den Wähleranteil zu verdoppeln.