BILANZ: Wie schätzen Sie die Drohung von Standard & Poor’s (S&P) ein, das Rating für die Kreditwürdigkeit Deutschlands herabzustufen, sollten weitere Reformen ausbleiben?
Thomas Straubhaar: Es ist wohl eher ein Warnschuss. Die Hängepartie nach den Wahlen hat zunächst keinen Einfluss auf das Rating. S&P plant keine kurzfristige Anpassung, sondern geht gar davon aus, dass Deutschland in den nächsten 12 bis 24 Monaten noch immer das gute «AAA» behalten wird.
Dies ist wohl keine Aussage, auf der sich die Regierung ausruhen sollte.
Nein. Das Rating kann sich jederzeit ändern, wenn in Deutschland die Reformen nicht vorangetrieben werden und die Verschuldung weiterhin steigt. Von allen Ländern, die von S&P geratet werden und die ein «AAA» haben, hat Deutschland – mit zwei Dritteln des Sozialprodukts – den höchsten Verschuldungsquotienten. Tendenz steigend.
Mit welchen Massnahmen sollte diese Misere jetzt bekämpft werden?
Als Erstes muss dieser Trend gebrochen werden. Rot-Grün hat primär versucht, durch neue Steuereinnahmen, das Schliessen von Schlupflöchern und den Abbau von Privilegien den Schuldenberg abzutragen. Dies wird aber nicht genügen. Zum einen sind ein höheres Wachstum und eine höhere Beschäftigung unabdingbar, um mehr Staatseinnahmen zu generieren. Viel entscheidender aber ist es, die Staatsausgaben zu senken. Der Abbau von Ineffizienz und Verschwendung von Staatsmitteln ist dringend notwendig.
Wo ist die Verschwendung denn am schlimmsten?
Im Bericht des Bundes der Steuerzahler steht, dass pro Jahr 30 Milliarden Euro verschleudert werden. So werden Eisenbahnstrecken nicht aus ökonomischen, sondern aus politischen Gründen gebaut. Oder es werden für Wildschweine Brücken, für Fische Wendeltreppen erstellt. Sparen muss man auch dort, wo die Regierung Konsumausgaben subventioniert. Es beginnt mit der Rente, für die ja bereits Nullrunden eingeläutet sind. Auch bei der Arbeitslosenunterstützung hat es bereits Einschränkungen gegeben. Als Nächstes sollten Subventionen für Not leidende Branchen oder strukturschwache Regionen gezügelt werden.
Trauen Sie einer grossen Koalition zu, solche Reformen zügig durchzusetzen?
Nein. In grossen Koalitionen kann man nicht eine Politik mit Ecken und Kanten machen. Wenn ich jetzt lese, dass es schnell zu einer Einigung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer kommen soll, dann sehe ich meine Bedenken bestätigt. Wenn sich ein Kartell an den Tisch setzt, dann werden in aller Regel Verträge zu Lasten Dritter gemacht. Der Schuldenberg wird weiter ansteigen. Und auf der Einnahmenseite beginnt man da zuzuschlagen, wo sich die Bürger nicht wehren können. Die Mehrwertsteuererhöhung wird wohl der erste Schritt sein. Danach folgen dann das Schliessen von Steuerschlupflöchern und der Abbau von Steuerprivilegien, was zwar vernünftig, aber letztlich doch eine Steuererhöhung ist. Für mehr Wachstum müsste man aber die Lohnnebenkosten senken oder die Steuersätze ganz generell herabsetzen.
Welche Auswirkungen erwarten Sie für die Schweiz?
Intuitiv nimmt man ja an, dass die Schweiz als kleines Land vom grossen Deutschland auf Gedeih und Verderb abhängig sei. Das lässt sich aber empirisch nicht bestätigen. Der Konjunkturzyklus der Schweiz ist nicht synchron mit jenem in Deutschland. Dennoch kann es der Schweiz nicht egal sein, wie sich Deutschland entwickelt: Immerhin fliesst fast ein Drittel der Exporte dorthin. Die Schweizer machen es allerdings besser als zum Beispiel die Belgier, indem sie die Schwäche Deutschlands mit Erfolgen auf anderen Weltmärkten teilweise kompensieren.
Was sagen Sie zum Schweizer Ja zur erweiterten Personenfreizügigkeit?
Das hat mich sehr gefreut. Ich habe dies 15 Jahre lang an vorderster Stelle immer wieder analysiert und gefordert. Und immer wieder habe ich erklärt, dass mit der Personenfreizügigkeit nicht eine Masseneinwanderung in die Schweiz stattfinden werde. Für das Land wird es leichter werden, im Ausland Arbeitsplätze zu rekrutieren. Es wird nicht so sein, dass jetzt in Massen arbeitslose Polen, Ungarn oder Tschechen in die Schweiz strömen werden. Es wird eine ganz organische Öffnung des Arbeitsmarktes in alle Richtungen sein, und davon wird die Schweiz enorm profitieren. Vor allem für den Grossraum Zürich und Basel ist dies sehr interessant.
Der Schweizer Ökonomieprofessor Thomas Straubhaar (48) leitet das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Institut (HWWI).