Ein junger Mann, der weiss, was er will. Mit 18 Jahren: Abitur. Mit 23 Jahren Abschluss in Ökonomie an der Hochschule in St. Gallen, Doktor mit 26. Und dazwischen absolvierte er diverse internationale Praktika in Industrie, Handel und im Bankenwesen.
Mark Schneider, der sich in St. Gallen noch Ulf M. Schneider nannte, war bereits Anfang der 1990er Jahre im Overdrive unterwegs. Und er hatte bereits damals ein Flair für Weltkonzerne. «Strategisches Management in der multinationalen Unternehmung» heisst der Titel seiner Doktorarbeit, 315 Seiten. Oder: Wie führe ich einen Milliardenkonzern? Was der ambitionierte Mittzwanziger an der Handelshochschule an Theoretischem lernte, darf er heute in der Praxis testen.
Rätselraten um neue Ausrichtung
Am 1. Januar übernahm Schneider, inzwischen 51, das Ruder bei Nestlé. Seither wird gerätselt, was der HSG-Absolvent mit dem weltgrössten Nahrungsmittelkonzern im Schilde führt. Noch drängender ist diese Frage, seitdem sich der US-Hedgefonds Third Point mit 3,4 Milliarden Franken bei Nestlé eingekauft hat und auf eine Trendwende pocht: mehr Geld für die Aktionäre, weniger für die Firma. Und zwar subito.
Im Aktionariat rumort es gewaltig. Doch Schneider schweigt, seit sechs Monaten. Ein klärendes Interview gab er nie, auch seine Meinung zum Hedgefonds-Angriff behält er lieber für sich. Nur als Third-Point-Chef Daniel Loeb behauptete, Schneider stimme allen seinen Plänen zu, sickerte ein Dementi aus Vevey durch. Offenbar war die Aussage mehr Wunsch als Wirklichkeit.
Roadmap definiert
Doch aus der Nicht-Kommunikation abzuleiten, Schneider habe keinen Plan, wäre falsch. Vielmehr hat er in den letzten Monaten mit dem Verwaltungsrat unter Vorgänger Paul Bulcke seine Roadmap definiert. Am Investor Seminar Ende September wird er die Karten auf den Tisch legen.
Doch bereits heute lassen sich die Eckpunkte von Schneiders Weg erkennen. Am 21. Juni hat er am Consumer Goods Forum in Berlin, einem traditionsreichen Branchentreffen, einiges offengelegt. Der Berliner Auftritt zeigt: Hinter dem zurückhaltend wirkenden Deutschen mit amerikanischem Zweitpass steht ein Industriemanager mit scharfem Blick und klarer Ansage. «Der Status quo ist keine Option», sagte er seinen Branchenkollegen, was wohl so zu übersetzen ist, dass es im Nestlé-Maschinenraum dringend mehr Dynamik braucht. Und fast schon martialisch fügte er an: «Marken müssen wachsen – oder sie sterben.»
Vollgas beim digitalen Geschäft
Es ist ein neues Selbstverständnis, auf das der neue Nestlé-Chef setzt: Grösse allein ist noch lange kein Garant für Erfolg. Ganz im Gegenteil, in Zeiten von Facebook reiche es nicht, wegen der Qualität seiner Produkte respektiert zu werden, sondern «die Kundschaft muss einen mögen». Und noch etwas schrieb er vom fernen Berlin der Mannschaft in Vevey ins Stammbuch: Global sei heute nicht mehr automatisch ein Vorteil, Sympathien geniesse vielmehr das Lokale. Wer wie Nestlé mit globalen Produkten hausiere, der habe deshalb «eine Extrameile» zu gehen. Schneider ist keiner, der um den heissen Brei herumredet: Stagnation und Wachstumsschwäche seien kein Schicksal – und Kostenreduktion allein auch kein Rezept für die Zukunft.
Mehr Innovation, mehr Tempo
Kein Zweifel, da macht sich einer auf, einen Weltkonzern neu auszurichten – auch wenn er das so nie sagen würde. Ob E-Commerce, Kommunikation oder Portfolio, ob Brands oder Kosteneffizienz: Was vor seiner Zeit angedacht und zum Teil aufgegleist wurde, genügt nicht. Es braucht mehr Innovation – und mehr Tempo.
Beispiel E-Commerce, ein Feld, auf dem Nestlé einiges aufzuholen hat. Etwa gegenüber der britisch-niederländischen Unilever, die von Paul Polman, einem Ex-Nestlé-Mann, geführt wird. Unilever spielte bereits 2015 6 Prozent seines Umsatzes online ein. Nestlé, fast doppelt so gross und schwerfälliger, bringt es heute gerade mal auf 5 Prozent. Schneider aber will bis 2025 12 Prozent online umsetzen. Zurzeit wachse das E-Commerce-Geschäft bei Nestlé dreimal so schnell wie der Rest, verriet Schneider in Berlin.
Der Chef setzt voll auf eine Multi-Channel-Strategie: Verkauf über den Retail, Heimlieferung, Abholservice, E-Tailer, Umsatz über eigene Läden wie im Fall von Nespresso und Dolce Gusto. Das Motto heisst: Alles geht, aber passen muss es. Schneider: «Am Ende zählt nur, was der Konsument will.» Und der will nicht bloss mit Angeboten überhäuft, sondern über den passenden Kanal möglichst individuell bedient werden.
Mehr Bio, mehr Nährstoffe
Schneiders Ass ist E-Commerce-Chef Sebastien Szczepaniak, der vom Online-Riesen Amazon kam. Noch wichtiger ist Wan Ling Martello. Die Sino-Amerikanerin dirigiert die Region Asien, Ozeanien und Subsahara-Afrika, Nestlés wichtigste Wachstumsregion. Ling Martello hat 8 der 10 am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften unter sich und 14 der 20 grössten Megacities. Ihr Reich ist auch das globale Gravitationszentrum im digitalen Geschäft. 40 Prozent des B2C-Handels werden in Asien bereits online abgewickelt. Bis 2019 wird das Online-Handelsvolumen Asiens dasjenige von Europa und den USA zusammen übertreffen.
Wachstumstreiberin Ling Martello sitzt nicht nur im Verwaltungsrat des chinesischen Online-Händlers Alibaba, seit kurzem ist sie auch Verwaltungsrätin beim amerikanischen Taxi-Schreck Uber.
Erste Ausbeute der neuen Achse Mobility and Food ist ein Pilotprojekt in São Paulo. Mit der Uber-Eats-App lässt sich Nestlés Babynahrung direkt in die Wohnung oder in die Villa ordern. Das spart Zeit – ein kostbares Gut für Professionals in der chronisch verstopften Grossstadt, vor allem, wenn sie sich neben dem Beruf auch noch um Kinder kümmern. Zudem soll der Fahrdienst an Festtagen Brasiliens Grossstädte mit Nestlé-Schokoriegeln versorgen. Ein Versuch, der nach Skalierung schreit. Was in São Paulo oder Rio funktioniert, könnte auch anderswo klappen.
Veränderter Auftritt
All die neuen Projekte in der digitalen Welt verändern den Auftritt. «Ein alter Marketingtraum geht in Erfüllung», schwärmte Schneider in Berlin – und meint die Zweiweg-Kommunikation mit der Kundschaft. Bei der Tierfuttermarke Purina hat Nestlé vorgemacht, wie man eine attraktive Kundendatei aufsetzt und bewirtschaftet. Zwei Jahre nach dem Start sind bereits 200'000 Tierbesitzer registriert, 40'000 gelangen jährlich via Facebook-Messenger ins Purina-Universum.
Man kümmert sich um jedes Problemchen der Kundschaft. «Jeder Tierbesitzer hat irgendwann Fragen zur Ernährung seines Tieres», weiss Schneider. Und da will er gerne Antworten liefern – und nebenher seine Produkte verkaufen. Ein unglaublicher Erfolg sei das Projekt, schwärmt er. Um den Druck im Kessel hochzuhalten, hat Nestlé die Ausgaben für digitale Werbung und Kommunikation massiv hochgefahren.
Getunte Kraftwürfel
Gesünder, reichhaltiger, besser – und damit rentabler: Auch hier will Schneider zulegen – ganz im Sinn von «Good Food, Good Life», dem Credo von Peter Brabeck, dem früheren Präsidenten, der ihn letztes Jahr nach Vevey lotste. «Food» sei mehr als nur «Betriebsstoff», sagte Schneider und zitierte den Maggi-Bouillon-Würfel, der im südlichen Afrika nun angereichert mit Nährstoffen und Vitaminen verkauft wird.
Der neue, getunte Kraftwürfel ist ein Erfolg, nicht nur kommerziell, sondern auch in Sachen Image. Der Nährstoffmangel gehöre hier zu den grossen Problemen der öffentlichen Gesundheit, die Gefahr einer Überdosis sei gering, sagte Schneider – ein Grund, weshalb die neue Bouillon-Formel dem Konzern viel Anerkennung eingetragen habe, auch von Regierungen.
Schneider will auch in Bereichen wachsen, von denen einige Konkurrenten lieber die Finger lassen: im Geschäft mit verarbeiteten Lebensmitteln. Wie mit Lean Cuisine, einer bis 2010 erfolgreichen US-Diätmarke für Fertigprodukte, die man in den letzten zwei Jahren neu aufgesetzt hat. Statt aus der Mode geratenes Diätfeeling gibt es jetzt mehr Bio-Ingredienzen, mehr Gemüse, mehr Proteine. Der Effekt der neuen Mischung ist verblüffend: ein Umsatzsprung von 7,8 Prozent im letzten Jahr – bei einem organischen Wachstum konzernweit von 3,2 Prozent.
Veredeln oder «Premiumisierung» heisst Schneiders Devise, wie bei Nescafé Azera, einem «super premium soluble coffee», mit dem Nestlé die teetrinkenden Briten auf den Coffee-Geschmack brachte – ein «grossartiger kommerzieller Erfolg», wie der Chef schwärmt. Nun will er das Erfolgsrezept in den nächsten Wochen in 18 europäischen Ländern ausrollen, gestartet wird dieser Tage in Deutschland.
Durchstarten mit Startups
Auch beim Thema Food-Startups macht Schneider Tempo. Der Nachholbedarf ist gross. Nestlé brillierte zwar früh mit einem eigenen Venture-Capital-Fonds. Doch die Millionen flossen in Startups, die an medizinischen Lebensmitteln tüfteln – einem Geschäftsfeld, das es erst noch zu entwickeln gilt. Bei FoodStartups sind andere weiter, vor allem die Amerikaner. General Mills (Häagen-Dazs, Cheerios und Yoplait) setzt heute auf externe Innovation statt eigene Forschung im Grosskonzern. Campbell Soup steckte 125 Millionen Dollar in einen Venture-Fonds und Tyson Foods, einer der grössten Fleischlieferanten von McDonald’s und Kentucky Fried Chicken, machte 150 Millionen für Food-Startups locker. Danone betreibt mit Manifesto Ventures ein eigenes VC-Vehikel, der griechische Joghurt-Produzent Chobani zählt auf einen Food-Incubator.
6 Milliarden Dollar hat Big Food seit 2010 in Startups investiert – eine Wette, bei der Nestlé nun auch mitbieten will. Schneiders jüngster Coup ist eine Partnerschaft mit der niederländischen Rabobank und Rocketspace, einem Accelerator für Tech-Startups. Ziel ist es, bei Terra Food anzudocken, einem Beschleuniger von Food-Startups, um neue Formeln zur Produktion und zum Vertrieb von Nahrungsmitteln finden. In einem ersten Schritt will man zwanzig Startups zum Fliegen bringen. Wenige Tage vorher hat Schneider 77 Millionen Dollar in den US-Mahlzeitdienst Freshly gesteckt. Es ist Nestlés erstes Grossinvestment in ein Food-Startup. Freshlys Pitch: Die Auslieferung von Fertiggerichten, die nach einem kurzen Zwischenstopp im Mikrowellenofen fixfertig auf dem Küchentisch dampfen.
Ein Instant-Produkt, das perfekt auf den Dynamo an der Nestlé-Spitze zugeschnitten ist. Denn Zeit ist für ihn seit seiner Studienzeit das kostbarste aller Güter. Kaum hielt er nämlich den Doktortitel aus St. Gallen in der Hand, sass er im Flieger nach Boston – nicht zur Erholung. Nein, Schneider hatte andere Pläne, wie dem Curriculum Vitae in seiner Doktorarbeit zu entnehmen ist: «Aufnahme des MBA-Studiums an der Harvard Business School».