Die Meldung sorgt für Gesprächsstoff unter Zürcher Wirtschaftsanwälten: Baker McKenzie, eine der grössten Kanzleien der Welt (6100 Mitarbeiter, 2,7 Milliarden Dollar Umsatz), rollt in den nächsten Wochen unter anderem in der Zürcher Niederlassung ein digitales Tool aus, das fähig ist, selbständig die Rechtsrisiken in Verträgen aller Art zu bewerten. Was junge Anwälte mit Stundenansätzen von 300 bis 500 Franken heute bei einem M&A-Prozess während Tagen, wenn nicht Wochen beschäftigt, übernimmt neu die Maschine – schneller, günstiger und erst noch weniger fehleranfällig. Due Diligence per Knopfdruck.

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Kollega Dr. iur. LL.M. Roboter: Kein anderes Thema treibt die Anwaltsbranche zurzeit derart um wie Legaltech. Der Grund: Diesmal geht es nicht um Automatisierung, sondern darum, wie weit Softwareprogramme in den Arbeitsbereich des Anwalts vordringen. «Die Frage ist nicht, ob das passieren wird, sondern nur wann und in welchem Umfang», sagt Ben Allgrove, Partner im Londoner Büro von Baker McKenzie und so etwas wie der Mister Artificial Intelligence (AI) der Anwaltsszene.

Die internationalen Grosskanzleien legen vor

Baker McKenzie ist kein Einzelfall. Bei den internationalen Wirtschaftskanzleien ging es in den letzten Monaten Schlag auf Schlag in Sachen Legaltech. Die Londoner Grosskanzlei Freshfields Burckhaus Deringer mit Kunden wie Novartis, LafargeHolcim, VW oder Maersk Oil ging im Januar eine Kooperation mit Neota Logic ein, einem Provider für intelligente Software im Bereich Recht und Regulatorien. Die ebenfalls in London ansässige Kanzlei Slaughter and May mit 115 Partnern, 1164 Angestellten und Kunden wie Credit Suisse, Cathay Pacific und Tata Steel ist seit März mit 5 Prozent an Luminance beteiligt, einem führenden Anbieter für intelligente Software im Bereich Due Diligence, Compliance, Versicherung und Vertragsmanagement an der Cambridge University. Und Dentons – mit rund 7000 Anwälten die grösste Kanzlei weltweit – hält sich mit Nextlaw Labs gleich einen eigenen Legaltech-Inkubator – in Partnerschaft mit IBM.

Baker McKenzie wieder hat sich für seine AI-Zukunft EBrevia ins Boot geholt. EBrevia ist ein Spin-off von Wissenschaftern der University of Columbia, das sich auf die Analyse von Verträgen in M&A-Prozessen fokussiert. Das Software-Tool wird fürs Erste neben Zürich in den Baker-Büros in Chicago, Toronto, Hongkong, Kuala Lumpur, Singapur, Frankfurt, München, Berlin und Düsseldorf installiert. Bis Ende Jahr soll der globale Rollout erfolgen.

Viel Bewegung auch auf dem Platz Zürich

Loyens & Loeff, eine seit kurzem in Zürich mit einem Büro präsente internationale Kanzlei, betreibt ein internes, interdisziplinäres Legal-Lab. Mit von der Partie sind ein Linguist, ein Mathematiker von der Sorbonne und ein Astronom. Getüftelt wird an «machine learning». Zwei Tools sind bereits im Einsatz, wie Beat Baumgartner, Partner im Zürcher Büro, sagt. Beide haben klingende Namen: Laila ist ein Programm zur Analyse von Aktienverkaufsverträgen, Olena ist ein intelligentes Tool zur Organisationsanalyse international tätiger Unternehmen.

Doch auch die grossen Schweizer Wirtschaftskanzleien  haben das Thema künstliche Intelligenz auf dem Radar. «Die Awareness ist da», bestätigt Lukas Morscher von Lenz & Staehelin, der Nummer eins auf dem Schweizer Markt. Der für die Digitalisierung verantwortliche Partner sieht neben der Due Diligence auch bei der Vertragsredaktion Potenzial. Das Thema: Intelligente Software, die vor allem bei komplizierten Transaktionsverträgen aus einem Fundus erprobter Vertragsklauseln Vorschläge macht: eher käuferfreundlich, eher verkäuferfreundlich, ausgeglichen. Dazu komme der intelligente Research, insbesondere die Vernetzung von eigenem Know-how mit externen Datenbanken, sagt Morscher – wobei: «Vernetzung heisst immer auch mögliches Einfallstor für Hacker und damit Sicherheitsrisiko.»

Schweizer Grosskanzleien holen sich Legaltech ins Haus

Bereits auf Tuchfühlung mit Legaltech ist man bei Schellenberg Wittmer. Die Kanzlei hat seit einiger Zeit eine Tochter, FlexLaw by Schellenberg Wittmer. FlexLaw bietet projektbezogene Unterstützung bei der Sichtung grosser Mengen von Dokumenten, wie sie bei grossen Rechtsfällen anfallen, E-Discovery und Vertragsmanagement.

Sehr konkret ist die Sache auch bei Homburger. Die Kanzlei hat im Juni bekannt gegeben, dass sie mit Ravn zusammenarbeitet, einem führenden Anbieter von intelligenter Software. Die Kanzlei beobachte die Entwicklung sehr genau, insbesondere die Systeme, die mit Smart Contracting und Datenanalyse zu tun hätten, sagt Daniel Daeniker, Managing Partner bei Homburger.

Legaltech – ein Vorteil für die Grossen?

Auch die Schweizer Matadoren der Anwaltsszene haben das Thema demnach genau im Blick. Auf einem anderen Blatt steht, ob die im internationalen Vergleich kleinen Schweizer Grosskanzleien genügend PS auf den Boden bringen, um mithalten zu können. Das Problem: Die Kosten für Anschaffung und Implementierung sind bei intelligenter Software nur die eine Seite. Die andere ist der Nutzen, der mit jeder Anwendung grösser wird. Mit anderen Worten: Der Nutzen intelligenter Software ist auch eine Frage der Grösse einer Anwaltskanzlei.

«Wir sind überzeugt, dass wir hier aufgrund unserer globalen Präsenz einen Vorteil haben», sagt Marnin Michaels, Mitglied des Management Committee von Baker McKenzie in Zürich. Lukas Morscher formuliert vorsichtiger: «Der Faktor Kanzleigrösse wird in den nächsten Jahren wichtiger werden.» Entscheidend sei, dass die Kanzlei nach der Implementierung intelligenter Software effizienter arbeite als vorher.

Risiko oder Chance?

«Klar, die Skaleneffekte sprechen für die grossen Kanzleien», sagt Manuel Liatowitsch, Geschäftsleitungsmitglied von Schellenberg Wittmer. Er glaube aber nicht, dass die Schweizer Wirtschaftskanzleien bei diesem Wettbewerb deswegen von vornherein im Nachteil seien. «Richtig ist, dass wir gefordert sind, uns mit Legaltech zu beschäftigen», doch das sehe er als vergleichsweise junger Partner positiv. Die Anwaltsbranche habe sich lange schwer getan mit neuen Technologien, er sei deshalb froh, «dass es endlich losgeht». Und so Neuland seien neue Technologien nun auch wieder nicht. Der grosse Schub in Sachen Digitalisierung liege bei Schellenberg Wittmer bereits drei bis vier Jahre zurück. «Dass wir weiter am Ball bleiben, ist für uns eine Selbstverständlichkeit.» AI als Chance: Das sieht man auch bei Homburger so. «Intelligente Systeme werden uns helfen, noch besser auf Klientenbedürfnisse einzugehen», sagt M&A-Spezialist Daeniker.

Verhalten skeptisch äussert sich Hans Rudolf Trüeb, Partner und Mitglied der Geschäftsleitung bei Walder Wyss. Grösstes Problem sei die Investitionssicherheit: «Wer weiss, welche dieser Plattformen, in die wir nun beträchtliche Ressourcen investieren, in drei Jahren noch da ist?» Dazu komme, dass die meisten AI-Lösungen nur in Englisch oder allenfalls noch in Spanisch angeboten werden. «Für Inhalte in deutscher Sprache beginnen Sie auf der grünen Wiese.»

Der Druck von Seiten der Kunden nimmt zu

Trotzdem, auch bei Walder Wyss ist die neue Zeit angebrochen. Die Schweizer Nummer zwei testet zurzeit das Tool von Luminance zur Dokumentenanalyse sowie eine schweizerische Lösung zur Automatisierung von Dokumenten. Ziel sei es, die Programme produktiv einzusetzen und einen Mehrwert für die Klienten zu schaffen, sagt Hans Rudolf Trüeb. «Doch das ist ein steiniger Weg.»

Doch die Technologie ist nur ein Treiber der Entwicklung. Wichtig ist auch der Druck vonseiten der Kunden. Der Trend geht in Richtung «more for less». Immer mehr Klienten drängen auf All-inklusive-Packages. Viele Leistungen lassen sich nicht mehr verkaufen, sondern müssen gratis angeboten werden.

Schlechtere Anwälte in den Rechtsabteilungen – das war einmal

Baker McKenzie zum Beispiel stellt ihren Klienten Apps zur Verfügung für grenzüberschreitende Kotierungen und mit Informationen zum Wettbewerbsrecht in 47 Staaten. Einfach in Stunden abzurechnen, wie das die meisten Anwälte gewohnt waren, wird schwieriger. Und wenn eine Kanzlei darauf besteht, bekommt sie es auf Klientenseite mit einem digitalen Tool zu tun, das sämtliche Rechnung auf deren Plausibilität überprüft. Peinlich, wer dabei hängen bleibt.

Dazu kommt, dass vor allem Grosskunden in den letzten Jahren viel Geld in eigene Rechtsabteilungen und deren Wissen investiert haben. Heute begegnen sich Inhouse-Teams und externe Anwälte auf Augenhöhe. Bevor man ins Geschäft kommt, wird hart verhandelt. Der alte Juristenspruch, dass die besten Anwälte zu den Kanzleien gehen und die mässigen in den Rechtsabteilungen der Unternehmen unterkommen, hat sich überlebt.

Gefährdete Junganwälte?

Dazu kommt die exponentielle Entwicklung der Datenmengen, welche die menschlichen Kapazitäten schlicht an ihre Grenzen bringen. Grosse Fälle wie die Schweizer Schwarzgeld-Cases oder die Dieselgate-Verfahren von VW generieren Datenvolumen, die eine computergestützte Bewältigung unabdingbar machen.

Bleibt die Frage, was die künstliche Intelligenz auf lange Sicht mit dem Beruf des Anwalts anstellen wird. Common Sense in der Szene ist, dass die Programme als Erstes die Jobs von Associates – so werden die Berufseinsteiger genannt – übernehmen werden. Die Hamburger Bucerius Law School und Boston Consulting gingen 2016 in einer Untersuchung davon aus, dass Maschinen in den nächsten Jahren 30 bis 50 Prozent der Jobs von Associates erledigen werden. Doch das ist umstritten. Dana Remus und Frank Levy, zwei Wissenschafter der University of North Carolina School of Law, die sich die Mühe gemacht haben, das Ganze empirisch zu untersuchen, sind vorsichtiger. Ergebnis: Nur 13 Prozent der Arbeiten von jungen Associates sind digitalisierbar. Zudem konnten sie keinen «signifikanten Zusammenhang» zwischen der Stellung eines Anwalts innerhalb der Kanzlei und den Auswirkungen technologischer Neuerungen feststellen.

Es wird immer um die Alternative Anwalt mit oder ohne digitales Tool gehen

Klar ist: Die künstliche Intelligenz steckt noch immer in den Kinderschuhen. Bei allen Extrapolationen bleibt sie die grosse Unbekannte. Ben Allgrove sagt es in Anlehnung an Henry Ford, den legendären Autobauer: «Wir sind noch immer in der Phase, in der wir uns schnellere Pferde wünschen und uns das Auto noch nicht vorstellen können.»

Zwei Dinge werde künstliche Intelligenz zudem nie ersetzen können, ist der Topanwalt überzeugt: die Identifikation des rechtlichen Problems – es ist das Herzstück dessen, was ein Anwalt macht – und die menschliche Beziehung. Es werde deshalb immer um die Frage gehen: Anwalt mit oder ohne digitale Helfer. Und nicht um die Frage Anwalt oder Software.