Nach einem gigantischen Finanzskandal steht Wirecard vor der Pleite. Am Donnerstag meldete das Payment-Unternehmen wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung Insolvenz an. Es werde geprüft, ob auch Insolvenzanträge für Wirecard-Töchter gestellt werden müssen, teilte der Konzern mit.
Es ist eine der grössten Pleiten der Bundesrepublik, die das Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland erschüttert. Erstmals in der mehr als 30-jährigen Geschichte des Dax kollabiert ein Mitglied des Börsen-Leitindex. Die Aktien stürzten nach einer vorübergehenden Aussetzung des Handels um knapp 80 Prozent auf 2,50 Euro ab. Dennoch wird die Aktie wohl noch bis im September im Dax bleiben. Zu Hochzeiten kostete sie 200 Euro, doch die Geschichte vom erfolgreichen Fintech aus Deutschland erwies sich als Illusion.
«Aufwendiger und ausgeklügelter Betrug»
Die Lage spitzte sich letzte Woche zu, nachdem die Wirtschaftsprüfer von EY das Testat für die Bilanz 2019 verweigerten: Bestätigungen über Treuhandkonten in den Philippinen waren offensichtlich gefälscht. Die dort angeblich liegenden 1,9 Milliarden Euro gab es wohl nie.
Inzwischen spricht EY von einem weltumspannenden Betrugssystem, mit dem sie ebenso hinters Licht geführt worden sei wie die Anleger: «Es gibt klare Anzeichen dafür, dass das ein aufwendiger und ausgeklügelter Betrug war, in den unterschiedlichste Parteien rund um die Welt aus verschiedenen Institutionen involviert waren, mit dem Ziel der Täuschung», erklärte die Deutschland-Tochter von EY. Solche betrügerische Absprachen, die mit hohem Aufwand und Dokumenten falsche Fährten legten, liessen sich auch mit den besten Prüfmethoden nicht aufdecken, rechtfertigte sich das Auditing-Unternehmen.
«Es gibt keinen Weg, dass sie ihre Schulden von insgesamt 3,5 Milliarden Euro aus dem gesunden Kerngeschäft zurückzahlen können.»
Die Gläubigerbanken versuchten sich inzwischen ein Bild davon machen, wie viel des angeblichen Wirecard-Geschäfts tatsächlich existiert und ob sich ein gesunder Kern der Firma retten lässt. Doch die Zeit wurde zu knapp, der Vorstand sah sich zum Insolvenzantrag gezwungen. «Ohne eine Einigung mit den Kreditgebern bestand die Wahrscheinlichkeit der Kündigung und des Auslaufens von Krediten mit einem Volumen von 800 Millionen Euro zum 30. Juni 2020 und 500 Millionen Euro zum 1. Juli 2020», erklärte Wirecard.
Ein Grossteil der Umsätze existiere anscheinend nur auf dem Papier, die Kosten dagegen seien korrekt ausgewiesen, sagte eine mit der Angelegenheit vertraute Person. «Es gibt keinen Weg, dass sie ihre Schulden von insgesamt 3,5 Milliarden Euro aus dem gesunden Kerngeschäft zurückzahlen können.»
Kredite werden abgeschrieben
Nun müssen die Gläubiger hoffen, möglichst viel Geld im Insolvenzverfahren zu retten. Doch die Chancen scheinen gering. «Das Geld ist weg», hiess es aus einer Bank. «In einigen Jahren werden wir vielleicht ein paar Euro zurückerhalten, aber wir werden den Kredit jetzt abschreiben.»
Auch aus zwei anderen Banken hiess es, der Kredit werde abgeschrieben. Fraglich sei, was von Wirecard verwertet werden könne. Wettbewerber bräuchten die Wirecard-Technologie wohl nicht – und die Kunden, zu denen Firmen wie Aldi, Ikea oder die Fluggesellschaft KLM gehören, könnten sie einfach auf ihre Plattformen herüberziehen.
Die Finanzaufsicht Bafin, die erst spät gegen Wirecard vorgegangen ist, steht massiv in der Kritik. «Bei der Finanzaufsicht müssen Köpfe rollen», sagte der Linken-Finanzpolitiker Fabio de Masi. «Der Insolvenzantrag von Wirecard ist ein Fiasko für den Finanzplatz Deutschland.»
Reputationsschaden für EY
Ins gleiche Horn stiess der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz. «Dass ein Dax-Konzern innerhalb kürzester Zeit als Börsenstar in die Insolvenz schlittern konnte, wirft ein schlechtes Licht auf den gesamten Standort Deutschland», sagte Bayaz. «Besonders die Bafin und Abschlussprüfer müssen umfassend erklären, warum diese Entwicklung zu keinem Zeitpunkt vorhergesehen und verhindert werden konnte.»
- Kommentar: Wieder einmal übersahen die Finanzprofis reihenweise Warnsignale.
- Erstmals geht ein Dax-Konzern in Konkurs: Wirecard ist pleite.
- Das Geschäftsfeld der Zahlungsabwicklung ist lukrativ: Welche Aktien können vom Wirecard-Debakel profitieren?
- In 6 Punkten: Hintergründe zum Fall Wirecard.
- «Totales Desaster», «Schande für Deutschland»: Reaktionen auf den Luftbuchungs-Skandal.
- Codename Panther: Wirecard wollte mit der Deutschen Bank fusionieren.
Dem Wirtschaftsprüfer EY, der jahrelang die Bilanzen von Wirecard testiert hatte, drohen eine Klagewelle und Geschäftseinbussen nach dem massiven Reputationsschaden. Erste Anwaltskanzleien werben bereits für Sammelklagen. Von EY war zunächst keine Stellungnahme zu erhalten.
Die Staatsanwaltschaft München ermittelt bei Wirecard wegen des Verdachts der Bilanzfälschung und der Marktmanipulation. Auch die Insolvenz von Wirecard schaue sich die Behörde an. «Wir werden alle in Betracht kommenden Straftaten prüfen», sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Sie hat bereits den ehemaligen Konzernchef Markus Braun, der fast 20 Jahre an der Spitze von Wirecard stand, im Visier. Nach einer Nacht in Haft kam er am Dienstag gegen eine Kaution von 5 Millionen Euro auf freien Fuss. Auch Ex-Vorstand Jan Marsalek, der das Unternehmen an der Seite von Braun rund 20 Jahre lang geprägt hat und sich nun möglicherweise auf den Philippinen aufhält, steht im Fokus der Strafverfolger.
(«Reuters» — rap)
Die wichtigsten Banken von Wirecard AG stehen vor möglichen Kreditverlusten im Volumen von etwa 1,6 Milliarden Euro, nachdem sich das skandalumwitterte Fintech dazu entschlossen hat, einen Insolvenzantrag zu stellen.
Eine Gruppe von etwa 15 Banken, angeführt von ABN Amro, Commerzbank, ING und LBBW, hatte mit Wirecard über die nächsten Schritte bezüglich einer Kreditfazilität von 1,75 Milliarden Euro verhandelt, die zu etwa 90 Prozent in Anspruch genommen war, wie mit der Angelegenheit vertraute Personen Anfang dieser Woche sagten. Die Gespräche mit den Gläubigern über die nächsten Schritte seien mit dem Insolvenzantrag, der einige Banken überraschte, abrupt zum Stillstand gekommen.
Die Banken hätten die Kredite nicht gekündigt oder die Insolvenz herbeigeführt, sagten die Quellen. Die Gläubiger hatten Wirecard eine kurze Atempause verschafft. Sie beschlossen, die Gesellschaft nicht sofort zur Rückzahlung der Darlehen zu zwingen, während sie um eine Einschätzung der langfristigen Aussichten des Unternehmens bemüht waren, hatte «Bloomberg» berichtet.
Wirecard hat am Markt auch eine Anleihe von 500 Millionen Euro und eine Wandelanleihe von 900 Millionen Euro. — («Bloomberg»)