Wie stark beschäftigt die Corona-Krise die Finanzmärkte?
Die Märkte konzentrieren sich seit Wochen bereits auf das nächste Jahr und die erhoffte Erholung der Weltwirtschaft. Entsprechend ist auch das hohe Niveau der Aktienmärkte zu erklären. Trotzdem bleibt das Corona-Virus ein zentrales Thema an den Finanzmärkten.
Dank der Lockerungen zeigten sich die konjunkturellen Echtzeitdaten in den letzten Wochen zwar erfreulich und unterstützten die Zuversicht für das nächste Jahr, jedoch kam damit auch das Risiko einer sogenannten zweiten Infektionswelle. Diese könnte das optimistische Erholungsszenario in Gefahr bringen und lässt die Akteure nach Indien, Brasilien oder in die USA schielen: weltwirtschaftlich wichtige Länder, die das Virus noch nicht im erhofften Rahmen gezähmt haben.
Die anhaltende Unsicherheit widerspiegelt sich auch in den Schwankungen an den Finanzmärkten. Zwar hat sich die Volatilität in den letzten Wochen deutlich zurückgebildet, bleibt aber weiterhin erhöht. Trotz Lockerungen und noch nie gesehenen fiskalischen und monetären Massnahmen bleibt das Virus also ein ungern gesehener Gast, der die positive Stimmung immer wieder ins Wanken bringen kann.
Wie wird sich die Schweizer Börse kurzfristig entwickeln?
Die Stimmung an der Schweizer Börse schwankt nach wie vor zwischen Konjunkturhoffnungen und Corona-Sorgen. Der SMI hat seit dem Märztief rund 25 Prozent zugelegt, doch seit Mitte Juni hat die Aufwärtsdynamik an Fahrt verloren und der Leitindex hat Mühe, die 10'200-Marke nachhaltig zu durchbrechen.
Der nächste Kursimpuls dürfte also von der nun beginnenden Bilanzsaison zum abgelaufenen zweiten Quartal und den Ausblicken zur zweiten Jahreshälfte kommen. Einen ersten Eindruck haben wir bei Geberit erhalten. Die Quartalszahlen von Geberit lagen leicht über den Erwartungen und die Aktien waren überdurchschnittlich gesucht. Die Unternehmen müssen gute Zahlen präsentieren, damit ihre Aktien mit weiteren Kursavancen reagieren können.
Wo steht der SMI in zwölf Monaten?
Ich erwarte, dass sich das Tiefzinsumfeld über die nächsten zwölf Monate nahezu unverändert fortsetzt. Somit erscheinen auf der einen Seite die Risikoprämien, welche die relative Attraktivität von Aktien gegenüber Obligationen reflektieren, nach wie vor als attraktiv.
Auf der anderen Seite bewegen sich die Bewertungen anhand der Kursgewinnverhältnisse klar über dem langfristigen Durchschnitt. Unter dieser Konstellation sollte ein Anstieg von etwa fünf Prozent in Richtung 10'700 Punkte realistisch sein.
Das erste Börsenhalbjahr ist vorbei. Welche drei Schweizer Aktien haben im ersten Halbjahr überrascht – und welche drei könnten im zweiten für Überraschung sorgen?
Zur Rose – Trotz einer stattlichen Aktienbewertung, einer sehr starken Performance in den letzten Jahren und einer Blockade der deutschen Behörden betreffend Online-Bestellungen von Medikamenten, entwickelte sich der Aktienkurs rasant nach oben. In Deutschland hat sich die gesetzliche Lage in der Zwischenzeit entspannt und Zur Rose konnte weitere interessante Übernahmen tätigen.
Swissquote – Normalerweise sind schlechte Finanzmärkte keine guten Bedingungen für die Online-Bank, weil wenig gehandelt wird. Dieses Mal ist es anders verlaufen, weil bestehende Kunden und Neukunden den Börsensturz als Chance gesehen haben und erhöhte Transaktionsvolumen getätigt haben.
Leonteq – Obwohl nicht alles rund gelaufen ist, weil das Derivatportfolio einen Verlust generiert hat, konnte Leonteq mehrere Neukunden für ihre Technologie-Plattform gewinnen.
Welche drei Schweizer Aktien könnten im 2. Halbjahr für Überraschung sorgen?
LafargeHolcim – Der Zementkonzern sollte sich rasch von den Folgen der Pandemie erholen können. Dank der breiten geographischen Diversifikation blieb der Zementkonzern die ganze Zeit operativ. Bei der Strategieumsetzung ist das Unternehmen auf Kurs. Zudem sollte LafargeHolcim mittelfristig von möglichen Konjunkturpaketen mit Investitionen in die Infrastruktur profitieren können.
Zurich und Swiss Life – Beide Versicherungen konnten mit relativ wenig Einschränkungen während der Pandemie ihr Geschäft betreiben. Die direkten finanziellen Schäden sind mittlerweile bekannt. Dank der Notenbanken haben sich die Obligationenmärkte stark erholt und bescheren fast keine Verluste mehr. Die Aktienkurse befinden sich weiterhin circa 25 bis 30 Prozent unter dem Höchststand.
Der Niedergang von Wirecard hat viele Anleger auf dem falschen Fuss erwischt. Ist der Konzern ein Einzelfall – oder sehen Sie andere Konzerne, bei denen Sie zu Vorsicht raten?
Wirecard wird kein Einzelfall bleiben. In der Finanzgeschichte sind einige Fälle bekannt wie Worldcom, Enron und vor kurzem Luckin Coffee. Oftmals sind kriminelle Absichten zu beobachten. Tendenziell sind Finanzgesellschaften komplexer zu analysieren und zu überwachen als klassische Produktionsunternehmen.
Wie kann man sich also schützen? Da betrügerische Absichten meist zu spät erkennt werden können, sollten die einzelnen Aktienpositionen breit gestreut werden. Ein regelmässiges «Rebalancing» mit Gewinnmitnahmen schützt am effektivsten vor einem Totalverlust.
Chinas Börsen florieren, das Börsenbarometer CSI 300 Index ist stark gestiegen. Ist es für Schweizer Anleger ratsam, an dem Boom teilzuhaben?
Der Leitindex befindet sich aktuell auf dem höchsten Stand seit fünf Jahren. Starke Konjunkturzahlen aus China zusammen mit Reformen für den chinesischen Aktienmarkt haben diese Kursrally weiter befeuert. Gleichzeitig sind aber auch die Kredite für den Kauf von Aktien rasant gestiegen.
Die sogenannten Margenausleihungen stiegen im Zuge der Rally am vergangenen Freitag umgerechnet auf 160 Mrd. Franken und erreichten den höchsten Stand seit Ende 2015.
Beobachtern zufolge sind chinesische Kleinanleger förmlich in die Banken gerannt um sich einen Trading-Account anzulegen. In den sozialen Netzwerken sind entsprechende Suchanfragen ein Top-Thema. Meines Erachtens ist das keine nachhaltige Entwicklung, denn der Vergleich zum erwarteten Gewinnwachstum rechtfertigt diese Rally nicht.
Hinter dem Höhenflug an den US-Börsen stehen vor allem die grossen Techkonzerne. Ist diese Aufwertung von Facebook, Apple, Amazon, Microsoft und den anderen Techgiganten gerechtfertigt?
Die Techfirmen sind die grössten Gewinner der Corona-Krise. Insbesondere haben Unternehmen wie Amazon und Microsoft von Lock-Down-Massnahmen wie Social Distancing sogar profitiert.
Am schwersten kämpft Apple mit den Auswirkungen der Pandemie. Die globale Konjunkturabkühlung dürfte die Nachfrage im Smartphone-Markt abschwächen. Aber die bevorstehende Einführung der 5G-Technologie oder neue Apple-Angebote wie Apple TV+ lässt auf mehr Wachstum aus anderen Sparten hoffen.
Bei Facebook sind zwar in der Coronazeit Werbeeinnahmen zurückgegangen, aber mit neuen Dienstleistungen wie Bezahldienste per WhatsApp sorgt Facebook für weitere Kursfantasien. In der Krisensituation dürfte das Bezahlen per Smartphone statt an der Ladenkasse sogar noch schneller an Popularität gewinnen.
Hinzu kommt, dass alle vier Konzerne über einen robusten Cashflow und kerngesunde Bilanzen verfügen. Das erlaubt es ihnen, Dividendenzahlungen oder Aktienrückkäufe aufrecht zu erhalten sowie in den Ausbau ihrer Marktstellung zu investieren. Fakt ist: Wer im Technologie-Sektor investieren will, wird wohl auch im 2020 weiter auf diese Unternehmen setzen müssen, obschon schon viel Positives im Kurs antizipiert ist.
Firmenbonds sind bei vielen Anlegern beliebt. Was halten Sie derzeit von Investitionen in Unternehmensanleihen?
Die Zentralbanken haben in den vergangenen Monaten mit einer sehr expansiven Geldpolitik auf die Coronakrise reagiert und dabei den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf die Stabilität der Kreditmärkte gelegt. Auch Staaten haben die Wirtschaft mit riesigen Hilfspaketen unterstützt.
Der Markt für Firmenanleihen hat dadurch rasch den Tiefpunkt erreicht und ist sich nun graduell am Erholen. Die immer noch erhöhten Kreditrisikoprämien machen aus unserer Sicht Firmenanleihen sehr interessant. Den Fokus legen wir primär aufs Investment Grade-Segment und ergänzen selektiv mit dem Crossover-Segment.
Das Interview wurde schriftlich geführt.