Beim Berner Staatsanwalt Peter Herren stappeln sich die Dossiers. Die Zahl der Fälle von Wirtschaftskriminalität hat im Kanton Bern auch letztes Jahr zugenommen. Um rund 10%, schätzt Herren. Bern ist kein Einzelfall. Der Zürcher Staatsanwalt Christian Weber kann ebenfalls nicht über mangelnde Arbeit klagen. 129 Dossiers lagen Ende 2003 auf seinem Pult, eines mehr als im Vorjahr. In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres sind bereits weitere 118 dazugekommen. Der Kanton Tessin registrierte einen Sprung von 318 auf 343 Fälle, in Genf nahmen sie um 16% auf 1244 Delikte zu. «Darunter sind sowohl gelöste wie noch laufende Fälle», sagt Marius Gasser, Statistikexperte bei der Genfer Staatsanwaltschaft.

Geradezu explodiert sind die Verdachtsmeldungen wegen Geldwäscherei bei der nationalen Meldestelle. Sie haben 2003 um ein Drittel auf 863 zugenommen – aus dem Bankenbereich gingen bei der Meldestelle für Geldwäscherei 35% mehr Anzeigen ein, im Bereich Finanzintermediäre waren es fast doppelt so viele. Pro Monat werden derzeit 72 Fälle behandelt, das ist ein neuer Rekord und hängt mit der verschärften Meldepraxis zusammen.

Würde der Begriff Wirtschaftskriminalität schweizweit gleich definiert, die Zahlen lägen in einzelnen Kantonen noch höher. In Genf beispielsweise wird Geldwäscherei ausgesondert, und in Basel werden Veruntreuungs- und Computerdelikte nicht mitgerechnet. Den Grund für den Anstieg sieht Christian Weber, Geschäftsleiter der Zürcher Bezirksanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte, in den härteren Regulierungen. Dazu kommt, dass die Hemmschwelle in diesem Bereich weiter sinkt. Kaum Verschiebungen macht Weber bei der Art der Delikte aus, die er und sein Team untersuchen. Die meisten Fälle betreffen Veruntreuungen und ungetreue Geschäftsbesorgung, es folgen Anlagebetrug und Börsendelikte.

*Unglaublich naiv*

Im Kanton Zug registriert Untersuchungsrichter Peter Aebi vor allem eine Steigerung der Fälle auf dem Gebiet des Anlagenbetruges. Ein Phänomen, das auch in den anderen Kantonen zunehmend zu schaffen macht. Diese Zahl ist allein im Kanton Zug in den letzten fünf Jahren von 13 auf 35 Fälle angestiegen. Peter Cosandey, Leiter Forensic bei KPMG, ortet eine Zunahme bei Betrug und ungetreuer Geschäftsbesorgung. «In wirtschaftlich schlechteren Zeiten nimmt die Zahl der Engpasstäter tendenziell zu», weiss der ehemalige Geschäftsleiter der Zürcher Bezirksanwaltschaft IV.

Auch die Zahl der «Massenbetrügereien» weitet sich aus. Aebi verweist auf das Beispiel der ArtCar. Gegen einen Betrag von 1800 Fr. war ein Gratis-Smart versprochen worden. 3000 Personen bissen an. Das werbeverklebte Fahrzeug haben sie nie gesehen. «Es ist unglaublich, wie naiv die Leute sind», sagt Peter Herren. Massiv zugenommen haben auch Fälle von Urkundenfälschungen. In Basel beispielsweise ist die Zahl 2003 von 194 auf 230 gestiegen.

Der Schaden, der dabei entsteht, ist enorm. Allein die klassischen Delikte wie Betrug, Konkurs- und Betreibungsdelikte verursachen nach Angaben des Bundesamtes für Polizei in der Schweiz jährlich einen Schaden von 2 Mrd Fr.; rechnet man Schwarzarbeit (Ausfälle der Sozialabgaben) hinzu, kommt man gar auf eine Schadensumme von 3 bis 5,4 Mrd Fr., was rund 1,5% des Bruttoinlandprodukts entspricht.

*Druck auf Untersuchungsbehörden wächst*

Die Krux dabei: «Die Fälle werden immer komplizierter, der Aufwand für die Ermittlungen und die geografische Reichweite nehmen zu», erklärt Christian Weber. Wirtschaftskriminalität werde, wie die Wirtschaft selber, in einem zunehmend rascheren Ausmass globalisiert, stellt Aebi fest. Wenn auf irgend einer der Antilleninseln in der Karibik ermittelt werden muss, steigt der Aufwand für Untersuchungsrichter und Staatsanwälte überproportional an. Gleichzeitig wächst auch der Druck, endlich Wirtschaftskriminelle zur Strecke zu bringen. Dabei sind die Untersuchungsbehörden zeitlich längst überfordert.

Weber und sein 14-köpfiges Team bewältigen zurzeit gleich mehrere Fälle, die hunderte von Ordnern füllen. Dazu gehören etwa die Dossiers Erb, Bank Vontobel, Swissair und Rentenanstalt. Jeder der 14 Bezirksanwälte hat im Schnitt mit acht Fällen zu tun und ist zeitlich am Anschlag. «Um Fälle wie Erb aufzurollen, bräuchte man 20 bis 40 Spezialisten», weiss der Forensic-Spezialist Cosandey. In Zürich beschäftigen sich drei Bezirksanwälte damit – teilzeit. Es erstaunt nicht, dass heute in sämtlichen Kantonen vor allem die arbeitsintensiven Verfahren anstehen.

Der St. Galler Wirtschaftskriminalist und Rechtsanwalt Christof Müller äussert denn auch Zweifel, ob das gegenwärtige Abwehrdispositiv gegen die Geldwäscherei und Wirtschaftskriminalität wirksam sei. «Mit der Schaffung von neuen Bundeskompetenzen im Bereich der Geldwäscherei und organisierter Kriminalität wurden grosse Investitionen auf Stufe Bund getätigt. Die Wirksamkeit und Tauglichkeit wurde aber immer noch nicht unter Beweis gestellt», sagt er. Andererseits haben einzelne Kantone ihre bestehenden Ressourcen in diesen Bereichen zurückgefahren, da sie eine Entlastung durch den Bund erwarten durften. Bern und Freiburg beispielsweise haben Geldwäscherei- oder Wirtschaftsrechts-Spezialisten an die neuen Bundesbehörden verloren, obwohl sie selber für die Ermittlung in Wirtschaftsstrafsachen zuständig bleiben.

*Dem Bund fehlt es an Know-how*

«Es besteht heute die Gefahr, dass einzelne Fälle weder vom Bund noch von den Kantonen zeitgerecht abgeschlossen werden können», sagt Müller. Fachleute wie Peter Popp (Uni Bern) befürchten zudem, dass bei der aufgestockten Bundesanwaltschaft das Know-how fehle, das in den Kantonen vorhanden gewesen sei.

Während aber die Meldungen stetig zunehmen, bleibt die Zahl der Verurteilten weiter klein. Wegen Geldwäschereivergehens kam es 2003 trotz steigender Meldungen noch zu 98 Verurteilungen. 2002 waren es 121. Wegen mangelnder Sorgfalt bei Finanzgeschäften wurden neun Personen verurteilt. In Zürich, der Schweizer Wirtschaftsmetropole, kam es 2003 neunmal zur Anklageerhebung, 62 Fälle wurden eingestellt und viermal stellte der untersuchende Berzirksrichter einen Strafbefehl aus. Die niedrige Quote habe aber nichts mit mangelnder Arbeit zu tun, wehrt sich Weber. «Unser Erfolg misst sich daran, einen Fall zu durchleuchten und festzustellen, ob strafrechtliches Verhalten vorliegt oder nicht.» Dass auch die Strafbehörden in Zürich mehr Personal benötigten, um Betrüger härter verfolgen zu können, bestreitet Weber nicht. Bloss liegt das nicht in seiner Kompetenz.

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