Nicht Freude, sondern Krise herrscht im Lande Helvetien. Ein Blick auf die Frontseiten der Zeitungen genügt, um zu wissen: Die Schweiz steckt tief im Dreck. Von «Job-Angst» («Cash»), «Lohndumping» («SonntagsZeitung») oder drohender «Verarmung» («NZZ am Sonntag») ist zu lesen, und auch die Boulevardpresse fragt: «Wo bleibt denn hier der Aufschwung?» («Blick»).
Das Sorgenbarometer, das die Befindlichkeit der Schweizerinnen und Schweizer periodisch misst, zeigt denn auch: Es herrscht tiefes Unbehagen in diesem Land.
Kein Wunder: Die Schweiz steckt ja auch in der Rezession, die Löhne gehen zurück, die Arbeitslosigkeit steigt konstant. Global ist ohnehin der Wurm drin, stottert die Weltwirtschaft doch mühsam vor sich hin.
Würde man meinen. Nur: Das stimmt nicht. Die globale Wirtschaft hat 2004 den stärksten Zuwachs seit 30 Jahren zu verzeichnen und wird auch dieses Jahr auf hoher Drehzahl bleiben. Die Schweizer Wirtschaft ist auch nicht in einer Rezession, sondern verzeichnet positive Wachstumsraten – für 2006 sehen die Prognostiker der Konjunkturforschungsstelle KOF gar einen Zuwachs von 2,1 Prozent voraus. Sogar die Reallöhne sind 2004 gewachsen, wenn auch mit 0,1 Prozent nur geringfügig. Dafür steigen die Löhne schon im vierten Jahr in Folge und legten seit 2001 um vier Prozent zu. Die Arbeitslosigkeit ist zudem jüngst leicht zurückgegangen und liegt Ende April mit 3,8 Prozent wieder unter der Schallgrenze von vier Prozent. Dass diese Zahl weiterhin klar unter den Werten für die USA (5,2 Prozent) oder den Euroraum (8,9 Prozent) liegt, sei nur nebenbei erwähnt.
Die Schweiz befindet sich konjunkturell keineswegs in der Krise – nur wollen das viele nicht wahrhaben.
Offenbar ist der Eindruck einer Krise nicht von der Realität der Kennzahlen abhängig. «Die harten Indikatoren wie Konjunkturverlauf oder Reallohnentwicklung sind für das Krisenempfinden der Leute nicht entscheidend», sagt Hansjörg Siegenthaler, emeritierter Professor für Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. Dies zeige auch die Erfahrung aus der Geschichte. Ausschlaggebend seien vielmehr «die Erwartungen über das, was die nächsten Jahre bringen werden».
Angst statt Zuversicht prägt einen grossen Teil der Schweizer Bevölkerung. Seit nunmehr beinahe 15 Jahren, seit der Konjunkturdelle der frühen neunziger Jahre, herrscht das Gefühl einer permanenten Krise. Vom Auf und Ab des Bruttosozialprodukts hat sich dieses Gefühl längst abgekoppelt. Mit der ökonomischen Definition einer Krise hat dies alles wenig zu tun.
Erst recht nichts gemein hat dieses Unbehagen mit dem, was in der Vergangenheit als Krise angeschaut wurde – Existenznot für breite Bevölkerungskreise nämlich. In der Krise der frühen zwanziger Jahre beispielsweise verdoppelte sich die Anzahl der Arbeitslosen in der Schweiz innert nur sechs Monaten von 64 000 auf 136 000, was bei der damaligen Bevölkerungszahl einer Quote von über fünf Prozent entsprach. In den dreissiger Jahren, im Sog der Weltwirtschaftskrise, geriet die Schweiz gar an den Rand des Abgrunds. Die Produktion fand keine Abnehmer, die Preise zerfielen und lösten eine Deflation aus, reihum gab es Konkurse, grosse Banken wie die Schweizer Volksbank implodierten. Der Staat musste in der Finanz- und Steuerpolitik zum Notrecht übergehen und führte unter anderem eine Reichtumssteuer ein. Um die Exportwirtschaft zu schützen, wurde der Schweizer Franken 1936 auf einen Schlag um 30 Prozent abgewertet. Viele Leute hungerten und stellten sich in langen Schlangen vor den Suppenküchen an.
Was eine veritable Krise ist, musste die Schweiz das letzte Mal Mitte der siebziger Jahre nach dem Ölpreisschock erfahren. 1975 verminderte sich das Bruttosozialprodukt um 7,7 (!) Prozent. Die Krise, verbunden mit einer ausländerfeindlichen Haltung, trieb mehr als 100 000 Fremdarbeiter in kürzester Zeit zurück in ihre Heimatländer. Dadurch konnte zwar die Arbeitslosigkeit quasi ins Ausland exportiert werden, auf Grund der Wegzüge brach allerdings der Konsum ein, und der Wohnungsmarkt stürzte angesichts rekordhoher Leerstände ab.
Auch damals zeigte das Schweizer Volk ein Krisenempfinden – nur lieferten die ökonomischen Zahlen dazu auch allen Grund. Rezessionen gab es seither in der Schweiz zwar weitere, nur eben nicht mit Rückgängen von mehreren Prozenten wie 1975. Vier Abschwünge zählt man in den vergangenen 15 Jahren: 1991 ging das Bruttoinlandprodukt (BIP) um 0,8 Prozent zurück, 1992 um 0,1 Prozent, 1993 um 0,5 Prozent und 2003 um 0,4 Prozent – das ist schon eher Stagnation als Rezession.
Interessant ist, dass parallel zu dieser Glättung auch die Ausschläge nach oben abgenommen haben. Noch in den vierziger Jahren wurden zweistellige Wachstumsraten erreicht, etwa 1946 mit einem Zuwachs von 13,9 Prozent – eine Zahl, die heute höchstens noch ein Schwellenland wie China erreicht. Das höchste Wachstum in der Schweiz in den vergangenen zehn Jahren verzeichnete das Boomjahr 2000 mit einem Plus von 3,6 Prozent.
Wer die Grafik der Veränderung des Bruttosozialprodukts seit 1900 betrachtet, dem fällt die Glättung deutlich auf – die Rekordausschläge nach oben und unten gibt es nicht mehr. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Wirtschaft nachhaltig stabiler geworden ist.
Diese Entwicklung lässt sich auch für die Weltwirtschaft als Ganzes beobachten. Zu Beginn der achtziger Jahre fand weltweit eine Art Paradigmenwechsel statt. Die Ökonomen Bill Martin und Robert Rowthorn sprechen in einer im Januar veröffentlichten Studie von einem «outbreak of stability» (Ausbruch von Stabilität). Sie untermauern diese Aussage mit einer ganzen Reihe von Zahlen, die zeigen: Die Volatilität des Wirtschaftswachstums sowie die Wahrscheinlichkeit und Tiefe von Rezessionen haben stark abgenommen.
Wie ein modernes Auto heute mit Airbag, Seitenaufprallschutz und Bremsverzögerung im Vergleich zu einem Oldtimer sicherer geworden ist, so ist die moderne Wirtschaft heute besser gepuffert als zur Zeit unserer Eltern und Grosseltern. Und nicht nur das: Martin und Rowthorn zeigen weiter auf, dass diese Stabilität auch in Zukunft anhält. Erfreuliche Nachrichten also und ein Grund mehr, die Krisenängste zu relativieren.
Dass die Wirtschaft nicht mehr so leicht in eine wirklich grosse Krise kommen wird, liegt an mehreren Faktoren. Von grosser Bedeutung ist die heute deutlich verbesserte Geldpolitik, mit der die Nationalbanken weltweit feinsteuern. So werden etwa bei einer Börsenkrise die Geldschleusen geöffnet und der Markt mit Liquidität versorgt. Auf diesen zwar simplen, allerdings äusserst erfolgreichen Mechanismus kam man durch die Analyse der Fehler der grossen wirtschaftlichen Depression der dreissiger Jahre. Verfeinert wurde dieses Instrument nach den Jahren der Hyperinflation der sechziger und siebziger Jahre, als man zusätzlich einsah, dass die geldpolitischen Instrumente vorsichtig einzusetzen sind, will man mit der Geldschwemme nicht einfach die Teuerung anheizen. Heute stehen den Geldpolitikern durch wissenschaftliche Analysen und praktische Erfahrungen gehärtete Einsatzmodelle zur Verfügung, die bemerkenswert gut greifen.
Doch auch in der Realwirtschaft gibt es Gründe für erhöhte Stabilität. Da ist zunächst die veränderte Branchenstruktur der reifen Volkswirtschaften. In der Schweiz arbeiten mittlerweile 72 Prozent der Beschäftigten im tertiären Sektor, dem Dienstleistungsbereich. Je bedeutender dieser Bereich ist, desto weniger zyklisch ist die Wirtschaft. Die anderen beiden Sektoren, der Agrarbereich und der industrielle Sektor, sind traditionell viel stärker dem Auf und Ab der Märkte ausgeliefert als die Dienstleistungen.
Dazu kommt, dass selbst diese Sektoren ihre Zyklizität im Rahmen der steten Modernisierungen vermindert haben, die Industrie beispielsweise durch die vermehrte Produktion auf Bestellung, die so genannte «just-in-time production». Früher sass man bei Konjunkturabschwächungen noch viele Jahre auf schwer abbaubaren Lagern.
Zudem ist die Branchenstruktur heute generell viel ausgeglichener. Noch bis in die sechziger Jahre war die Maschinenindustrie in der Eidgenossenschaft derart vorherrschend, dass eine Krise dieses Bereichs meist die ganze Wirtschaft in den Abgrund riss. Doch auf diesen Sektor stützen heute immer weniger Menschen ihre Existenz. In den vergangenen 14 Jahren sind mehr als 220 000 Industriejobs verschwunden, der Maschinenbau ist zu einer Art Nischenbranche mutiert. Heute ist die Bedeutung der Branchen in der Schweiz gleichmässiger verteilt. Ein Klumpenrisiko bildet höchstens noch der Bankensektor, der für rund 14 Prozent der Wertschöpfung der hiesigen Wirtschaft sorgt.
Glättung bietet aber nicht nur die veränderte Struktur der Wirtschaft. Was enorm zur Stabilität beigetragen hat, sind der Ausbau der Sozialwerke AHV und IV nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die 1976 beschlossene obligatorische Arbeitslosenversicherung (ALV). Seither bedeutet der Verlust des Jobs oder eine Krankheit nicht mehr direkt eine existenzielle Bedrohung. Und nicht nur das – auch makroökonomisch ergeben sich gewichtige Vorteile. Denn AHV, IV und ALV sorgen für einen besser abgestützten Konsum. Man bedenke, dass die Rentner heute ungefähr einen Sechstel der Bevölkerung stellen und mit ihren garantierten monatlichen Zuweisungen vom Auf und Ab der Konjunktur nicht betroffen sind. Für Serge Gaillard, den Chefökonomen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, bilden die Sozialwerke damit eine Art «automatischen Stabilisator».
Wichtig für das Mass der wirtschaftlichen Gefährdung ist aber auch das Wohlstandsniveau eines Landes. In der Schweiz ist dieses sehr hoch. Nicht nur, dass die Schweiz mit einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 39 000 Franken nach Luxemburg auf Platz zwei in Europa liegt, sondern auch die über Jahrzehnte des Wohlstands angesammelten Vermögenswerte erreichen weltweit Spitzenwerte. Vermögen von mehreren tausend Milliarden Franken sind in der Schweiz kumuliert. Nun ist dieses Vermögen natürlich nicht gleichmässig verteilt, und es gibt auch arme Bevölkerungsteile, die kein oder nur wenig Vermögen haben. Doch übers Ganze gesehen erlaubt es dieser Vermögenssockel weiten Teilen der Bevölkerung, in schlechteren Zeiten einfach etwas die Sparquote herunterzusetzen und das so frei gewordene Geld für den Kauf von Konsummitteln zu verwenden.
Besonders viel Geld ist bei der älteren Bevölkerung vorhanden. Das Durchschnittsvermögen eines Schweizer Rentners beträgt 270 000 Franken, im Kanton Zürich sind es sogar 660 000 Franken. Geld, das in der Not an die nächste Generation weitergegeben werden könnte. Erbgelder in Höhe von 900 Milliarden Franken harren der Weitergabe, wie die «Weltwoche» ausgerechnet hat. Die Wohlstandsdecke in der Schweiz ist so dick, dass sie nach Meinung der Experten für lange Zeit ein hohes Konsumniveau garantieren kann: «Man wird noch jahrzehntelang spüren, dass wir viel Kapital haben», so Ulrich Kohli, Chefökonom der Nationalbank.
Das Risiko, dass wir diese Wohlstandspolster überhaupt anbrechen müssen, ist allerdings gering. Dass es in der Schweiz jemals wieder existenzbedrohende Krisen mit hungernden Massen wie in den dreissiger Jahren geben könnte, sei zwar nicht völlig auszuschliessen, doch halte er so etwas für «in höchstem Masse unwahrscheinlich», so der Berner Wirtschaftsprofessor Ernst Baltensperger.
Daten stützen diese Zuversicht. Die reale Krisenanfälligkeit der Wirtschaft ist derzeit so tief wie nie zuvor. Die Ökonomen Martin und Rowthorn haben die Volatilität der Weltwirtschaft, also deren Anfälligkeit für abrupte Veränderungen, über die letzten 150 Jahre untersucht. Nach einer Periode mittlerer Volatilität zu Zeiten des Goldstandards von 1871 bis 1912 und einer Periode hoher Volatilität in den Kriegs- und Depressionszeiten zwischen 1913 und 1952 ist die Wirtschaft seit 1952 bemerkenswert stabil. Je näher wir der Gegenwart kommen, desto stabiler präsentiert sich das Bild, was für Optimismus sorgt. So ist sowohl die Volatilität der Konjunktur als auch die Wahrscheinlichkeit von Rezessionen seit zehn Jahren weiter gesunken. In den angelsächsischen Ländern spricht man von den letzten zehn Jahren denn auch als «nice decade», («non-inflationary consistent expansion»).
In ihrer Prognose für die Zukunft sehen die Experten ein Fortschreiten der weltweiten Wirtschaft auf dem Pfad von Berechenbarkeit, Stabilität und reduzierter Krisenanfälligkeit. Die Zeit bis zum Jahr 2013 werde vielleicht nicht nochmals «nice», aber sicherlich «not bad», versprechen Martin und Rowthorn in ihrer Studie.
Besonders erfreulich, dass diese Einschätzung auch dann noch stimmt, wenn unvorhergesehene Schocks auf die Wirtschaft einprasseln sollten. Derzeit machen ja vor allem der fallende Dollar und die dadurch ausgelösten weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte Sorge (BILANZ 1/2005, «Zeitbombe Dollar»). Doch einberechnet in das Modell wurden all jene Dinge, die wir gemeinhin als Schocks empfinden, nicht nur Währungskrisen, sondern auch politische Schocks wie beispielsweise Terroranschläge. Die moderne «Airbag»-Ökonomie hat ja bereits in den vergangenen zwanzig Jahren Zerreissproben verdaut, wie zum Beispiel die Börsencrashes in den Jahren 1987 und 2001, die Krise der europäischen Leitwährungen der frühen neunziger Jahre, die Einführung der Einheitswährung Euro im Jahr 1999, wiederholte massive Preisverschiebungen bei den Grundstoffen sowie ein ganze Reihe von politischen Umwälzungen, vom Fall der Berliner Mauer im November 1989 bis zu den Terrorwellen und den damit verbundenen Kriegen der neueren Zeit. Die Pufferökonomie der Moderne kann offenbar einiges ertragen.
Anlass zu grosser Besorgtheit bezüglich der wirtschaftlichen Zukunft bieten die konjunkturellen Aussichten also nicht. Dass sich die Schweiz dennoch in einer konstanten Alarmstimmung befindet, hat nach Ansicht mancher Beobachter ganz einfach mit der Rolle der Medien zu tun, die solche Ängste schüren. «In den Schlagzeilen und in der aufgeregten Diskussion in der Öffentlichkeit spiegelt sich das Gefühl, das Leben sei noch nie so schwierig wie heute gewesen», so der Berner Volkswirtschaftler Baltensperger. «Dabei leben wir in einer Welt, von der viele nur träumen könnten.» Einzelne Medien geben denn auch bereits etwas Gegensteuer, wie etwa der Zürcher «Tages-Anzeiger» jüngst in einem bemerkenswerten Kommentar zum 1. Mai: «Es steht eben doch nicht so schlimm um dieses Land. Vor dem existenziellen Abgrund steht kaum jemand, die meisten Schweizer und Schweizerinnen leiden auf hohem Niveau.»
Die Schuld an der Krisenstimmung einfach den Medien anzulasten, greift denn auch zu kurz. Wer genauer analysiert, was denn die Schweizer in Krisenstimmung versetzt, stösst vor allem auf zwei Punkte: erstens die Angst vor den drohenden Lasten einer überalterten Bevölkerung, einer Zeit mit immer weniger arbeitenden Menschen und mit weiter steigenden Beiträgen für Pensions- und Krankenkassen; und zweitens das Gefühl, im Vergleich zum Ausland zurückgefallen zu sein.
Zuerst zum zweiten Punkt. Es stimmt, dass die Schweiz im Vergleich zu Ländern wie Grossbritannien, Spanien oder Österreich in den letzten zehn Jahren an Terrain eingebüsst hat. Dies liegt am vergleichsweise geringen Wirtschaftswachstum der Schweiz. Vor allem die sechsjährige Stagnation in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, als drei Jahre lang das Bruttoinlandprodukt leicht zurückging und weitere drei Jahre lediglich minimal wuchs, liess unser Land zurückfallen. Die damalige Delle ist vor allem wegen einer übertrieben restriktiven Geldpolitik entstanden. Laut Gewerkschafter Serge Gaillard hat die Schweiz in jenen Jahren zusammengezählt rund zehn Prozent Wachstum eingebüsst – unnötigerweise. Erst nach 1996, als der umstrittene Nationalbankpräsident Markus Lusser das Feld räumte, verbesserte sich die Situation. «Die Nationalbank manövrierte die Schweiz damals an den Rand einer Deflation», sagt Serge Gaillard.
So ärgerlich diese Delle und die seither nicht aufgeholten Einbussen sein mögen: Dass es den anderen Ländern inzwischen besser geht, bedeutet nicht, dass es uns schlechter geht. Carl Christian von Weizsäcker, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre, warnte in der «Weltwoche» jüngst vor einem «Immer-mehr-Paradox», das aus dem Vergleich mit anderen entstehe: «Wohlstand wird in dieser Philosophie definiert aus dem Vergleich mit den Mitbürgern, nicht aus dem Vergleich mit der Vergangenheit», so von Weizsäcker. Vereinfacht gesagt: Dass es Österreich besser geht als früher, sollte eigentlich kein Grund dafür sein, dass wir uns schlecht fühlen.
Vereinzelte Stimmen zweifeln die Vergleichszahlen zwischen den Ländern ohnehin an. Dass selbst Irland die Schweiz wohlstandsmässig überholt haben soll, ist für den Chefökonomen der Nationalbank, Ulrich Kohli, schwer zu glauben (siehe Nebenartikel «Ulrich Kohli, Chefökonom der Schweizerischen Nationalbank: So schlecht ist die Lage nicht»). Er weist darauf hin, dass das Buttoinlandprodukt (BIP) als Vergleichsmassstab nicht geeignet ist und man eher das Bruttosozialprodukt (BSP) herbeiziehen solle. In dieses fliessen statistisch auch die Nettoeinkommen aus dem Ausland ein, und gerade die sind in der Schweiz überdurchschnittlich wichtig, weil wir international ein Nettogläubiger sind. Die Zahlen für das Bruttosozialprodukt zeigen zwar noch immer eine relative Wachstumsschwäche, allerdings mit weit weniger dramatischen Einbussen.
Auch um die erste der beiden Hauptsorgen, jene um die Zukunft der Sozialwerke, tobt derzeit ein Expertenstreit.
Sehen die linken politischen Kreise die Zukunft weniger gefährdet, weil ein mit Staatsausgaben angekurbeltes Wirtschaftswachstum und die Erhöhung der Mehrwertsteuer die Probleme schon lösen werden, so weisen die Rechten auf die zunehmende Unbezahlbarkeit hin. Alle – die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer und der Staat – pumpen derzeit Milliarden in das System. Gut investiert ist das Geld alleweil, denn die durch die Sozialwerke ausbezahlten Gelder bewirken einen Nachfrageimpuls und setzen damit eine stabilisierende Eigendynamik in Gang. Weil so die Konjunktur gestärkt wird, werden indirekt auch höhere Arbeitslosen- oder IV-Zahlen verhindert.
Eine fundierte Sanierung der Sozialwerke würde ein hohes Wachstum erfordern. Wie schnell Wachstum die Zahlen verbessern kann, zeigt das Boomjahr 2000: Die Arbeitslosenzahlen sanken damals in Rekordzeit auf 1,8 Prozent.
Nur sind solche Boomjahre nicht weit gestreut. Der Nachteil der geglätteten und stabileren Ökonomie: Hohe Wachstumszahlen sind genauso wenig zu erwarten wie tiefe Krisen. Aufs Wirtschaftswachstum allein darf man daher nicht setzen, will man die Sozialwerke auch in Zukunft garantieren. Bereits zeichnet sich ab, dass wir länger arbeiten müssen, um die heutigen Leistungen weiter zu garantieren. Weitere Veränderungen wie Leistungsreduktionen sind zu erwarten. Bei den Renten muss mit Kürzungen, bei den Pensionskassen mit einer Verschlechterung des Umwandlungssatzes gerechnet werden.
Wohin genau dieser Prozess steuern wird, weiss niemand. Doch die Geschichte zeigt, dass die Schweiz bisher immer Lösungen für ihre Wirtschaftsprobleme gefunden hat. Zum Teil erst nach langen politischen Diskussionen und im Zwist, aber zuletzt doch erfolgreich. So konnte Ende der dreissiger Jahre mit wichtigen Schritten wie dem Friedensabkommen von 1937 zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Grundlage für eine neue, zukunftsträchtige Ordnung gebildet werden. In jenem Jahr fand eine eigentliche «Verständigungskonferenz» statt, die hochrangigen Vertretern aller relevanten Interessenlager Gelegenheit gab, sich auf die Grundzüge einer langfristig konzipierten Wirtschaftspolitik festzulegen. Laut Historiker Siegenthaler zeigt die Wirtschaftsgeschichte, dass diese Prozesse der Neuausrichtung bisher noch stets gegriffen haben.
Aber der Mensch tendiere eben generell dazu, in unsicheren Phasen Krisensignale überzubewerten. Die Furcht, das Ende der Modernisierung sei erreicht und schwere Zeiten stünden an, macht sich regelmässig breit. Der Ökonom Alfred Furrer schrieb 1889 im von ihm herausgegebenen volkswirtschaftlichen Lexikon der Schweiz, es stehe zu befürchten, dass «die schweizerische Industrie ihren Höhepunkt bereits hinter sich habe». Mehr sei für das Land nicht drin, und er riet, man solle die Leute in Zukunft, um sie wenigstens etwas zu beschäftigen, Teppiche knüpfen oder Körbe flechten lassen.
Das Ende der Prosperität bildete das Jahr 1889 bei weitem nicht, eher den Anfang eines industriellen Quantensprungs. Denn noch in den Jahren der Krisenstimmung setzte die Wirtschaft, zunächst unbemerkt und getrieben von der damals noch nicht absehbaren Innovation in der Elektroindustrie und der Chemie, zu einer ihrer längsten und erfolgreichsten Wachstumsphasen an.
Der russische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew hat bereits 1926 aufgezeigt, dass die Wirtschaft in langen Wellen von rund vierzig bis sechzig Jahren stets höhere Sphären erreicht, getrieben von einem Schub von Basisinnovationen. Derzeit sind wir in der der fünften langen Welle, der 1980 gestarteten «Informations- und Kommunikations-Welle». Doch schon beschäftigen sich die Ökonomen mit dem Herannahen eines möglichen sechsten Zyklus, einer langen Welle, geprägt durch Biotechnologie und medizinische Hightech-Innovationen. Sollten diese Bereiche wirklich die Träger der nächsten grossen Aufschwungwelle sein, ist die Schweiz mit ihrer starken Pharmaindustrie und ihrem hohen technischen Bildungsniveau jedenfalls aussichtsreich positioniert.
Grund für Krisen- oder Zukunftsängste gibt es also auch von diesem Gesichtspunkt her wenig.