Die Schweiz hat keine Rohstoffe, aber kluge Leute, lernte früher jedes Schulkind. Dann kam die Pisa-Rangliste der OECD, und seither wissen die 15-Jährigen, dass jeder fünfte von ihnen nicht richtig lesen lernt. In den Fächern Lesen und Naturwissenschaften belegt die Schweiz unter 31 Ländern die Ränge 17 und 18. In einer andern OECD-Rangliste steht das Schweizer Schulwesen hingegen weiterhin vorn: bei den Löhnen. Hiesige Lehrerinnen und Lehrer erhalten mit Abstand die höchsten Löhne der Welt, von den Primarschulen über die Sekundarschulen bis zu den Gymnasien.

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Ohne eine gute Grundausbildung wäre die Schweiz nie dorthin gelangt, wo sie gestern war: an der Weltspitze in technologischer und ökonomischer Hinsicht. Das wiederum erlaubt uns – vorderhand – die höchsten Löhne der Welt, nicht nur in der Exportindustrie, sondern auch in Binnensektoren wie der Schule. Doch wenn die Schweizer Lehrerlöhne auch in Zukunft die höchsten der Welt sein sollen, muss die Schweizer Volksschule wieder werden, was sie in der Vorstellung unserer Grossväter einmal war: die beste Schule der Welt.

Darauf deutet nichts hin. Die Politiker haben auf den Pisa-Schock vor drei Jahren reagiert, wie Politiker auf Krisen immer reagieren. Kommissionen einsetzen, Berichte verfassen, Pakete von Massnahmen vorschlagen, von denen bis heute keine einzige umgesetzt ist. Dabei gäbe es drei klare und dringende Ansätze zur Reform:

  • Erstens werden Schweizer Kinder so spät eingeschult wie nirgends.
  • Zweitens gibt es zu wenig ausserschulische Betreuung, etwa in Form von Mittagstischen.
  • Drittens kommt es schon früh zur ersten Selektion.

All diese drei Effekte bewirken dasselbe: Die Kinder aus den unteren sozialen Schichten, ob Schweizer oder Ausländer, haben nicht genügend Zeit, um den Rückstand auf die besser behüteten und vor allem besser geförderten Kinder aus den «besseren» Elternhäusern aufzuholen. In der Folge darf sich niemand wundern, dass sich die sozialen Klassen via Schweizer Schulsystem reproduzieren: «Mehr als 60 Prozent der Studierenden kommen aus Familien, in denen der Vater mindestens die Matur hat», legt der Berner Politikwissenschaftler Klaus Armingeon dar. Er spricht von «Selbstrekrutierung», insbesondere bei Medizinern und Naturwissenschaftlern. Dass die soziale und kulturelle Herkunft in der Schweiz einen schon fast unheimlichen Einfluss auf den Schulerfolg hat, bestätigte die Pisa-Untersuchung ausdrücklich.

«Potenzial Volksschule» hiess der erste Bericht des damals neuen Schweizer Think-Tanks Avenir Suisse. Dieses Potenzial bleibt bis jetzt ungenutzt. «Wenn am Ende der Volksschule jeder Fünfte nicht lesen kann, erfüllt die Schule ihren Leistungsauftrag nicht mehr», bilanziert Urs Moser vom Kompetenzzentrum für Bildungsevaluation an der Uni Zürich.

Die Schweiz kann keine andere Jugend ausbilden als jene, die hier aufwächst. Eines von drei Kindern im Alter von 7 bis 15 Jahren hat einen ausländischen Pass. Unter den Schweizern kümmern sich die «besseren» Schichten lieber um ihre Karriere als um Kinder: Von den über 45-jährigen Frauen mit Maturabschluss bleibt inzwischen jede dritte kinderlos. Die zehn Prozent der reichsten Haushalte haben im Schnitt noch 0,4 Kinder, während die zehn Prozent der ärmsten Haushalte weiterhin 1,6 Kinder aufziehen, wie eine Ecoplan-Studie aus dem Jahr 2002 zeigt.

«Chancengleichheit», ein Kampfwort der 68er, ist ein unerreichbares Ziel. Aber wenn die Schweiz eine Zukunft haben will, muss sie aus ihrer Jugend mehr herausholen. Wie das geht, demonstrieren ausländische Vorbilder. In Frankreich gehen Dreijährige in eine Ecole maternelle. In Finnland kommt es erst am Ende der Volksschule, im Alter von 15, zur ersten Selektion. Die Ganztagesschule hat nicht nur in Skandinavien, sondern auch im südlichen Italien eine lange Tradition. Blockzeit von 8 bis 15 Uhr, Mittagstisch obligatorisch, verbunden mit freiwilligen Angeboten wie Aufgabenhilfe, Bibliotheken, Sport und Musik – das alles muss keine Utopie sein. Der Stützunterricht bliebe in der Schweiz angesichts des hohen Ausländeranteils wohl nötig, könnte aber in den Klassenunterricht integriert werden, sofern die Klassenlehrerin ein Co-Teaching in Form einer 50-Prozent-Stelle erhielte, was das Lernen in wechselnden Gruppen ermöglichen würde.

Zurück zum Status quo: Die Selektion erfolgt nicht nur sehr früh, sondern auch eher zufällig. Oder sind Thurgauer etwa dreimal dümmer als Genfer? In Genf jedenfalls schaffen 33,4 Prozent der 19-Jährigen die Matur, im Thurgau nur 11,5 Prozent. Generell zieht sich durch die Schweiz ein tiefer West-Ost-Graben: Die sechs welschen Kantone plus das Tessin und Basel-Stadt bilden die Gruppe der acht Kantone mit der höchsten Maturitätsquote; am anderen Ende der Tabelle stehen die Kantone der Ost- und der Zentralschweiz.

Solche Differenzen sind kein Ausfluss unterschiedlicher Intelligenz, sie sind politisch gesteuert. «Die Zahl der Schulzimmer definiert die Mittelschulquote», sagt Christian Aeberli, Bildungsexperte bei Avenir Suisse, und verweist auf den Kanton Zürich: «Hier ist seit etwa zwanzig Jahren kein neues Gymnasium mehr gebaut worden.» Resultat: Seit 1985 blieb die Zahl der Maturanden konstant, Jahr für Jahr schaffen exakt so viele Schüler die Matur, wie in den Zürcher Gymnasien eben Platz finden: rund 2000. «Genf hat da eine andere Schulhausbaupolitik verfolgt», meint Aeberli.

Experten der OECD, des IMD und WEF fordern seit langem: Die Schweiz, ein Land ohne Rohstoffe, solle mit Blick auf das gemächliche Wirtschaftswachstum eine Maturitätsquote von 25 Prozent anstreben, den Durchschnitt der OECD. In Genf, im Tessin und in Neuenburg liegt die Maturitätsquote aber höher, in der Deutschschweiz tiefer, viel tiefer sogar, in Zürich bei 18 Prozent, in St. Gallen bei 14 Prozent, in Luzern oder Bern bei 13 Prozent.

«Die Strukturen und Lehrer sind heute darauf ausgerichtet, ja nicht zu viele Junge in die Wissensgesellschaft hochkommen zu lassen», schreibt Publizist Beat Kappeler in der «NZZ am Sonntag». Es sei «absolut empörend», dass im Kanton Bern weniger als 50 Prozent eines Jahrgangs der Sekundarschule zugewiesen würden und nur 13 Prozent dem Gymnasium. «Und alle wundern sich, warum der Espace Mittelland so arm ist.»

Hier zeigt sich die grösste Unterlassungssünde der Schweizer Politiker: Sie setzen falsche Prioritäten. «Für einen Primarschüler wird pro Jahr rund 12 000 Franken ausgegeben, für eine Milchkuh 4000 Franken», rechnet der Basler Ökonomieprofessor Silvio Borner vor und bezeichnet die Gleichung «3 Kühe = 1 Kind» als «grotesk».

Die Folgen schlagen sich bis auf den Lehrstellenmarkt nieder: «Bei uns bewerben sich Hunderte von Jugendlichen, die keinen Satz schreiben und keinen Dreisatz lösen können», lassen sich die Lehrlingsverantwortlichen der Grosskonzerne in den Medien zitieren. «Das Niveau sinkt Jahr für Jahr», jammert etwa Lehrlingschef Benno Ringer von der Garagengruppe Amag.

Noch hat die klassische Schweizer Berufslehre weltweit einen guten Ruf. Rein quantitativ ist der Markt schön im Gleichgewicht: Etwa 5000 Jugendliche suchen eine Lehrstelle, etwa 5000 Lehrstellen sind offen. Genau das gefällt Volkswirtschaftsminister Joseph Deiss gar nicht: Die Nachfrage decke sich je länger je weniger mit dem Angebot, und das weder qualitativ noch geografisch. Einerseits gelten die offenen Lehrstellen bezüglich Arbeitsbedingungen, Sozialprestige und Salär als unattraktiv, vor allem im handwerklichen und gewerblichen Bereich. Andererseits finden viele Firmen just in den technisch anspruchsvollen Branchen zu wenige ausreichend Qualifizierte.

Banklehrlinge sind laut dem Kaufmännischen Verband Zürich «vom Aussterben bedroht»: Bei Rindern liege der kritische Wert, ab dem einer Rasse der Untergang drohe, bei 7500 Zuchttieren – so viele Banklehrlinge seien in der Schweiz nicht mehr zu finden. Die NZZ fragte nach und fand heraus: «Es wird für die Banken immer schwieriger, Schulabgänger mit genügend Potenzial zu rekrutieren. Selbst wenn sie – wie etwa die ZKB – mehr Lernende einstellen wollen, ist dies nicht einfach zu bewerkstelligen.» In der Folge nehmen die Abbrüche in den ersten Lehrjahren stark zu.

Die Schweizer Volksschule muss besser werden: So viel ist hoffentlich klar. Und hier handelt es ganz klar um eine Aufgabe des Staates: Er muss für möglichst gute und möglichst gleiche Startchancen unserer Jugend sorgen.

Anders die Situation bei den Hoch- und Fachhochschulen, dem tertiären Bildungswesen: Hier stösst der Staat an seine finanziellen Grenzen. Die tertiären Bildungsausgaben der Schweiz betragen heute 1,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts – weniger als im Durchschnitt der OECD-Länder (1,3 Prozent), viel weniger als in Finnland oder Schweden (1,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts). Hinzu kommt: Beim privaten Anteil an den Studienkosten steht die Schweiz abgeschlagen am Schwanz der Rangliste. Wir müssen uns nicht gleich mit den USA vergleichen, wo die Privaten 66 Prozent selber bezahlen; aber in Holland und Italien sind es 22 Prozent, in Schweden 12 Prozent – in der Schweiz nur 3 Prozent.

Während der Staat also ein bisschen zu wenig tut, tragen die Privaten klar zu wenig bei, was beides zusammen dazu führt, dass die Schweizer Hochschulen schon nur finanziell nicht mehr konkurrenzfähig sind.

Was tun? Vom Steuerzahler sind kaum zusätzliche Mittel zu erwarten, um die Qualität der Ausbildung zu verbessern. «Dass der Staat das Uni-Studium bezahlt, ist eine sehr unsoziale Lösung», sagt Gottfried Schatz, bis 1999 Professor am Biozentrum der Uni Basel, zur «Weltwoche». «Wieso soll ein Schreinerlehrling, der jeden Tag um sechs Uhr früh aufstehen und einen geringen Lohn akzeptieren muss, eine Universitätsausbildung mitfinanzieren?» Gerade in der Schweiz, wo es die tiefen sozialen Schichten kaum an die Uni schaffen, bedeuten billige Semestergebühren eine Subventionierung der Reichen.

Noch rechnet sich ein Studium an einer Schweizer Universität, aber nur noch knapp. Komplexe Kalkulationen des Bildungsökonomen Stefan Wolter zeigen, dass die privaten Bildungsrenditen eines Uni-Studiums in der Schweiz bei etwa fünf Prozent liegen, was im internationalen Rahmen wenig ist und unseren Universitäten ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Besser schneiden die Fachhochschulen ab, wo die Studenten wegen der kürzeren Studiendauer eine Bildungsrendite von acht bis zehn Prozent erreichen. (Diese Renditen fussen auf dem zusätzlichen Lohn, den Akademiker übers Leben gesehen mehr verdienen als andere Bürger. Nicht darin enthalten ist der nicht monetäre Nutzen: persönliche Zufriedenheit, Gesundheit, Selbstwertgefühl.)

Hans-Ulrich Doerig, Vizepräsident des Universitätsrates Zürich und Vizepräsident der Credit Suisse, hat in tiefer «Sorge um die langfristige Qualität der Bildung» eine analytisch saubere Studie verfasst, die vom konservativen Arbeitskreis Kapital und Wirtschaft herausgegeben wurde und allmählich für eine dringend nötige Diskussion sorgt. Darin schlägt Doerig eine markante Erhöhung der Gebühren vor, von heute rund 600 Franken pro Semester auf 5000 Franken pro Kopf und Jahr. Und damit auch die tieferen sozialen Schichten diese 5000 Franken im Jahr zahlen können, sollen Bedürftige wie bisher Stipendien erhalten, wobei man diese national besser koordinieren sollte. Vor allem aber müsste der Staat in grossem Stil vergünstigte Darlehen gewähren, fordert Bankier Doerig.

Der Zweck dieser Übung bestehe nicht darin, Studenten zu besteuern und den Staat zu entlasten. Ziel ist eine Verbesserung der Ausbildung. Hans-Urlich Doerig rechnet hoch, dass sich die zwölf Hochschulen und sieben Fachhochschulen mit Semestergebühren von 5000 Franken pro Jahr 350 zusätzliche Professoren, 1600 zusätzliche Assistenten und wissenschaftliche Mitarbeiter, 650 zusätzliche Privatdozenten und 1500 zusätzliche Lehrbeauftragte leisten könnten. Nur: Der Gesamtbundesrat will neuerdings die Uni-Gebühren erhöhen, um Ausgaben zu sparen.

Höhere Semestergebühren seien «das erste Tabu» der Schweizer Hochschulpolitik, bestätigt Gottfried Schatz, der früher das Biozentrum in Basel geleitet hat und heute den Bundesrat berät. Das zweite Tabu bestehe darin, «dass die Matur automatisch freien Zugang zu jeder Universität gewährt». Soll es hier zu Lande zwei oder drei Spitzenuniversitäten geben, die sich mit den besten Universitäten der Welt messen können, müssen hiesige Unis gleich lange Spiesse haben wie die Elite-Universitäten der USA. Die lesen ihre Studenten aus und lassen von vornherein nur die besten zu.

Literatur zum Thema

  • Hans-Ulrich Doerig: Neue Wege zur Hochschulfinanzierung. Bericht vom Arbeitskreis Kapital und Wirtschaft, 2004
  • Barbara Sporn, Christian Aeberli: Hochschule Schweiz – Ein Vorschlag zur Profilierung im internationalen Umfeld. Bericht von Avenir Suisse, 2004
  • Erste Ergebnisse von Pisa 2000: Lernen für das Leben. Bericht der OECD, 2001
  • Silvio Borner, Frank Bodmer: Wohlstand ohne Wachstum. Orell Füssli, 2004

BILANZ-Serie: Irrtümer der Wirtschaftspolitik