Ein guter Firmenchef baut einen Nachfolger auf. Michael Ambühl tat das nicht. Ein guter Chef delegiert, Ambühl riss die wichtgsten Dossiers an sich. Der Spitzendiplomat ist zwar kein CEO, aber er leitet mit dem Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) das derzeit wichtigste Staatsekretariat in der Bundesverwaltung. Ende August verabschiedet sich der 62-Jährige an die ETH. Er wird Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement. Konflikte hat er einige ausgefochten. So viele, dass nun überzeugende Nachfolger fehlen. Sein Stellvertreter Alexander Karrer übernimmt vorerst interimistisch.
Gesucht ist jemand mit sicherem Auftritt, Kenntnissen im Europa- und im Bankendossier, der innenpolitisch beschlagen und gut vernetzt ist. Auch der Name Karrer kursiert. Er kann das internationale Geschäft, kennt die Dossiers IWF und OECD und gilt als solider Handwerker. Allerdings wurde der 56-Jährige bei der Erstbesetzung des SIF für zu leicht befunden.
Gut möglich, dass jemand einer Aussenstelle zum Zug kommt. OECD-Botschafter Stefan Flückiger galt als Kandidat. Er nahm sich nach einer polizeilichen Verfolgungsjagd in Paris allerdings selbst aus dem Rennen. Oft fällt der Name Jacques de Watteville. Er vertrat die Schweizer Interessen in Brüssel. Bloss: De Wattewille ist erst seit einem Jahr in Peking und schon 62 Jahre alt.
Gut vernetzt
Chancen eingeräumt werden auch Roberto Balzaretti. Der parteilose Tessiner ist gut vernetzt und gilt als gewiefter Taktiker. Im erweiterten Kandidatenkreis kursieren die Namen der Botschafter in Washington (Manuel Sager) und Rom (Bernardino Regazzoni) sowie des einen oder anderen Bundesamtsdirektors. Angesichts der brodelnden aussenpolitischen Steuerdossiers ist das nicht eben eine ermutigende Ausgangslage.
Klar ist: Ambühls Nachfolger wird nicht nur inhaltlich eine Herkulesaufgabe übernehmen. Er soll auch auf internationalem Parket wieder «bella figura» machen. Denn Mikromanager Ambühl konnte nicht nur nicht delegieren und hinterlässt aus diesem Grund ein personelles Vakuum, sein Abgang wirft auch ein schiefes Licht auf die Schweizer Diplomatie als Ganzes. Es grenzt an Fahrlässigkeit oder Überschätzung, dass eine einzige Person die wichtigsten Dossiers der gegenwärtigen Schweizer Aussenwirtschaftspolitik verantwortet. Steuerdossiers, in denen der Kleinstaat Schweiz gegenüber den USA und der EU zu stetigen Zugeständnissen gezwungen war.
Dass die Schweiz den Bückling mache, «stimmt nicht», findet Christian Blickenstorfer, ehemaliger Botschafter in Deutschland, den USA und Saudi-Arabien. «Bei der Firmenbesteuerung mit der EU reagierte die Schweiz erst nach massivem Druck. Das Zinsbesteuerungsabkommen mit der EU wird in Berlin als Meisterleistung bezeichnet, und im Steuerstreit mit den USA lenkte die Schweiz erst ein, als der UBS in den USA das Aus drohte.» Und immer hatte Ambühl den Lead.
Machtbewusst
Dass er zur Kühlerfigur der Schweizer Diplomatenkaste aufstieg, hat mit Glück und Beharrlichkeit zu tun. Ambühls wirtschaftspolitischer Karrierebooster war die Ernennung zum Staatssekretär im EDA. Als Vorgänger Franz von Däniken nach Friktionen mit Departementschefin Micheline Calmy-Rey 2005 abdankte, war der loyale Ambühl zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Anforderungsprofil: Gegenpol zu Micheline Calmy-Rey. Der liberale Ambühl, Deutschschweizer und durch seine Brüsseler Zeit Kenner des Europadossiers, war die Idealbesetzung. Als oberster Diplomat des Landes konnte Michael Ambühl sich nun die wichtigen Dossiers greifen. Nicht nur die – er griff sie sich alle.
Relativ rasch rangen Ambühl und Urs Ziswiler, Chef der Politischen Direktion in Bern, um Kompetenzen. Ambühl zeigte die Zähne, Ziswiler verabschiedete sich als Botschafter Richtung Washington. Ambühl baute derweil seine Macht in Bern aus – in seiner eigenen Art. Ein Staatssekretär im EDA koordiniert die Arbeiten und delegiert. Ambühl indes installierte eine Art Wissensmonopol. Also vermittelte er selbst.
Erfolgreich waren die Bemühungen in der Vermittlung zwischen den Erzfeinden Türkei und Armenien, die unter den Augen Hillary Clintons die Zürcher Protokolle unterschrieben. Es war Ambühls Krönung, in der sich seine Chefin sonnte. Folglich handelte er den UBS-Staatsvertrag mit den USA aus und machte sich unentbehrlich für das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen, das im Nachgang an die UBS-Affäre im Jahr 2010 gegründet wurde.
Auf dem Prüfstand
Ein kluger Zug, allerdings erfolgte er spät. Dass das Schweizer Steuersystem international auf dem Prüfstand stand, war schon Jahre zuvor bekannt, sagt Alt-Botschafter Blickenstorfer. «Dass die Unterscheidung von Steuerhinterziehung und -betrug in den USA nicht haltbar ist, davor warnten wir in Bern bereits zur Jahrtausendwende.» In der Schweizer Diplomatie fehle die strategische Linie, kritisierte Diplomat François Nordmann bereits 2009. Die Schweiz habe nicht begriffen, dass es eine Hierarchie der Länder gebe. «Die souveräne Gleichheit der Staaten ist unter diesem Aspekt ein Mythos, der nur eine juristische Bedeutung hat.» Das ist bisweilen ein schmerzlicher Prozess. Etwa als Ambühl in den Verhandlungen um die Lex USA gewöhnliche Staatsanwälte der US-Steuerbehörde und des Justizdepartements gegenübersassen. Die grossen Staaten einigen sich heute in den wichtigen internationalen Gremien. Die Schweiz ist oft Zuschauer.
Es ist nicht bloss die Isolation, die das Schweizer Korps zuweilen unglücklich aussehen lässt. Flamboyante Verhandler wie Franz Blankart, David de Pury, Alexis Lautenberg oder Jakob Kellenberger umwehte stets etwas Elitäres. Heute agiere in Bern oft der loyale Verwaltungstypus, sagen altgediente Diplomaten. Die Branche hat alles Elitäre verloren. Es erinnere an das Schicksal der Swissair-Piloten, spöttelte «Die Zeit». Einst Helden über den Wolken, seien sie nach dem Grounding zu Busfahrern der Lüfte geworden.
Schlachtfeld Bern
Eine tiefere Flughöhe ist heute per se angebracht. Früher, sagt ein erfahrener Botschafter, hätten sich Unterhändler nicht mit den eigenen Politikern abgeben wollen. Landespolitik galt als nicht erhaben genug, der Kontakt kam einer Erniedrigung gleich: «Diplomaten waren zeitweise sehr abgehoben.» Christian Blickenstorfer: «Aussenwirtschaftspolitik im früheren, klassischen Sinn, für sich allein, gibt es nicht mehr.» Heute ist die Vernetzung in Bern zwingend. War vor der Abstimmung zum EWR-Beitritt keine Aussenpolitik die beste, «ist heute alles hochpolitisch», sagt ein hochrangiger Staatssekretär. «Volk, Politik, Bundesrat und Parlament reden mit. Das macht die Dossiers hochkomplex.» Die Schlachten werden in erster Linie in Bundesbern und nicht in Washington oder Berlin entschieden.
Dass mit dem kollektiven Dissens an der Heimfront auf fremdem Terrain wenig zu holen ist, scheint nicht allen Interessengruppen bewusst. Beispiel Christophe Darbellay. Vor einem Jahr unterbreitete der Bundesrat der EU Vorschläge, wie institutionelle Fragen gelöst werden könnten. Brüssels Antwort wurde im Dezember erwartet, da trat der CVP-Präsident wie der Elefant im Porzellanladen auf und forderte über die TV-Kameras eine neue EWR-Abstimmung. In Brüssel dürfte man Darbellays Sololauf irritiert zur Kenntnis genommen haben. Schliesslich ist der Walliser Bauchpolitiker keine kleine Nummer, sondern Präsident der Regierungspartei CVP.
Unterhändler rümpfen die Nase
Sind die Reihen an der Heimfront gelichtet, erschwert das die Verhandlungen der Unterhändler. Nicht nur das. Wenn Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf wie im Frühling 2012 in den USA selbst an den Verhandlungen teilnimmt, rümpfen Unterhändler die Nase. Alt-Staatssekretär Franz Blankart: «Dass sich Mitglieder des Bundesrates vermehrt an den Verhandlungstisch setzen, ist ein Fehler.» Die aktive Rolle des Bundesrats unterminiere die Position des Verhandlungsführers, sagen Diplomaten. Sobald auf Regierungsebene eskaliert werde, vergebe man einen technischen Spielraum, da Unterhändler von Amtes wegen härter auftreten können als ein Bundesrat. Blankart: «Ein Unterhändler muss loyal sein und akzeptieren, dass seine Erfolge vom Minister als die eigenen verkauft werden. Er darf seinem Unterhändler nicht den Teppich unter den Füssen wegziehen.»
Den Teppich ausrollen muss Ambühls Nachfolger seiner künftigen Entourage nicht. Aber er sollte Sorge tragen, dass beim nächsten Schichtwechsel eine Shortlist mit potenziellen Kandidaten besteht. Nicht wie bei Michael Ambühl. Dieser sei wie eine Pinie, erzählen Spitzendiplomaten. Ihre Nadeln decken den Boden so zu, dass darunter nichts mehr wachsen kann.