Kein Vorgarten, der Platz vor der Hausreihe ist gepflästert. Die Fassade grau und grob verputzt, neben dem Garagentor liegt die Haustüre, darüber das Flachdach und darunter die Fensterreihe, die beweist: Dies ist keine Zivilschutzanlage, wie Spötter meinen, hier wird in Räumen von grosser Qualität lustvoll gewohnt. Zur Strassenseite hin ist die Architektur unspektakulär und nicht für Leute gedacht, die sich ein Haus wünschen, das schon auf den ersten Blick repräsentiert. Für Sonja und Heinz Ryffel zählen andere Werte. Sie fühlen sich der klassischen Moderne verpflichtet, genau so wie der Architekt Eduard Neuenschwander, der diese Siedlung 1974 erbaute. Sie ist beispielhaft für das «moderne Bauen» des 20. Jahrhunderts und wird immer wieder von Architekturstudenten besucht.
Die Zahl der Kaufinteressierten sei immer kleiner geworden, und so habe sich auch der Kaufpreis ihrem Budget genähert. Für Ryffels war auf Anhieb klar: Dies war ihr Haus. Das offene Wohnkonzept, die Raumaufteilung, die Wirkung des Lichtes von oben durch die Glaskuppeln und durch die grosszügigen Verglasungen, der Garten, die unverbaute Sicht übers Feld. Ihre Wohnbedürfnisse und das Hauskonzept passten zusammen. Beides ist der Avantgarde des 20. Jahrhunderts nah. Vorbilder sind Architekten wie Alvar Aalto (18981976), Mies van der Rohe (18861969), Le Corbusier (1887 1965), Marcel Breuer (19021981) und die Nähe zum Bauhaus.
Der versteinerte Corbu-Sessel als Visitenkarte
Wer die Ryffels und ihre Designvorlieben kennt, findet auch ohne präzise Adressangaben zu ihnen. Zwischen Garagentor und ihrem Hauseingang steht der von Stefan Zwicky in Beton gegossene Sessel «grand confort/sans confort», der, auf das Eisenbetonzeitalter anspielend, dem berühmten Corbusier-Sessel «Grand Confort» (1929) ein archäologisch versteinertes Denkmal setzt. Das zweites Indiz das zum Ryffelschen Hausteil führt, ist das reine Rot von Garagentor und Eingangstür sowie das Stahlblau der Fassade. Die Farbwahl ist nicht von ungefähr. Das Stahlblau entstamme der Farbskala von Le Corbusier und das Rot sei das Thonet-Rot, so Heinz Ryffel. Er ist der Inhaber der Seleform AG in Zollikon, welche die Möbelkollektionen Thonet aus Deutschland sowie von Artifort aus Holland importiert und in der Schweiz im Design-orientierten Fachhandel vertreibt.
Heinz Ryffel ist ein Designfreak, nicht nur Berufes halber. Seine private Liebe zum zeitgenössischen Möbel machte aus dem gelernten Elektroniker einen profilierten Kenner des internationalen Marktes für gutes Design. Es sei ihm halt passiert, lacht er. Nach einem Sprachaufenthalt in England habe ein Studienjahr an der Michigan State University in Amerika seine beruflichen Weichen anders gestellt. Durch die Fächer Kunstgeschichte und Möbeldesign lernte er dort die international bedeutenden Kollektionen der Möbelhersteller Herman Miller und Knoll International kennen. Damit war der Keim seiner Leidenschaft für das zeitgenössische Design gesetzt. Diese ist beruflich wie privat sein Thema.
Zurück in der Schweiz verkaufte Ryffel bei der Firma Waser Büromöbel, konnte später diese Abteilung übernehmen und gemeinsam mit einem Team und den besten Möbelkollektionen im Objektbereich namhafte Unternehmen einrichten. Privat sei er natürlich immer Design-bewusster geworden. Der «Lounge Chair» war seine erste Anschaffung. Seit seinem Besuch damals bei Herman Miller in Zeeland habe er gewusst: «Dieser Sessel steht irgendwann bei mir daheim.» Mit dem Entwurf haben Charles & Ray Eames den traditionellen Klubsessel ihrer Zeit gemäss neu interpretiert. Der erste Prototyp entstand 1940 für den Wettbewerb «Organic Design in Home Furnishing» des Museums of Modern Art. 1955 ging der «Lounge Chair» in Produktion. Er wird inzwischen bei Vitra in Weil am Rhein hergestellt und ist nach über 50 Jahren unübertroffen der Rolls-Royce, wo immer er auch steht. Er wird in Chefetagen von stressgeplagten Managern für ihren «Powernap» benutzt, und er steht seit über 30 Jahren bei Ryffels daheim. «Er gehört zu unserer Wohngeschichte, passt überall hin, wie man es von einem guten Möbelstück erwartet», sagen sie. Er sei in einem Riegelhaus gestanden, dann in Jugendstilräumen, später in einer modernen Terrassenwohnung und jetzt hier im eigenen Haus mit all den anderen Möbelklassikern.
Ryffel hat das Unternehmertum im Blut. «Bei mir muss immer etwas laufen», sagt er. Nach seiner Zeit als Angestellter, suchte er die Selbstständigkeit und fand seine Berufung als Möbelverleger und Importeur der Kollektionen von Thonet aus Deutschland sowie von Artifort aus Holland. «Ich kann nur verkaufen, was mir gefällt. Und mir gefällt nur, was qualitativ in jeder Hinsicht gut ist», sagt er, und man glaubt ihm. Ryffel ist informiert. Nicht nur über seine eigenen Kollektionen. Er beobachtet den Markt umfassend. Er kennt die Produkte und ihre Designer, Hersteller und Verkaufskanäle. Das wissen auch Architekten, die sich von ihm beraten lassen. «Ich bin kein Innenarchitekt», sagt er von sich. Aber er hat das Gespür, was hier passt und dort nicht, attestieren jene, die seinen Rat schätzen. Bei ihm suchen sie Stühle, Tische, Bänke, Sessel für ihre Projekte. Wenn er das Richtige in seinen Kollektionen nicht findet, scheut er sich nicht, ein Modell der Konkurrenz zu empfehlen.
«Gutes Design hat immer auch Geschichte»
So auch die Geschichte des Familienunternehmens der Gebr. Thonet, die um 1853 mit Michael Thonet ihren Anfang nahm. Heute wird das Unternehmen in der fünften Generation von Claus, Peter und Philipp Thonet geführt. Wer kennt den legendären Thonet-Stuhl nicht. Jener aus gebogenem Holz. Bekannt auch als Bistro-, Kaffeehaus- oder Wienerstuhl. Im Verkaufsblatt der Firma von 1859 wird er als der Konsumsessel Nr. 14 angepriesen. Er wurde millionenfach verkauft, hundertfach kopiert. Das Original wird, jetzt als die Nr. 214, immer noch produziert. Auch wenn das Unternehmen schon seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts nebst den Holzstäben auch Stahlrohr biegt und in seinen Produktionsstätten die berühmtesten Klassiker wie die Freischwinger von Mies van der Rohe oder von Marcel Breuer/Mart Stam gefertigt werden, das Urprodukt und Markenzeichen von Thonet, der Bugholzstuhl bleibt in der Kollektion. Auch wenn er im Moment nicht im Trend liege. «Gutes Design ist auf die lange Sicht unvergänglich», so Ryffel und er verweist auf die Polstersitze aus den Sixties von Artifort wie der «Orange Slice» oder der «Little Tulip» des Franzosen Pierre Paulin, deren organische Formen zurzeit ihr Revival feiern.
Und womit wohnen die Ryffels daheim? Wer jetzt vermutet, dass man bei ihnen vor allem auf Möbel aus dem Showroom der Seleform stösst, liegt falsch. Hinter der Thonet-roten Eingangstür wird auf Schritt und Tritt mit der Designgeschichte ab 1906 bis zum heutigen Zeitpunkt gewohnt. Darunter gibt es mindestens 21 Produkte mit Schweizer Ursprung. Die Herkunft sei für ihn kein Kriterium, so Ryffel. Die Einrichtung im ganzen Haus, vom Büro im Untergeschoss bis hin zu den Kinderzimmern, besteht aus zusammengetragenen Einzelstücken. Im Laufe der Jahre sei eines zum anderen gekommen. Daraus entstand das harmonisch zurückhaltende Ganze. Der Architekt Neuenschwander würde sagen: «Gute Räume sind unzerstörbar.» Und seine Räume sind unbestritten gut. Doch Ryffel hat eine weitere Erklärung: «Gute Möbel dominieren nie, sie fügen sich ein, sind keine modischen Eye Catcher.» Für Aufmerksamkeit sorgen hier Blumen und die Kunst. Zum Beispiel das rote Bild im Treppenaufgang oder das blaue über dem Sofa im Wohnbereich. Beides sind Werke von Gottfried Honegger, den Ryffel, wie fast alle seine Künstler und Designer, persönlich kennt.
Seit 1994 wohnt die Familie Ryffel in ihrem Hausteil, der sich so geschickt in die Reihe fügt, dass man die Nachbarn nicht wahrnimmt. Der grösste «Umbau» geschah im Garten, er wurde neu angelegt. Im Hausinnern behagte der graue Sichtbeton nicht. So wurden die Wände und Decken weiss gestrichen. Die Bäder mussten erneuert werden, und aus einem kleinen Abstellraum im Untergeschoss entstand, mit einer grosszügigen Verglasung zum kleinen Hofgarten hin, das Büro. Im Ryffelschen Freundeskreis unbestritten bekannt als «wunderbare Gastgeberin und begnadete Köchin», erhielt die Frau des Hauses ihre neue Küche. Hier schmort Sonjas «Brasato con Polenta», der in gewissen Designerkreisen mindestens so bekannt ist, wie der «Grand Confort» von Le Corbusier, der bei Ryffels im Schlafzimmer steht.
«Heute muss man neue Wege ausprobieren»
Heinz Ryffel ist ein Macher, ein Mischler im positiven Sinn. Er ist einer, der sein enormes Wissen grosszügig weitergibt und in der Einrichtungsszene immer wieder einiges bewegt. Dazu gründet er «Familien». Nicht nur seine persönliche daheim, die in seinem verzweigten «Familiengefüge» die zentralste Rolle innehat. Ryffels berufliche «Familien» basieren auf Zusammenschlüssen Gleichgesinnter. Netzwerke würde man sie im Business-Jargon nennen. Das Wort «Familie» sei ihm lieber, es verweise auf intim Verbindendes. Man habe ähnliche Vorlieben und Absichten, sei sozusagen seelenverwandt. Eine seiner geschäftlichen «Familien» ist das Forum 8: Acht Schweizer Möbel- und Leuchtenhersteller, die mit ihren teils sogar konkurrenzierenden Produkten, gemeinsam erfolgreich an Möbelmessen auftreten.
Liebevoll streicht er über das Holz des Tisches, den Florence Knoll aus New York in den 60er Jahren entwarf. Der elegante Tischfuss aus Chromstahl ist aus Amerika, das Tischblatt aus Palisander von der Schreinerei Röthlisberger aus Gümligen bei Bern, die schwarzen Holzstühle am ovalen Tisch wurden 1926 entworfen von Ernst Haefeli aus Zürich und hergestellt in der Möbelfabrik Horgenglarus aus Glarus. Dazu das Licht aus der italienischen «Arco» von Castiglioni und an der Wand das Bild des Baslers Wolf Barth. Dies eine kleine Kostprobe aus Ryffels Wohnkonzept. Ob bei ihm am Tisch nicht Thonet-Stühle stehen müssten? Heinz Ryffel lacht. «Das haben schon andere gefragt.» Die Thonets stehen bei ihm im Showroom, und was die Gebrüder Thonet betreffe: «Die sitzen bei uns daheim genau so gern wie all unsere anderen Gäste auf religiös biederen Haefeli-Stühlen am ovalen Tisch.» Natürlich gibt es andere Thonet-Modelle daheim, Raritäten halt, die nicht mehr hergestellt werden.
«Stühle gibt es nie genug!»
Für die Einrichtungsbranche tönt das provokativ. Sie stöhnt unter der Stuhlvielfalt. Trotzdem, zurzeit steht an Ryffels Familientisch ein Neuer im Test, der «Chrönzgi-Stuhl». Und schon kommen wir zur nächsten Möbelgeschichte. Der «Chrönzgi» (inoffiziell von Ryffel so genannt) ist tatsächlich der Stuhl, auf dem die Gäste in der «Kronenhalle» die berühmte «Mousse au Chocolat» essen. «Der Stuhl ist gut», so der Möbelverleger Ryffel mit Kennerblick. Dies fanden auch die Architekten Romero & Schaefle, die für das Hotel Greulich in Zürich etwas Passendes gesucht hatten. Der Stuhl aus der «Kronenhalle» gefiel, wurde von Stefan Zwicky überarbeitet und für das Hotel Greulich in einer kleinen Schreinerei im Thurgauischen hergestellt. Trotz Nachforschungen blieb der Entwerfer bisher anonym. Es sieht ganz so aus, als habe man auf den Neuen gewartet. Inzwischen steht er auch im Hotel Sehblick in Luzern und hat in Deutschland seinen Hersteller gefunden. Neu wird er jetzt bei Thonet in Frankenberg produziert und geht mit der Nr. 454 in der Kollektion international auf den Markt.
«Wir müssen über gutes Design informieren»
Vor sieben Jahren hat Ryffel als deren Verwaltungsratspräsident die NR Neue Räume AG mitgegründet. Es ging um eine Plattform für gutes Design. «Wenn die Leute mehr über zeitgenössisches Design wüssten, würden sie anders wohnen», davon sind Ryffel und seine Mitstreiter überzeugt. An der Ausstellung «Neue Räume» wird nicht verkauft, sondern informiert. Sie findet alle zwei Jahre in Zürich statt. Wer hier ausstellen darf, gehört zu den Auserwählten. Die Firmen aus dem In- und Ausland akzeptieren die von Stefan Zwicky erarbeitete Standarchitektur. «Die Produkte sollen wirken und nicht Standbauten», so Zwicky, der die Ausstellung managt.
Zur Information dient auch das durch die NR Neue Räume AG herausgegebene Schweizer Möbel Lexikon, eine Chronologie ab 1920 bis 2005. Es ist eine Fundgrube für alle, die nach guten Einzelstücken suchen.
Die jüngste «Familie» in Ryffels Familienverband ist das Designarchiv. Hier haben sich Partner der Einrichtungsbranche zusammengetan, die bereit sind, Neues zu wagen. Sie lassen neue Produkte entwickeln und suchen nach guten Entwürfen, die irgendwo in Archiven schlummern. Vielleicht waren sie damals zu avantgardistisch und fanden keinen Hersteller oder wurden ganz einfach irgendwann vergessen. Fast wäre unter dem Label «Designarchiv» der «Chrönzgi» produziert worden, wenn er nicht von Thonet adoptiert worden wäre. Doch im «Designarchiv» kommt demnächst ein anderer heraus, der gefallen wird. Es ist der stapelbare «Kleine Coray» von 1953. Er trägt unverkennbar die Handschrift von Hans Coray und seinem Landi-Stuhl, der seit Jahrzehnten nicht nur in Gärten und modernen Interieurs steht, sondern es sogar auf die Schweizer A-Post-Briefmarke geschafft hat. Wie hat doch Ryffel gesagt? Gutes Design passt immer!
Buchtipp: Schweizer Möbel Lexikon, Stefan Zwicky, mit einem Vorwort von Alfred Hablützel, Herausgeber NR Neue Räume AG, Zürich, Offizin Verlag AG, Zürich. www.ofw.ch.
Ausstellung
Noch bis zum 6. August findet im Musée Rath in Genf die Ausstellung «Le Corbusier ou la Synthèse des arts» statt. Sie würdigt vor allem das bildnerische Schaffen des weltberühmten Künstler-Architekten Le Corbusier (18871965), der mit bürgerlichem Namen Charles-Edouard Jeanneret hiess und aus La Chaux-de-Fonds stammt.