Stress gehört zum Manageralltag wie die Krawatte und der elektronische Zeitplaner. Doch was manche als angenehme Herausforderung, als so genannten «Eustress» empfinden, wirkt auf die meisten belastend oder gar lähmend. Stress macht krank und verursacht horrende Kosten.
Die volkswirtschaftlichen Verluste durch Stress gehen in der Schweiz in die Milliarden. Ursachen sind nicht nur Ausfälle am Arbeitsplatz und Qualitätseinbussen, sondern auch hohe Kranken- und Sozialkosten.
Höchste Zeit also, auf volkswirtschaftlicher Ebene dem Stress zu Leibe zu rücken. Das Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hat erste Schritte eingeleitet. Gemeinsam mit der Föderation Schweizer PsychologInnen (FSP) finanziert es eine Studie, die Nachfrage und Möglichkeiten einer Internet-Informationsplattform zur Stressprävention in Wirtschaft und Verwaltung abklärt. Die ETH Zürich, die Universität Bern und Mitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin beteiligen sich an der Untersuchung.
Die Internet-Plattform soll vielfältige Antworten zum Thema Stress liefern: Was ist Stress? Welche negativen Auswirkungen auf Person und Betrieb kann Stress haben? Wie kann man auf betrieblicher und persönlicher Ebene Stress entgegenwirken?
Intensive Stressforschung
Wertvolle Erfahrungen für die Plattform lieferte der Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie (aop) am Institut für Psychologie der Uni Bern. Professor Norbert K. Semmer und sein Team forschen dort seit Jahren intensiv am Thema Stress am Arbeitsplatz.
Beruflicher Stress entsteht, wenn die Anforderungen grösser sind als die Ressourcen, die der Mensch zur Verfügung hat z.B. Zeit um sich zu regenerieren. Oft zerren alltägliche Widrigkeiten an den Nerven: Eine ungeliebte Zusatzaufgabe, die E-Mail-Flut oder mangelnde Wertschätzung durch einen Kollegen. Der tägliche Kleinkrieg kann sogar schädlicher sein als grosse und seltene negative Ereignisse.
Alles zusammen führt dazu, dass gesund erhaltende Ressourcen z.B. Familie, Freunde, Freizeit, Sport im Vergleich zu den beruflichen Anforderungen ins Hintertreffen geraten. Die Balance zwischen Arbeit und anderen wichtigen Lebensinhalten, die so genannte Work-Life-Balance, kommt ins Wanken. Burnout droht.
Spätestens jetzt betrifft der Stress auch den Arbeitgeber, denn es entstehen die erwähnten Ausfall- und Krankheitskosten. Unternehmen sollten darum ein vitales Interesse haben, für die Work-Life-Balance ihrer Mitarbeitenden zu sorgen.
Warnzeichen erkannt
Der Pharmakonzern Novartis hat die Warnzeichen frühzeitig erkannt. Führungskräfte und Mitarbeitende sollen Karriere machen können und gleichzeitig Zeit für Familie und sich selbst haben. Dies ist den Novartis-Mitarbeitenden ein grosses Anliegen, wie interne Zufriedenheitsumfragen immer wieder zeigten.
Sie waren der Auslöser, dass Novartis am Lehrstuhl von Norbert Semmer ein webbasiertes Instrument zur Selbsteinschätzung der Work-Life-Balance entwickeln liess. «Es beinhaltet die Möglichkeit, anhand von Fragebögen und Checklisten unterschiedliche Stressindikatoren bei sich zu erheben sowie mittels programmierter Auswertungslogarithmen direktes Feedback über ausgewählte Indikatoren zu erhalten», erläutert Nicola Jacobshagen, Projektverantwortliche am Lehrstuhl in Bern.
Wer sich einschätzen lassen möchte, erhält einen geschützten Zugang zum elektronischen Fragebogen. Abgefragt werden unter anderem Stressoren wie Zeitdruck, arbeitsorganisatorische Probleme, Work-Family-Konflikte und psychosomatische Beschwerden, Ressourcen und Wohlbefinden.
Jeder Zweite macht mit
Über die Hälfte der rund 500 Topmanager hat seit 2002 die Gelegenheit ergriffen, online den eigenen Stresslevel einzuschätzen und ihn mit dem Profil firmeninterner Gleichrangiger (peers) zu vergleichen. Anonymität und Freiwilligkeit bleiben jederzeit gewahrt.
Handeln müssen die Führungskräfte ohnehin selber. «Wir wollen keinen Zwang ausüben, sondern Empfehlungen abgeben. Unsere Angestellten müssen selbst Verantwortung übernehmen für die Balance zwischen Freizeit und Arbeit», betont Martin Kuster, Beauftragter für Corporate Health Protection bei Novartis.
Was bisher nur dem oberen Kader vorbehalten war, soll nun ausgeweitet werden: Die Möglichkeit, sich ein Bild vom eigenen Stressniveau zu machen und aktiv etwas gegen Stress zu unternehmen. Die positiven Erfahrungen mit dem Online-Assessment beim oberen Kader haben Kuster nämlich bewogen, das Instrument in einem nächsten Schritt auch für das mittlere Management einzuführen.
Das Projektteam am Lehrstuhl von Norbert Semmer hat inzwischen Inhalte, Skalen und Formulierungen dem Zielpublikum angepasst.
Novartis sieht ihre elektronische Hilfe zudem als Chance, ihre Position als attraktives Unternehmen zu stärken. «Wir wollen uns als Arbeitgeber etablieren, der die besten Mitarbeitenden rekrutieren und langfristig halten kann», heisst es in der Novartis-Broschüre «Arbeit und Freizeit im Einklang». Das Online-Assessment ist ein weiterer Schritt dazu. Work-Life-Balance wird bei Novartis jedoch als dauerndes Anliegen gesehen eine feste Anlaufstelle dafür wurde bereits geschaffen.
Novartis-Online-Assessment: Grüner, gelber, roter Pegel
Das bei Novartis eingesetzte Online Assessment zur Work-Life-Balance besteht je nach Zielgruppe aus 150, 130 oder 100 Fragen und Aussagen zum Thema Stress am Arbeitsplatz. Diese bilden psychometrisch getestete Skalen, die über Jahre entwickelt und auf Validität und Reliabilität überprüft wurden. Gemessen werden Ressourcen, Stressoren, Coping (Umgang mit Stress) und Wohlbefinden.
Interessierte Mitarbeitende erhalten Zugang über einen Link, der automatisch ein firmeninternes Passwort generiert und an die E-Mail-Adresse sendet. Das Ausfüllen des Fragebogensdauert 20 bis 30 Minuten. Den Fragen sind Auswertungsalgorithmen unterlegt. Sobald die letzte Frage beantwortet ist, erhalten die Teilnehmenden ein automatisch erzeugtes Feedback über einige der gemessenen Themenbereiche.
Das Feedback erscheint als Profil im Ampel-Design: Grün = gutes Ergebnis, gelb = Achtung, rot = Problembereich. Die Berechnung erfolgt aufgrund von Daten ähnlicher Personengruppen (peers) aus anderen oder aus dem gleichen Unternehmen.
Zusätzlich können Teilnehmende zu allen zurück gemeldeten Ergebnissen vertiefte Informationen anklicken, z.B. über Stress und Stressbewältigung sowie zu Ansprechpartnern in der Firma, bei denen man sich Hilfe holen kann. Das Assessment kann mehrfach über die Zeit ausgefüllt werden (z.B. alle drei Monate) und mit den vorhergehenden Profilen verglichen werden. So lässt sich feststellen, ob sich etwas zum Positiven oder Negativen verändert hat. (vo)
Quelle: Nicola Jacobshagen, Projektverantwortliche, Lehrstuhl aop an der Uni Bern