Die Verwerfungen an Börsen im laufenden Jahr haben Billionenwerte vernichtet: Der Wert der hundert grössten an der Börse gehandelten Unternehmen sank im Verlauf des ersten Halbjahres 2022 um 17 Prozent beziehungsweise 6,1 Billionen Dollar. Das geht aus einer Studie des Beratungsunternehmens EY hervor. In der Gruppe der teuersten 300 Unternehmen der Welt wurde sogar ein Rückgang um 20 Prozent verzeichnet.
Erstaunlich prominent in der Studie tauchen Firmen mit Hauptsitz in der Schweiz auf. Unter den wertvollsten 100 Unternehmen gibt es mit Nestlé (weltweiter Rang 20), Roche (30) und Novartis (50) gleich drei Schweizer Unternehmen. An der Dominanz der US-Konzerne an den Weltbörsen hat sich insgesamt wenig geändert. Die Zahl der US-amerikanischen Unternehmen, die sich zur Jahresmitte unter den 100 wertvollsten Unternehmen der Welt platzieren können, liegt bei 60. Die Schweiz belegt hinter den USA, China/Hongkong und Saudi-Arabien den vierten Platz bezogen auf den kumulierten Wert der Börsenkapitalisierung der Unternehmen in den Top 100.
«Obwohl die Schweiz sehr fortschrittlich und liberal ist bezüglich innovativer und digitaler Businessmodelle, hat sie noch kein ganz grosses Unternehmen in dem Bereich hervorgebracht», sagt Stefan Rösch-Rütsche, Country Managing Partner von EY Schweiz. Die Schweiz ist jedoch beliebter Standort sowohl der grossen Tech-Konzerne wie auch eines wachsenden Fintech-Eco-Systems.
Die «Handelszeitung» hat auch die von EY erfassten 500 wertvollsten Unternehmen ausgewertet. Deren Bewertung sank im ersten Halbjahr 2022 um nicht weniger als 10,9 Billionen Dollar auf noch 51,9 Billionen. Schweizer Unternehmen machen mit zuletzt 1,3 Billionen rund 2,5 Prozent dieser Gesamtwerte aus.
13 Schweizer Unternehmungen haben es insgesamt in diese Top-500-Liste geschafft, womit die Schweiz auf Rang neun von insgesamt rund dreissig Länder zu liegen kommt. Nebst den bereits erwähnten SMI-Schwergewichten zählt EY auch an der New Yorker Börse kotierte Firmen wie den Rückversicherer Chubb oder die in London gehandelte Glencore zu den Schweizer Schwergewichten.
Credit Suisse und Swiss Re nicht in den Top 500
Um in die Top 500 zu kommen, brauchte es zuletzt eine Börsenkapitalisierung von mehr als 32,7 Milliarden Dollar (auf Rang 500 liegt die in dieser Höhe bewertete australische Wesfarmers Limited. Und so spielen Schweizer Blue-Chips wie der Rückversicherer Swiss Re (23,9 Milliarden Franken) oder die stark abgestürzte Grossbank Credit Suisse (14,7 Milliarden Franken) nicht im Ranking mit.
Interessant ist der Blick auf die Branchen. Vom Einbruch an der Börse besonders stark betroffen waren Technologiekonzerne. Deren Börsenwert ist laut EY insgesamt um 28 Prozent eingebrochen.
Die einzige Branche, die gegen den Trend zulegen konnte, ist der Energiesektor: Die Öl- und Gasunternehmen, die sich unter den Top 100 platzieren konnten, steigerten ihren Börsenwert um 19 Prozent. Der Erdölkonzern Saudi Aramco ist mit einem Börsenwert von 2,3 Billionen Dollar das zweitteuerste Unternehmen der Welt – knapp hinter Apple. Verglichen mit Ende 2021 legte die Firma um 368 Milliarden Dollar zu.
Kein anderes Unternehmen kommt auch nur annähernd an eine ähnliche Wertsteigerung. Den zweitgrössten Wertsprung legte die US-Ölfirma Exxon Mobil mit einem – prozentual jedoch ebenfalls beeindruckenden – Zuwachs von 259 auf 360 Milliarden Dollar hin.
Das Comeback der Energiefirmen
Bis vor kurzem machte es noch den Anschein, als sei die grosse Zeit der Ölmultis an den Weltbörsen vorbei. So waren Ende 2011 noch vier Ölkonzerne unter den Top 10 weltweit, das teuerste Unternehmen der Welt war damals Exxon. Seitdem hatten sich die Gewichte massiv zugunsten von Technologieunternehmen verschoben. Die Zahl der Energiekonzerne, die sich unter den Top 100 platzieren konnten, sank binnen zehn Jahren von 20 (Ende 2011) auf 5 (Ende 2021) – um im ersten Halbjahr dieses Jahres wieder auf 9 zu steigen.
In absoluten Zahlen die grössten Verlierer im ersten Halbjahr 2021 waren die Technologiefirmen (siehe auch Grafik unten): Apple hat 700 Milliarden Dollar an Wert verloren (minus 24 Prozent), Amazon 610 Milliarden Dollar (minus 36 Prozent) und Microsoft 604 Milliarden Dollar (minus 24 Prozent).
Europa verliert an den Weltbörsen an Boden
Vor der Finanzkrise – Ende 2007 – kamen noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Europa. Inzwischen sind es nur noch 16. Die Bedeutung Europas an den Weltbörsen schrumpft und die Gewichte verschieben sich weiter in Richtung USA. Auch Chinas Bedeutung ist zuletzt wieder gestiegen – die Zahl der chinesischen Konzerne unter den Top 100 kletterte seit Jahresbeginn von 10 auf 16.
Die Rahmenbedingungen für europäische Unternehmen hätten sich eingetrübt, wie EY-Manager Rösch-Rütsche festhält. Die aktuelle konjunkturelle und politische Lage, gepaart mit einer drohenden Energiekrise, schrecke Investoren ab. «Internationale Investoren trauen Unternehmen aus anderen Regionen vielfach bessere Wachstumsperspektiven und ein stärkeres Risikoprofil zu», sagt Rösch-Rütsche.
Dass praktisch alle Branchen bezüglich deren Börsenkapitalisierung Federn lassen mussten, ist offensichtlich. «Die grossen politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten und Irritationen der letzten Monate haben die Kurse an den internationalen Kapitalmärkten einbrechen lassen und zu der aktuell tiefgreifenden Verunsicherung geführt», sagt Rösch-Rütsche.
Trotz sinkender Börsenkapitalisierung weisen viele der Topkonzerne nach wie vor hohe Gewinne aus. Speziell die Öl- und Gasunternehmen konnten von den stark gestiegenen Energiepreisen profitieren und verzeichneten steigende Aktienkurse.
Technologiewerte unter Druck
Angesichts der Zinswende gerieten zuletzt vor allem hoch bewertete Wachstumsunternehmen unter Druck – die lange favorisierten Technologieunternehmen mussten teils massive Kurseinbrüche hinnehmen, nachdem sie infolge der Pandemie zuvor erhebliche Wertzuwächse verzeichnet hatten. Die Zahl der Tech-Konzerne im Top-100-Ranking ist seit Jahresbeginn von 27 auf 23 gesunken.
Laut Stefan Rösch-Rütsche habe sich vor allem die Erwartungshaltung von Investoren geändert. Nun sitze das Geld nicht mehr so locker, die Erwartungen und Anforderungen der Investoren an ein Unternehmen und ihre Finanzkennzahlen seien gestiegen. Rösch-Rütsche sieht jedoch auch positive Trends für das kommende Jahr: «Die Digitalisierung, die während der Pandemie über alle Branchen hinweg nochmals einen kräftigen Schub erlebt hat, bleibt ein wichtiger Treiber der Wirtschaft und der Börsen in den kommenden Jahren.» Selbstredend, dass die Technologieunternehmen weiter eine dominierende Rolle spielen werden.