Während der Präsidentschaftswahlen haben TV-Zuschauer in den USA einen Vorgeschmack erhalten, wie wir schon bald mit dem Computer arbeiten könnten: Kommentatoren von CNN und NBC zupften mit beiden Händen an Landkarten auf grossen Bildschirmen, zogen Gliedstaaten heraus und zoomten mit kreisenden Bewegungen auf Teilresultate.
Die Technik dahinter heisst Multi-Touch. Während herkömmliche Berührbildschirme à la iPhone mit nur einem Finger bedient werden können, erkennen und verarbeiten solche Oberflächen mehrere Eingaben simultan. Sie werden mit mehreren Fingern, mit beiden Händen oder sogar von verschiedenen Personen gleichzeitig bedient. Da sie auch Gesten wie Wegwischen, Blättern oder Zwicken erkennen, ist die Bedienung intuitiver als mit Tastatur und Maus. Meistens werden in den Bildschirm druck- oder wärmeempfindliche Schichten beziehungsweise Kameras eingesetzt, um die Aktionen der Benutzer zu erkennen.
Die von den amerikanischen Fernsehsendern verwendeten Geräte stammen vom Start-up Perceptive Pixel und von Microsoft. Der Tischcomputer Microsoft Surface wird derzeit nur an Grosskunden geliefert. Die dafür entwickelte Berührtechnik soll aber im nächsten Windows-Betriebssystem enthalten und damit für jeden PC nutzbar sein. Das könnte eine dringend benötigte Vereinfachung für Entwickler neuer Geräte bringen, denn noch fehlen Standards für Multi-Touch-Umgebungen.
Bei Herstellern wie Dell, Fujitsu-Siemens und Hewlett-Packard gilt Multi-Touch für künftige Notebooks als gesetzt. Verhalten äussert sich die Schweizer Firma Logitech, Marktführerin für Computermäuse: «Unsere Ingenieure verfolgen die Berührtechnik als eine mögliche Lösung für die PC-Navigation», sagt Unternehmenssprecher Ben Starkie. Logitech könne derzeit in einer Desktop-Umgebung aber keinen Produktivitätsgewinn durch den Ersatz der Maus erkennen. Im Multimedia-Bereich dürfte sich Multi-Touch aber etablieren, denn die Navigation durch digitale Foto-, Musik- und Filmsammlungen mit der Maus ist alles andere als praktisch.
Auf dem Siegeszug befindet sich die Technik auch bei Kleingeräten. Das iPhone hat gezeigt, dass Berührtechnik im Massenmarkt funktioniert. Gefragt ist Multi-Touch auch dort, wo es um Kollaboration und Visualisierung geht. Am Chair for Information Architecture der ETH Zürich wurde vor Wochenfrist das Baugarten Value Lab eingeweiht – ein Raum mit grossflächigen Multi-Touch-Bildschirmen an den Wänden und in Tischplatten: «Hier können viele Personen gemeinsam mit hochkomplexen Inhalten arbeiten», erklärt Professor Gerhard Schmitt. Die Einrichtung für das Direct Information Modelling kann auch zwischen den einzelnen ETH-Standorten oder im Verkehr mit Unis und Firmen im In- und Ausland eingesetzt werden.
«Attraktiv für kleine Geräte»
BILANZ: Herr Müller, gibt es bald nur noch Multi-Touch-Bildschirme?
Lothar Müller: Das bezweifle ich. Die Kernfrage lautet: Für welche Art von Anwendungen machen sie Sinn? Bei kleinen Geräten mit beschränkten Eingabemöglichkeiten sind sie attraktiv.
Wo sehen Sie grossflächige Anwendungen?
Wohl eher für Kiosk- oder Infosysteme oder aber für Spezialanwendungen wie das Mindmapping-Programm, das wir geschrieben haben. Es erlaubt die Zusammenarbeit von mehreren Personen an einem Multi-Touch-Tisch.
Verändert Multi-Touch den Büroalltag?
Ich glaube nicht, dass man im normalen Office-Umfeld viele Anwendungen finden wird. Dort bleiben als Interfaces vorerst Tastatur und Maus aktuell.
Prof. Lothar Müller ist Abteilungsvorstand Informatik an der Hochschule für Technik Rapperswil.