Hans-Jacob Heitz ist eigentlich kein Mensch, der sich leicht über den Mund fahren lässt. Auf der letzten Generalversammlung der Zurich Financial Services fand der Aktionärsanwalt aus Winterthur in Lodewijk van Wachem freilich seinen Meister. Heitz hatte den Verwaltungsratspräsidenten der «Zürich» unter dem Beifall des Publikums gebeten, er solle Fragen bitte auf Deutsch beantworten. Van Wachem blieb beim Englisch – damit ihn «Zürich»-Konzernleiter James Schiro verstehen könne. «Ihr anderen habt ja Übersetzungsgeräte.»
Jetzt lässt Hans-Jacob Heitz im Gespräch mit der BILANZ nachträglich noch einmal Dampf ab. «Wir bedauern, um es mal diplomatisch auszudrücken, dass der Verwaltungsrat Herrn Hüppi ungeschoren hat laufen lassen. Der hat letztlich mit seiner überrissenen Strategie die Massnahmen provoziert, die Schiro jetzt treffen musste – und die eine Menge Geld kosten.» Auf den Chief Executive selber ist Heitz hingegen überraschend gut zu sprechen. Der Schiro, ja, der habe in den 15 Monaten seit seinem Amtsantritt ordentliche Arbeit geleistet. «Wobei das natürlich vor allem schmerzhafte Restrukturierungsmassnahmen waren.»
Mit dieser Einschätzung dürfte der Advokat richtig liegen. Das erste Jahr der Ära Schiro wird in die Geschichte des Traditionskonzerns als Zeit der harten Massnahmen eingehen. Konzentration aufs Kerngeschäft heisst seine Losung – und es vergeht kein Monat, ohne dass er vermeldet, wieder irgendeine Beteiligung oder Tochter losgeworden zu sein.
«Als ich vor einem Jahr hier anfing, habe ich Glaubwürdigkeit und Vertrauen beschworen», formulierte der 57-jährige Schiro jüngst in einer Rede vor der Swiss-American Chamber of Commerce etwas wolkig. Tatsache ist, dass der New-Yorker die Ärmel hochgekrempelt und keine harten Schnitte gescheut hat. Derweil zelebriert er sich als nüchterner Zahlenmensch mit Sinn für das Machbare. Und als Manager, der bewusst keine Prognosen abgibt und keine Luftschlösser baut.
«Herr Schiro will die Restrukturierung der ‹Zürich› nicht zerredet haben», sekundiert die Presseabteilung ihren Chef, «aus diesem Grund gibt er keine Interviews. Diese Abstinenz gilt auch für alle anderen Mitglieder der Konzernleitung.» Auch ein neuer Pragmatismus à la James Schiro.
Natürlich ist das kein Spaziergang, wenn innerhalb eines guten Jahres in der Konzernleitung zwei Drittel der Managern ausgewechselt und in der erweiterten Konzernleitung gar 14 von 22 Mitgliedern ersetzt werden. Wenn der Bruch mit der Ära Hüppi 4500 der weltweit 76 500 Angestellten den Arbeitsplatz kostet. Und wenn man sich entschliesst, bilanztechnisch reinen Tisch zu machen – auch wenn das Sonderrückstellungen in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar zur Folge hat.
Dass die harte Gangart des Amerikaners nicht bei allen Mitarbeitern ankommt, kann niemanden verwundern. Das strikte Kostenmanagement unter Richard Kearns, einem Spezi Schiros aus alten PricewaterhouseCoopers-Tagen, ist allemal ein Grund für Ärger. In anonymen Briefen war plötzlich von «Managerbrutalität» und «Wirtschafts-terrorismus» die Rede. Die neue IT-Chefin Cecilia Claudio, von der amerikanischen ZFS-Tochter Farmers Group nach Europa geholt: angeblich ein Musterbeispiel einer angelsächsisch geprägten ZFS-Managergeneration, die es den unfähigen Schweizern zeigen soll.
Schiro bleibt von derlei Kritik relativ unberührt, hat die Börse seinen beherzten Sanierungsfeldzug doch längst honoriert. Allein in den letzten drei Monaten legte der Aktienkurs um satte 40 Prozent zu. Jene, die an den Fähigkeiten des Amerikaners gezweifelt hatten, wurden spätestens mit den Zahlen des ersten Geschäftsquartals eines Besseren belehrt. Die «Zürich» verkündete die Verdoppelung des Betriebsgewinns auf 785 Millionen Dollar (man spricht im Konzern heute nicht nur Englisch, sondern bilanziert auch in Dollars) und die Erarbeitung eines Reingewinns von 114 Millionen Dollar. Im Nichtleben-Bereich, der über 70 Prozent des Geschäfts ausmacht, erzielte die «Zürich» einen Prämienzuwachs von 32 Prozent auf 9,8 Milliarden Dollar. «Diese Zahlen liegen klar über den Erwartungen», jubelte René Locher, Versicherungsanalyst bei der Bank Sarasin.
Weitaus wichtiger als das positive Quartal war allerdings das Tempo, mit dem Schiro seine Fokussierungsstrategie umsetzte und damit die waghalsigen Expansionsabenteuer seines Vorgängers Rolf Hüppi korrigierte: Anfang Februar gab die «Zürich» eine Vereinbarung mit der Deutschen Bank über den Verkauf der Bank Rüd, Blass & Cie bekannt. Im März folgte die Übertragung des Versicherungsportfolios der «Zürich» in Lettland und Litauen an die If P&C Insurance, im Mai der Ausstieg aus dem Asset-Management in Indien und aus dem Mutual-Fund-Business in Taiwan. Kleinigkeiten zwar, aber durchaus mit Signalwirkung.
Weiter ging es Schlag auf Schlag: Ende Mai der Verkauf der US-Tochter Zurich Life an die Bank One für 500 Millionen Dollar. Ein paar Wochen später der grosse Brocken Threadneedle Asset Management, die 1998 im Zuge der Übernahme der Finanzsparte der BAT Industries zum «Zürich»-Konzern gestossen war. Diesmal war es American Express, die den Schweizern rund 570 Millionen Dollar aufs Konto überwies.
Ende Juni verkündete die «Zürich», einen Teil der Bankprodukte der Zurich Invest Bank an die AIG Privat Bank zu übertragen und den verbliebenen Teil der Geschäftstätigkeit voraussichtlich Ende 2003 einzustellen. Am 15. Juli schliesslich die Vereinbarung mit der BNP Paribas über den Transfer von Geschäften der Zurich Capital Market und damit den Abbau von Verbindlichkeiten in Höhe von 4,5 Milliarden. Der Deal ist insofern von grosser Bedeutung, als die Ratingagentur Moody’s kurz zuvor die Bonität der Zurich Insurance Company von A1 auf A2 herabgestuft hatte. Moody’s warnte vor zusätzlichen Abschreibungen und Kosten, die bei der Restrukturierung eben jener Zurich Capital Market sowie der ZCM Funding Corporation und der Zurich Bank entstehen könnten – Bedenken, deren man sich nun zumindest teilweise entledigt hat.
Grossreinemachen bei der «Zürich» also. «Die ganz grossen Deals sind unter Dach und Fach», zeigt sich Sarasin-Analyst Locher überzeugt. Waren sie auch unvermeidlich? Wäre die Konzernkasse bei seinem Amtsantritt nicht so furchtbar leer gewesen, Schiro hätte sich wohl häufiger mit dem Vorwurf konfrontiert gesehen, er habe nur um seiner ambitionierten Zielvorgaben willen – «wir wollen konzernweit eine Eigenkapitalrendite von zwölf Prozent erreichen» – das Tafelsilber verscherbelt. Markus Tschudi vom Komitee zur Veränderung des Verwaltungsrates der Zurich Financial Services steht jedenfalls allein auf weiter Flur, wenn er den Ausverkauf der letzten Monate mit ein paar Fragezeichen versieht.
Ob die Schiro-Strategie am Ende aufgeht, darüber besteht unter den Analysten noch geteilte Meinung, auch wenn sich die positiven Kommentare zuletzt gehäuft haben. Die Entscheidung, Gelder aus dem weniger rentablen – sprich: derzeit problembehafteten – Leben-Geschäft abzuziehen und sich damit stärker im weit profitableren Nichtleben-Bereich zu fokussieren, ist nicht ohne Risiko. Sicher, dort ist im Moment und insbesondere in den USA das grosse Geld zu verdienen. Und heute schon ist das Nichtleben-Geschäft mit einem Prämienvolumen von 29,8 Milliarden Franken dreimal so gross wie das Leben-Geschäft. «Wir profitieren derzeit von den besten Marktbedingungen seit 15 Jahren», räumt Schiro selbst ein. Aber auch hier scheint sich der nächste Abwärtszyklus bereits abzuzeichnen. Das Umfeld dürfte schon im Jahr 2004 besonders in den USA schwieriger werden.
Was dann? Nimmt man die «Zürich» des Jahres 2003 zum Anhaltspunkt, wird Schiro auch in Zukunft kurzfristig und opportunistisch auf die jeweilige Marktlage reagieren. Er wird die Rücklagen dort verwenden, wo «jetzt und sofort» das meiste Geld zu verdienen ist. Spekulationen, nach denen sich die Assekuranz mittelfristig ganz aus dem Leben-Geschäft zurückziehen könnte, weist Konzernsprecher Daniel Hofmann denn auch weit von sich: «Einige unserer besten Manager arbeiten hier momentan hart an einer nachhaltigen Verbesserung der Profitabilität.»
James Schiro hat im ersten Jahr viel bewegt, hat die Zurich Financial Services wieder zu einer Versicherungsgesellschaft gemacht, also gewissermassen zur «Zürich», die sie einmal war. Er hat jene Fusionen und Projekte abgewickelt, in denen sich der Konzern verzettelt hatte. Mit einer Börsenkapitalisierung von 24 Milliarden Franken ist die Gefahr einer feindlichen Übernahme inzwischen deutlich geschwunden. «Wir wollen bei der nächsten Konsolidierungsrunde im Versicherungsgeschäft im Driver’s Seat sitzen und nicht die Gejagten sein», bestätigt Daniel Hofmann. Auf ruhigere Nächte am Mythenquai!
Gewonnen hat Schiro das Match noch nicht. «Wir stehen weiterhin vor erheblichen Herausforderungen», gibt sich der Boss im bewussten Gegensatz zu seinem Vorgänger bescheiden. Die Risiken sind nach wie vor gross, und sie betreffen vor allem das Schadenersatzsystem in den USA und die hohen Haftpflichtrisiken aus früheren Jahren. Zudem will das rasante Wachstum im Nichtleben-Geschäft mit Kapital unterlegt sein. Die Gefahr, dass die Konzernmutter in Liquiditätsnöte kommen könnte, weil die Solvenz ihrer Versicherungseinheiten zu gering ist – noch ist sie nicht ganz gebannt. Wie stark der Versicherer noch von den Börsen abhängig ist, zeigte das erste Quartal: Das Eigenkapital sank wegen der nachgebenden Wertpapiere um 400 Millionen Dollar auf 16,4 Millionen Dollar.
Die Realitäten des vergangenen Jahres lieferten James Schiro eine klar definierte Prioritätenliste, die wohl jeder neue CEO in ähnlicher Weise hätte abarbeiten müssen. Schiro ist dem Drehbuch stoisch gefolgt, ohne Wenn und Aber. Er hat seine Versprechen eingelöst. Keine Selbstverständlichkeit in Zeiten, in denen das Vertrauen der Öffentlichkeit in jede Form von Management auf dem Tiefpunkt angelangt war.
Ganz ohne Widersprüchlichkeiten ist sein erstes Jahr in Zürich freilich nicht geblieben. Etwa die Tatsache, dass PricewaterhouseCoopers, der alte Arbeitgeber Schiros, auch heute noch Buchprüfer der «Zürich» ist: nach wie vor mit leichtem Hautgout behaftet. Oder warum ausgerechnet jener Peter Eckert, der unter Hüppi für den halsbrecherischen Expansionskurs mitverantwortlich war, heute in entscheidender Position als COO die Devestitionen leitet: eine Frage, auf die Schiro bis heute eine Antwort schuldig geblieben ist.
Ob der Zahlenmensch Schiro die unternehmerische Kreativität hat, den Konzern in eine goldene Zukunft zu führen, bleibt abzuwarten. Nach der überzeugenden Performance des ersten Jahres ist ihm dies durchaus zuzutrauen. Er wird lernen müssen, die kulturellen Fliehkräfte zu bändigen, die das Unternehmen auseinander reissen könnten. Die Diskussion um die Übermacht der Amerikaner dürfte spätestens 2004 bei der Neubesetzung der VR-Präsidentschaft hitziger werden. Auf Grund der Ernennung des ehemaligen UBS-Investment-Bankers Markus Granziol 2002 ging man bisher davon aus, dass dieser Lodewijk van Wachem folgen würde (siehe «James Schiros Truppe» auf Seite 40). Doch angeblich drängen die angelsächsischen Verwaltungsräte auf einen Amerikaner als Präsidenten, «weil der Konzern schliesslich über 58 Prozent seiner Prämieneinnahmen in England und den USA erzielt».
Gegen Ende des Jahres soll das Restrukturierungsprogramm abgeschlossen sein. Spätestens dann muss der New-Yorker Anlegern, Analysten und Medien eine griffige, tragfähige Zukunftsvision für die «Zürich» vortragen. Das selbst verordnete Schweigegelübde mag dann auch für einen James Schiro nicht länger gelten.
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