Die bunten Frauenfiguren von Niki de Saint Phalle sind weltbekannt. Doch nur wenige kennen das Gesamtwerk der Nanas-Schöpferin. Mit einer grossen Retrospektive will Paris nun Abhilfe schaffen.
Das Gewehr auf den Betrachter gerichtet und den Daumen am Anschlag: Das Ausstellungsplakat vor dem Pariser Grand Palais zeigt Niki de Saint Phalle als Schützin. Damit ist der Tenor der Retrospektive im Grand Palais gegeben: Paris will mit einer grossen Schau das Gesamtwerk der französisch-schweizerischen Malerin und Bildhauerin zeigen, angefangen mit ihren Schiessbildern. «Man liebt sie, doch man kennt sie kaum», sagte die Enkelin Bloum Cardenas in Paris. Vielen seien nur die Nanas bekannt, ihre überdimensionalen, kunterbunten Frauenfiguren aus Polyester. Diesem Defizit will die Retrospektive mit rund 300 Werken abhelfen.
Grösste Retrospektive seit 20 Jahren
Schiessbilder, Assemblagen, Reliefs, Skulpturen und fantastische Architekturprojekte: Das Grand Palais gibt Einblick in alle Schaffensphasen der im Mai 2002 gestorbenen Künstlerin, die unter anderem in Kalifornien, Italien, Frankreich und der Schweiz lebte.
Selbst die Kuratorin war über das breitgefächerte Werk erstaunt. «Ich will den Besuch der Ausstellung zu einem Aha-Erlebnis werden lassen. Denn während meiner Arbeit bin ich selbst auf eine Überraschung nach der anderen gestossen», erklärt Kuratorin Camille Morineau. Die Retrospektive – in Frankreich die grösste seit 20 Jahren – dauert bis 2. Februar 2015 und wird danach im Guggenheim Museum in Bilbao gezeigt.
Die grössten Entdeckungen für die Besucher dürften die Schiessbilder sein, wie die Kuratorin meint. Anfang der 60er-Jahre betrat Niki de Saint Phalle die Kunstszene mit einem Gewehr in der Hand, um die «Malerei zum Bluten zu bringen». Videos zeigen, wie das Ex-Mannequin in weissem Hosenanzug auf die von ihr mit Farbbeuteln präparierten Reliefbilder schiesst. Unkontrolliert verbreitet sich die Farbe über den weissen Gips. Viele der ausgestellten «Tirs», die an die von Jackson Pollock entwickelte Dripping-Technik erinnern, sind Leihgaben des Sprengel Museums in Hannover und erstmals in Frankreich zu sehen.
Kunst als psychologische Notwendigkeit
Für Niki de Saint Phalle war Kunst eine psychologische Notwendigkeit. Ihre Schiessbilder und halbplastischen Figuren, auf die sie Messer, Pistolen, Sägen und Sicheln klebte – Attribute der männlichen Symbolik –, waren Zielscheiben für Rache, Wut und Hass. Denn die Autodidaktin exorzierte auf diese Weise das Trauma des Missbrauchs durch ihren Vater im Kindesalter.
Weltweite Berühmtheit erlangte Niki de Saint Phalle erst durch ihre kunterbunten Nanas, Riesenweiber aus Polyester, mit denen sie zur Galionsfigur des Feminismus' wurde. Die unförmigen Matronen, die heute in Genf, Hannover, Los Angeles und New York stehen, spiegeln eine Wende in ihrem Schaffen wider: den Durchbruch eines positiven Frauenbildes. Die überdimensionalen Frauenfiguren strömen Sinnlichkeit und Freude aus, die das Grand Palais durch seine Präsentation in Szene setzt: Nanas, die im Disco-Laserlicht tanzen. «Die selbstbewusste weibliche Sexualität, zu der die Künstlerin in ihren Arbeiten gelangt ist, ist bemerkenswert«, führt die Kuratorin aus.
Werkschau der modernen Künstlerin
Mit den fantastischen Modellen zu ihrem Tarot-Garten in der Toskana, der aus 22 zum Teil begehbaren Nanas und Figuren besteht, schliesst die Ausstellung. Das Bild, das die Werkschau von Niki de Saint Phalle hinterlässt, ist das einer modernen Künstlerin in einer von Männern dominierten Kunstszene.
Zu kurz kommt aber die Illustrierung des stark autobiografischen Charakters ihres Gesamtwerks: Denn Niki de Saint Phalle entdeckte die Malerei als Therapie während eines Aufenthalts in der Psychiatrie in Nizza, wo sie 1953 nach einem Nervenzusammenbruch eingeliefert wurde.
(sda/me/gku)