Die neue Schutzhülle für die Atomruine Tschernobyl gilt als technisches Meisterwerk. Die grösste bewegliche Konstruktion der Welt verschliesst nach einem spektakulären Transport den Unglücksreaktor. 30 Jahre nach dem Gau steht nun die gefährliche Sanierung bevor.

Wie ein gigantischer Käfer aus Stahl kriecht die neue Schutzhülle auf die düstere Atomruine Tschernobyl in der Ukraine zu. Ein robustes System aus Spezialschienen und Hydraulik schiebt das grösste bewegliche Bauwerk der Welt beständig auf den 1986 havarierten Reaktor zu. An diesem Dienstag (29.11.) soll die mehr als 36'000 Tonnen schwere Konstruktion die markante Silhouette der Anlage verschluckt haben. Die neue Hülle wird dann feierlich übergeben.

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100 Jahre Zeit gewonnen

«Das ist der Anfang vom Ende des 30-jährigen Kampfes gegen die Folgen der Katastrophe», sagt der ukrainische Umweltminister Ostap Semerak. 100 Jahre lang soll die neue Hülle den Austritt radioaktiver Strahlen verhindern sowie vor Umwelteinflüssen wie Nässe schützen. Das Stahlgerüst darf nicht zu früh rosten.

Die Hülle ergänzt einen Betonsarkophag, der von der Sowjetunion nach der fatalen Kernschmelze am 26. April 1986 eilig errichtet worden war und mittlerweile brüchig ist. Doch der gefährlichere Teil der Sanierung steht erst bevor.

In einem ersten Schritt muss unter der mächtigen Stahlglocke der bisherige Sarkophag abgebaut werden. «Für die Aufräumarbeiten sind im Inneren der neuen Hülle unter anderem zwei fast 100 Meter lange Brückenkransysteme montiert. Die Kräne rollen auf Schienen am Boden sowie auf parallel verlaufenden Schienen an der Decke», schildern die Organisatoren den Plan. Der entstehende Müll soll endgelagert werden.

Kein Konzept für die Räumung

Technisch gilt alles als weitgehend ausgetüftelt. Das Problem ist die Finanzierung. Dem Vertrag zufolge muss die Ex-Sowjetrepublik Ukraine diese Arbeiten bezahlen. Solche Projekte übersteigen aber die Kräfte des zweitgrössten Flächenstaats Europas, den eine Wirtschaftskrise sowie ein Krieg im Osten und die russische Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel Krim auszehren. Bereits der Bau der rund zwei Milliarden Euro teuren Hülle war nur durch 40 Geberländer möglich.

Doch selbst wenn der Abbruch des 1986 erbauten Sarkophags gelingt: Experten vermuten in dem explodierten Reaktor noch etwa 200 Tonnen Uran, deren Radioaktivität für Menschen tödlich ist. «Für die Räumung gibt es bisher weder Geld, noch ein Konzept. Die endgültige Sanierung der strahlenden Ruine beginnt also vermutlich erst irgendwann in eher ferner Zukunft», schrieb die russische Zeitung «Kommersant» unlängst.

Gigantischer Stahlbogen

Vor rund zwei Wochen hatten Arbeiter den Stahlbogen von 110 Metern Höhe, 165 Metern Länge und 257 Metern Breite in Tschernobyl in Bewegung gesetzt. Mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Metern pro Stunde näherte sich die neue Hülle seitdem dem explodierten Block 4.

Unter dem riesigen Mantel in Bogenform hätte die Pariser Kathedrale Notre Dame Platz. Mit ihrer Spezialtechnik hatte die beauftragte Firma aus den Niederlanden bereits im Jahr 2000 geholfen, das verunglückte russische Atom-U-Boot Kursk aus der Barentssee zu heben.

Möglicherweise zehntausende Todesfälle

Auch beim U-Boot-Unglück informierten die Behörden wie einst in Tschernobyl zunächst zögerlich. In dem Atomkraftwerk war am 26. April 1986 um 1.23 Uhr Ortszeit ein Test ausser Kontrolle geraten. Der Super-Gau, der grösste anzunehmende Unfall, trat ein.

Zehntausende mussten die Region nach der Tragödie am Rande Europas verlassen. Die Detonation wirbelte radioaktive Teilchen auf, die abgeschwächte Wolke breitete sich von der Ukraine über Westeuropa aus. Experten gehen von Zehntausenden Todesfällen aufgrund des verheerenden Unfalls aus.

Kein beschleunigter Atomausstieg

In vielen Staaten sorgte der Tschernobyl-Schock vor 30 Jahren für Angst und Unsicherheit. Die junge Ökobewegung erhielt Auftrieb. Wegen Tschernobyl legte Italien 1987 seine AKWs still, Polen brach 1989 den Einstieg ab. Andere Länder wie die USA halten an der Kernkraft fest. Auch Japan steigt nicht aus, trotz Fukushima.

Die Kernschmelze im Kraftwerk Fukushima war 2011 ähnlich katastrophal wie in Tschernobyl. Die beiden Unfälle veränderten die Diskussion über die Atomkraft. Im Rahmen der Energiestrategie 2050 will die Schweiz schrittweise auf Kernkraft verzichten. Bei der Abstimmung über ein früheres Abschalten der Schweizer Kernkraftwerke erteilte das Stimmvolk einem beschleunigten Atomausstieg jedoch eine Absage.

(sda/gku/hon)